Eine Frauenfamiliengeschichte

Zwei Frauen.
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Sehr häufig habe ich bei meinem frauenpolitischen Engagement die Bilder dieser Frauen meiner Familie vor meinem inneren Auge und zugleich ein großes „DANKE“ in Leuchtschrift, das all jenen Politikerinnen, Aktivistinnen, Künstlerinnen gilt, die dafür gekämpft haben, dass sich die Geschichte meiner Oma heute für mich liest wie die Geschichte aus einem fernen Land und einer fernen Zeit
Wenn ich daran denke, dass der internationale Frauentag in diesem Jahr zum 100. Mal begangen wird, dann denke ich auch an meine eigene Familiengeschichte, die für mich vor allem die Geschichte meiner Großmutter ist, die 1910 geboren wurde und für die ich mir von ganzem Herzen gewünscht hätte, dass es den §218, eine bessere medizinische Versorgung sowie Gesetze gegen häusliche Gewalt und Zwangsheirat bereits vor 100 Jahren gegeben hätte.

Im Jahr 1917, meine Großmutter war gerade sieben Jahre alt, wütete nicht nur der Erste Weltkrieg, sondern zeitgleich auch die Spanische Grippe, gegen die die Vogelgrippe ein lächerlicher Husten ist. Unvorstellbar viele Menschen waren gestorben durch den Krieg und die Grippe, und so forderte irgendwann auch die Kirche mehr Kinder, vor allem Söhne, von den Müttern für das Vaterland. Der Priester vergab meiner Urgroßmutter damals die Sünden erst, als sie ihm im Beichtstuhl sagte, sie sei wieder schwanger. Doch meine Urgroßmutter wollte das vierte Kind nicht, arbeitete extrem hart und tötete damit den Fötus in ihrem Leib. Doch da blieb er dann, ging nicht ab, blieb im Bauch, und meine Urgroßmutter starb an Leichenvergiftung. Meine Oma, das älteste der drei Kinder, war nicht nur beinahe an der Spanischen Grippe gestorben, sondern hatte im gleichen Jahr auf diese Weise auch die Mutter verloren.

Nach dem Tod der Tochter hatte die Großmutter meiner Oma ein Machtwort gesprochen, unumstößlich und wie in Stein gemeißelt. Damit hatte sie die schon bestehende Verlobung ihrer zweiten Tochter gelöst und sie dem Witwer zur Frau gegeben, schließlich waren ja drei Kinder zu versorgen. Nacheinander hatten also zwei Schwestern meinen Urgroßvater geheiratet, die zweite nicht unbedingt freiwillig.
Mit neunzehn Jahren, im Jahr 1929, war meine Großmutter schließlich von zu Hause geflohen. Mal wieder hatte der Vater sie zu Boden geschlagen, mit der Kraft, mit der er ansonsten im Schlachthof die Bullen festhielt, und hatte mit den Schlachterstiefeln in die am Boden liegende Tochter getreten, „mit Stiefeln auf ihr gestanden“ wie meine Großmutter es einmal gesagt hatte. Es hatte sogar einen Arzt gegeben, der ein Gutachten schreiben wollte, falls sie den Vater anzeigte, wozu ihr wohl doch der Mut fehlte. Der Vater hatte verboten, dass sie den Verehrer heiratete, der um sie warb und Lieder unter dem Fenster sang, denn er, der Vater, würde die Tochter schließlich noch als Arbeitskraft brauchen. Da war sie abgehauen, geflüchtet vor der Gewalt und der Trostlosigkeit. Sie arbeitete als Verkäuferin und sparte einer jüngeren Schwester die Aussteuer zusammen, die sie nicht für sich selbst verwenden durfte.

Sehr häufig habe ich bei meinem frauenpolitischen Engagement die Bilder dieser Frauen meiner Familie vor meinem inneren Auge und zugleich ein großes „DANKE“ in Leuchtschrift, das all jenen Politikerinnen, Aktivistinnen, Künstlerinnen gilt, die dafür gekämpft haben, dass sich die Geschichte meiner Oma heute für mich liest wie die Geschichte aus einem fernen Land und einer fernen Zeit. 100 Jahre Internationaler Frauentag bedeutet daher für mich, das bis hierher erreichte ausgelassen zu feiern, denn meine Geschichte ist glücklicherweise eine ganz andere als die meiner Großmutter und das ist einen wirklichen Luftsprung und einen großen „Yippieh“-Ruf wert.

Zugleich ist mir inzwischen im privaten und im Arbeitskontext sehr bewusst geworden, dass Women of Color, Migrantinnen, moslemische Frauen, lesbische Frauen, Frauen mit Behinderungen und andere sich häufig nicht angesprochen fühlen, wenn im politischen Kontext von „Frauen“ die Rede ist, da die geforderten politischen Veränderungen nichts mit ihrer Lebenswirklichkeit zu tun haben.
Mein Freudenschrei zum 100. Internationalen Frauentag kann ich also doch noch nicht ganz so beherzt in die Welt rufen, da ich weiß, dass ich als heterosexuelle Weiße Deutsche Akademikerin in unserer Gesellschaft privilegiert bin und ich weiß, dass noch einmal sehr viel Engagment und politischer Kampf notwendig sein werden, damit der Freuden-Chor noch vielstimmiger wird als er es an diesem 8. März 2011 bereits ist.

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