Die Indiens Frauen eine Stimme gibt

Urvashi Butalia
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Urvashi Butalia

„Verlage veröffentlichen normalerweise Bücher von aus der Mittelschicht stammenden Autoren und Autorinnen und wissen gar nicht, dass es davon noch eine ganz andere Welt gibt“, sagt Urvashi Butalia. Die Co-Gründerin von Indiens erstem feministischen Verlag „Kali for Women“, aus dem 2003 der von Butalia geleitete Zubaan-Verlag hervorging, landete mit der Autobiographie des Hausmädchens Baby Halder einen Bestseller.

Die inzwischen in 23 Sprachen übersetzte Lebens- und Leidensgeschichte erschien 2004 auf Bengalisch und 2006 auf Englisch als„A Life less ordinary“ (deutsch 2008: Draupadi-Verlag: „Kein ganz gewöhnliches Leben“). Darin beschreibt die Autorin ohne Anklage, wie sie mit zwölf Jahren einen doppelt so alten Mann heiraten muss, mit 14 erstmals schwanger wird, ihren sie fast totschlagenden Mann mit 25 verlässt und sich nach Neu-Delhi absetzt. Dort arbeitet sie in ausbeuterischen Haushalten, bis sie an einen pensionierten Professor gerät. Der ermuntert sie, die kaum zur Schule gegangen war, zu schreiben, als er ihr Interesse für Literatur bemerkt. Mit seiner Hilfestellung schreibt sie in den Nächten nach der Arbeit ihr bisheriges Leben auf und veröffentlicht ihre Geschichte.

Die feministische Verlegerin Urvashi Butalia übersetzt das Werk ins Englische. Es wird in ganz Indien ein Erfolg, der sich international fortsetzt. „Bücher wie diese geben unserem Leben eine Bedeutung,“ sagt Butalia und verhehlt nicht, dass Zubaan mit dem Buch Geld verdient. Damit kann der Verlag, der sich mehr als gemeinnützige Organisation zur Verbreitung von Frauenliteratur und -wissenschaft begreift, seine anderen Aktivitäten finanzieren wie etwa Workshops für potentielle Autorinnen. Oder etwa ein Buch publizieren über die Geschichte der indischen Frauenbewegung („The History of Doing“), das bereits in der neunten Auflage erscheint, oder die dazugehörige Sammlung von Postern von Frauenorganisationen aus ganz Indien („Poster Women“). „Wir haben 1.500 Poster von 161 Gruppen gesammelt, und noch heute werden uns Poster geschickt“, sagt Butalia. „So etwas hatte bisher noch niemand in Indien gemacht.“ Inzwischen sind daraus eine Ausstellung, eine CD und ein Postkartenset entstanden.

Oft stand am Beginn der Publikationsprojekte vor allem der Wunsch, den Frauen Gehör zu verschaffen. Butalia nennt als Beispiel das Aufklärungsbuch „Know your body“ einer Frauenorganisation aus Rajasthan. Das Buch zeigt Frauen in traditioneller Kleidung, doch können ihre Röcke aufgeklappt und so in ihren Unterleib geschaut werden, wobei der Menstruationszyklus erklärt wird. Butalia ermöglichte der Organisation zunächst das Buch überhaupt zu veröffentlichen. Als es dann gedruckt war, wurde es zum Selbstläufer. Die Organisation verteilte die gesamte Auflage zu dem mit ihr vereinbarten niedrigen Preis in den Dörfern. „Bis heute ist das Buch 70.000 Mal gedruckt und in viele indische Sprachen übersetzt worden“, sagt Butalia.

Die heute 57-Jährige, die in Neu-Delhi Literatur und in London Südasienwissenschaften studierte, ist schon lange im Verlagswesen. Als sie beim indischen Zweig von Oxford University Press in Delhi arbeitete, machte sie folgende Beobachtung: „Indien hat schon lange ein starke Frauenbewegung, aber das spiegelte sich nicht in Büchern wieder. Wir haben in Indien schon in den 70er Jahren Frauenstudien eingeführt, aber dazu gab es keine Bücher. Die wenigen Bücher, die es zu Frauenthemen gab, stammten von westlichen Autorinnen“. Butalia sprach mit den Verantwortlichen ihres Verlages, aber die sahen in Indien keinen Markt für feministische Bücher und Frauenliteratur.

So gründete Butalia 1984 zusammen mit Ritu Menon selbst und ohne Eigenkapital einen solchen Verlag, genannt „Kali for Women“. „Kali bedeutet auf Hindi die Göttin der Macht“, sagt Butalia. „Diese wird oft negativ gesehen, weil sie die Welt zerstört, um sie neu zu schaffen. Literarisch übersetzt heißt Kali 'die Schwarze'.“ Butalia und Menon arbeiteten zunächst ohne Gehalt und investierten jede eingenommene Rupie wieder in den Verlag. Kali wurde der erste feministische Verlag Indiens, wenn nicht gar Asiens. Er veröffentlichte Werke von Autorinnen wie der etwa auch im Westen bekannte Ökofeministin Vandana Shiva.

„Zunächst publizierten wir in Hindi und Englisch, aber Hindi gaben wir bald auf, weil es sich nicht rechnete. Er kürzlich haben wir damit wieder angefangen, “ sagt Butalia. Ihrer Meinung nach habe Indiens Buchmarkt ein großes Potential, doch das müsse erst noch entwickelt werden. Denn die Analphabetenquote sei hoch, die Kaufkraft gering, die Infrastruktur unterentwickelt und es werde in 22 regionalen Sprachen publiziert.

„Auf 100.000 Einwohner kommen in Indien nur 7,7 Bücher“, sagt Butalia. Doch sei mittlerweile einiges in Bewegung. „Vor 20 Jahren hatten wir in Neu-Delhi nur 15 Buchläden. Heute sind es 50, und die sind voll.“ Indien wandle sich, und die Menschen seien wissbegierig, weil dies der Weg des Wandels sei. Laut Butalia verkauft ein englischsprachiger Bestseller in Indien 100.000 Exemplare. „Es gibt 15 bis 20 Bücher, die mehr als 150.000 verkaufte Auflage haben. In Hindi oder Mayalam sind die Zahlen höher.“

Butalia und Menon trennten sich 2003 gütlich und machten jeweils eigene Verlage auf. Butalia gründete Zubaan, was soviel wie Zunge heißt, aber literarisch auch Stimme, Sprache, Rede oder Dialekt heißen kann. Inzwischen gibt es nicht nur die beiden feministische Verlage der Kali-Gründerinnen, sondern ihr positives Beispiel hat auch dazu geführt, dass andere Verlage heutzutage Bücher von Frauen drucken.

„Zubaan veröffentlicht heute etwa 30 Bücher im Jahr“, sagt Butalia. „Wissenschaftliche Bücher über Frauenthemen, Literatur von Frauen und Kinder- und Jugendbücher.“ Mit Penguin Books, von dessen Bekanntheitsgrad und Vertriebsnetz Butalia nur träumen kann, mach Zubaan vier Buchprojekte im Jahr. Zubaan hat heute acht Angestellte, darunter zwei Männer. Regelmäßig ist Butalia zu Gast bei der Frankfurter Buchmesse, zu der sie vergangenes Jahr auch Baby Halder begleitete.

Butalia hat sich auch als Autorin und führende Intellektuelle einen Namen gemacht. Sie untersuchte als erste, wie sich die traumatische Aufteilung Britisch-Indiens 1947 in ein mehrheitlich hinduistisches Indien und ein mehrheitlich islamisches Pakistan auf Frauen auswirkte. Damals verließen rund zwölf Millionen Menschen überhastet ihre bisherige Heimat, eine halbe Million kam dabei ums Leben, 75.000 Frauen wurden von Angehörigen anderer Religionen vergewaltigt. Butalia, deren Familie selbst aus Lahore im heute pakistanischen Teil des Punjab stammt, reiste 1987 erstmals dorthin. Später interviewte sie mehr als siebzig Frauen in Pakistan und Indien über ihre damaligen Erlebnisse und schrieb deren Oral History auf. So entstand in zehnjähriger Arbeit das Standardwerk „The Other Side of Silence“, in dem sie zeigt, wie sich die damaligen Erfahrungen noch heute auswirken. Mit dem Buch machte sich Butalia sich auf dem gesamten Subkontinent einen Namen.

Mit einem Fokus auf Werke aus Indiens unruhigem Nordosten, einem Flickenteppich ethnischer und sozialer Konflikte, widmet sich Zubaan einer heutigen Unruheregion, deren Probleme von vielen in Delhi oder Mumbai nur zu gern verdrängt werden. „Frauen bemühen sich aktiv um Frieden“, sagt Butalia. Zur aktuellen Lage der Frauen in Indien, das ihrer Meinung nach nicht eine, sondern ganz viel Frauenbewegungen hat, sagt sie, dass Gewalt gegen Frauen und selektive Abtreibungen weiblicher Föten die größten Probleme seien. Witwenverbrennungen, die im Westen Schlagzeilen machen, seinen hingegen marginal. Als großen Fortschritt wertet sie das 1992 eingeführte und noch auf den im Jahr zuvor ermordeten Ministerpräsidenten Rajiv Gandhi zurückgehende Quotierungsgesetz. Es reserviert auf lokaler politischer Ebene ein Drittel der Sitze für Frauen. Auf höherer Ebene habe sich die Quotierung wegen der Angst der Männer vor einem Machtverlust noch nicht durchsetzen können. „Niemand hat den Erfolg der Quotierung vorhergesehen, sagt Butalia. „Die Frauenbewegung hat sich selbst nicht stark dafür engagiert, weil sie fürchtete, Frauen würden zu Marionetten ihrer Männer.“

Die Quotierung hat laut Butalia die Frauenbewegung gestärkt, trotzdem interessierten sich ihrer Meinung nach indische Politiker heute nicht stärker für Frauenthemen. Ausnahmen seien lediglich die Führerin der Kongresspartei, Sonia Gandhi, und die Ministerpräsidentin von Delhi, Sheila Dikshit, die ebenfalls dem Kongress angehört. „Dabei ist der weibliche Wähleranteil heute höher“, sagt Butalia. Eins aber hat sich ihrer Meinung nach definitiv geändert: „Autorinnen und jene, die über Frauenthemen schreiben, werden heute nicht mehr als unbedeutend angesehen.“ Zu diesem Wandel hat Butalia maßgeblich beigetragen.

Sven Hansen ist Asien-Redakteur der tageszeitung (taz) in Berlin.

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