Familienpolitik der Europäischen Union: zwischen Gleichberechtigungs- und Effizienzdenken

Teilnehmer_innen der Pyjama-Party-Parade zum Weltfrauentag 2009 in London, Ontario, USA
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Teilnehmer_innen der Pyjama-Party-Parade zum Weltfrauentag 2009 in London, Ontario, USA

Auffallend ist die Diskrepanz zwischen der Reichweite gleichstellungspolitischer und familienpolitischer Interventionen in der EU. Während die Union seit den Römischen Verträgen 1957 ein differenziertes Instrumentarien zur Herstellung von Gleichheit entwickelt hat (das Kriterium der mittelbaren Diskriminierung und die Methode des Gender- Mainstreaming), reagiert sie zurückhaltend auf dem Feld der Familienpolitik. In diesem Politikbereich verfügt sie bis heute über keine vertraglich festgelegten Kompetenzen. Dennoch trifft die EU Entscheidungen, die Auswirkungen auf Familien haben (Richtlinie zum Elternurlaub, Elternzeit, 1996; Stellungnahmen zur Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben, 2. Aktionsprogramm zur Chancengleichheit 1986-1990).

Gleichstellungspolitik verknüpft mit wirtschaftlichen Interessen

Für Viele irritierend ist, dass die EU-Gleichstellungspolitik mit ökonomischen Interessen verknüpft. In der Lissabon-Strategie (erweitert durch Europa 2020) gilt die Gleichstellung von Frauen und Männern als Motor für wirtschaftliche Entwicklung, die mit Zielvorgaben für die Beschäftigungsquoten von Frauen und für den Ausbau von Betreuungsangeboten für Kleinkinder unterstützt werden soll. Bereits bei Gründung der EG wurde das Gebot der Gleichbehandlung aufgenommen, weniger aus genderpolitischen Überlegungen, sondern aus dem Bestreben, Wettbewerbsverzerrungen durch Lohndumping zwischen den Mitgliedsstaaten durch die Richtlinie über Lohngleichheit von 1975 einzuschränken.

In den 1980er Jahren erweiterte die EU dann den ökonomischen Aspekt der Gleichbehandlung um den der Chancengleichheit (Gründung des Ausschusses für Chancengleichheit 1891), um mit dem Vertrag von Amsterdam (1997) schließlich die Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern zu einer ihrer grundlegenden Aufgaben zu erklären. Die Dimension der Chancengleichheit bezieht inzwischen alle gesellschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Politikfelder ein. Von daher ist die EU-Gleichstellungspolitik sowohl als Ausdruck einer Wertegemeinschaft und dem Bestreben nach Geschlechterdemokratie zu verstehen, als auch eng mit Erfordernissen globaler Wettbewerbsfähigkeit verbunden.

Frauen in die Aufsichtsräte

Aktuelle Debatten, die von der EU ausgelöst oder unterstützt werden, befassen sich mit der v.a. in Deutschland umstrittenen Forderung nach einer gesetzlichen Quote, um den niedrigen Anteil von Frauen in den Aufsichtsräten börsennotierter Unternehmen zu erhöhen. Die EU-Justizkommissarin Viviane Reding, die auch für Gleichstellungsfragen zuständig ist, fordert einen EU-Rechtsrahmen (Der Spiegel, 13/2012) und will bis zum Sommer des Jahres eine Regelung vorlegen, die einen Frauenanteil von 30% bis zum Jahre 2015 und von 40% bis 2020 als Zielvorgabe festschreibt.

Mit Blick auf Deutschland erklärt sie diesen Schritt mit der Wirkungslosigkeit einer über zehnjährigen Erfahrung (seit 2001) mit freiwilliger Selbstverpflichtung der privaten Wirtschaft (13% der Aufsichtsratsmitglieder in deutschen Unternehmen sind weiblich), sowie mit einer möglichen Wettbewerbsverzerrung. Denn 10 EU-Mitgliedsstaaten, die bereits eine gesetzliche Quotenregelung eingeführt haben, zuletzt Frankreich (2011), können Erfolge aufweisen. Einige von ihnen, z.B. Spanien, prüfen, öffentliche Ausschreibungen an das Vorhandensein von Frauenquoten für Aufsichtsräte zu binden. Die EU argumentiert u.a. mit der Nutzung des Potenzials gut ausgebildeter Frauen und mit der „Frau als Erfolgsfaktor“. Eine konsequente Gleichstellungspolitik für mehr Frauen in Führungspositionen kann sich auf eine breite Zustimmung in den EU-Ländern stützen. Laut Eurobarometer stimmen 9 von 10 Europäern der Auffassung zu, dass Frauen bei gleicher Befähigung mit Hilfe gesetzlicher Regelungen paritätisch in Führungspositionen der Unternehmen vertreten sein sollten.

Leitvorstellungen für Familienpolitik

An der Schnittstelle von Sozial-, Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Fiskalpolitik gewinnt Familienpolitik an Bedeutung. Die EU mischt sich in vormals private Angelegenheiten ein, um diesen Politikbereich auf der Grundlage des acquis communautaire in Sachen Gleichstellung und entlang wirtschaftlicher Interessen weiter zu entwickeln. Schlüsselbegriff ist die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben als notwendige Voraussetzung für die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Bürger und als Armutsvermeidung. Das EU-Leitbild ist das des adult-worker - die Annahme, dass jede/r (gesunde) Erwachsene für seine/ihre Existenzsicherung verantwortlich sein sollte und der Staat die Betreuung Abhängiger (Kinder, Pflegebedürftige) solidarisch unterstützt.

Hierfür gilt es, tradierte Geschlechterstereotypen, die sich in Rollenbildern und in Normen verfestigt haben, zu überwinden. Denn trotz der wegweisenden Reformen seit dem Jahre 2000 in Deutschland, dem Gesetz zum Ausbau der Kleinkindbetreuung (TAG) verbunden mit einem Rechtsanspruch, und dem Bundeselterngeld, blockiert die Figur des männlichen Familienernährers eine gleichstellungsorientierte Familienpolitik. Während das neue Elterngeld die Rolle der Väter als Erziehende stärkt (Vätermonate) und dem Rollenbild des Zwei-Ernährerhaushalts verpflichtet ist, hat der Gesetzgeber die materielle Basis des Familienernährer-Modells, das Ehegattensplitting im Einkommensteuerrecht und die Familienmitversicherung in der Krankenversicherung beibehalten.

Divergierende familienpolitische Leitbilder, die Gleichstellung ermöglichen und gleichzeitig blockieren, finden gegenwärtig in Deutschland ihre zugespitzte Ausprägung im Streit um das geplante Betreuungsgeld, das Eltern die Inanspruchnahme für das gerade geschaffene Recht auf einen Betreuungsplatz für unter 3-Jährige, für 150€ monatlich abzukaufen gedenkt. Die EU-Kommission kritisiert die sog. Herdprämie und auch das Ehegattensplitting, weil sie durch Fehlanreize die Bemühungen der EU für eine Erhöhung der Frauenerwerbsquote gefährde (Financial Times Deutschland, v. 30.01.2012). Das Vorhaben sei unvereinbar mit dem Ende 2011 beschlossenen EU-Abkommen, mit dem sich die Mitgliedsländer verpflichten, ihre Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik enger abzustimmen und der EU-Kommission größere Kontrollbefugnisse einzuräumen.

Gleichberechtigung und Fürsorgearbeit

Gleichstellungsstrategien, die ausschließlich auf ökonomischer Grundlage mit der Ressource Frau, die es für mehr Wirtschaftswachstum zu nutzen gelte argumentieren, sind ambivalent. Diese Argumentation kann die Umsetzung gleichstellungspolitischer Forderungen zwar beschleunigen, sie kann jedoch auch dazu beitragen, den Aspekt der Fürsorge zu schwächen, obgleich die demografische Entwicklung in den europäischen Gesellschaften (Alterung) ein Umdenken notwendig macht. Die Nachfrage nach Pflegekräften steigt. 80% aller Pflegeleistungen in der EU werden von Familienangehörigen, überwiegend von Frauen, erbracht. Eine der Zukunftsaufgaben der EU bestünde darin, Gleichstellungs- und Familienpolitik mit fürsorglichen Aspekten zu verbinden, indem die Politik der Vereinbarkeit von Beruf und Familienleben auf die häusliche Pflege ausgeweitet wird: durch Einführung von bezahlten Familienpflegezeiten (ähnlich wie in Deutschland), die es Pflegepersonen ermöglichen, für die häusliche Pflege zeitweise eine Berufstätigkeit zu unterbrechen ohne sie aufzugeben.

Überlegungen, wie auch erwerbstätige Männer durch materielle Anreize stärker in die Pflege eingebunden werden könnten stehen noch aus. Die EU widmet sich inzwischen der Thematik, sie kooperiert mit europäischen Netzwerken, wie der Social-Platform, einem Dachverband europäischer Netzwerke. Wenn es ihr gelingt, fürsorgliche Aspekte mit dem Streben nach Autonomie und wirtschaftlichen Interessen zu verbinden, könnte sie als Garant für Chancengleichheit eine Vorreiterrolle einnehmen.

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Mechthild Veil ist als selbständige Sozialwissenschaftlerin in dem 1998 von ihr in Frankfurt a.M. gegründeten "Büro für Sozialpolitik und Geschlechterforschung in Europa" tätig. 

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Dieser Artikel ist Teil des Webdossiers "Europas gemeinsame Zukunft. Wege aus der Krise"

 

 2012