Die Politik der Frauensolidarität

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Foto: © Biliana Rakočević  

 

Lepa Mlađenović

Frauensolidarität beginnt mit meiner Entscheidung, die Andere zu hören, von ihrer Erfahrung Kenntnis zu nehmen, ihre Geschichte so wahrzunehmen, wie sie es mir erzählt. Das heißt, dass ich mich bereit erklärt habe, die Erfahrung jeder Frau als gleichwertig zu erachten.  

Frauensolidarität ist meine Entscheidung, die Geschichte der Anderen samt ihren eigenen Wertvorstellungen und Interpretationen zu hören. Das heißt, dass sie mir wichtig ist und dass ich mich entschieden habe, Raum für ihre Geschichte zu schaffen. Dann stelle ich die Öffentlichkeit für sie dar. Sie hat eine Zeugin. Ihre Sprache ist in mir.

Die Solidarität ist meine Wahl, mit der ich mich und die Andere validiere. Ich bestätige damit sowohl meine wie auch ihre Einzigartigkeit. Wenn ich die Andere höre und beschließe, sie zu verstehen, dann beginnt damit unser Austausch. Sie ist nicht mehr allein und ich bin auch nicht mehr allein. Ich habe über sie und mich etwas gelernt. Ihre Geschichte initiiert meine Veränderung. Die Care-Ethik ist meine Wahl.

Frauensolidarität heißt, dass wir die Entscheidung getroffen haben, die Andere verstehen zu wollen, sie im Kontext der Hierarchie des patriarchischen Systems wahrzunehmen, sowie der sozialen Diskriminierung und der Tagespolitik wahrzunehmen. Dafür ist es notwendig, immer von neuem zu erfahren, wer wir sind – emotional, sozial, politisch. Immer vom neuen zu erfahren, wer die Andere ist.  

Wie werde ich eine junge Albanerin aus Pristina verstehen, die Angst hat, im Jahr 2012 serbisch in ihrer Stadt zu sprachen? Sie hat ihren Gymnasialabschluß in privaten, feuchten Räumlichkeiten gemacht, da das serbische Regime aus meiner Stadt der ganzen albanischen Bevölkerung in Kosovo gedroht hat und bis 2000 mehr als 10,000 ihrer Menschen getötet hat. Wie werde ich die Angst einer Romni aus meiner Straße verstehen,  wenn sie zum Elterngespräch in die weiße, nicht-roma Schule ihrer Kinder eingeladen ist? Tagtäglich beschimpf sie jemand aus der Nachbarschaft und sagt, sie sei eine „schmutzige Zigeunerin“. Weiß ich denn, dass die junge Frau aus Sabac vor mir über ihr lesbisches Begehren schweigt, da ich ihr nicht zur Kenntnis gegeben habe, dass ich in mir Raum für ihr Anderssein habe? Wie werde ich sie darüber etwas fragen können, ohne eine ganze Geschichte voller Hass gegenüber Romni / Albanerinnen / Lesben mit meiner Ton- und Wortwahl auszudrücken?

Frauensolidarität heißt, dass Unsere nicht mehr vertrauenswürdiger seien als die Anderen. Das heißt, wenn wir Kinder beobachten, dass unsere nicht besser oder hübscher seien als andere Kinder. Lassen wir nicht zu, dass uns Unsere übers Kreuz legen. Das heißt, dass wir gegenseitiges Mitgefühl gewählt haben, dass wir gleichzeitig ein Bewußtsein für uns und für Andere entwickeln. In der Welt gäbe es keine Kriege, wenn das Mitgefühl für sich selbst und andere ein Wert staatlicher Politiken wäre.    

Solidarität ist, wenn Tijana Popivoda im Jahr 2012 Erfahrungs-Workshops für junge Lesben in Bosnien-Herzegowina organisiert und leitet. Die jungen Frauen haben bosnische und kroatische Namen, und hie und da serbische. Die meisten von ihnen dürfen ihren Eltern nicht sagen, wo sie sich dieses Wochenende befinden. Lesbisch zu sein ist nicht einfach selbstverständlich in ihren Familien. Tijana hört ihnen zu, stellt ihnen einfühlsam Fragen, ermutigt sie, stimmt ihnen zu, bringt sie zum Lachen, leitet sie durch   Übungen, in denen sie lernen Freundschaft mit ihren Gefühlen zu schließen. Danach umarmen sie sich und laufen zusammen entspannt durch die Straßen von Sarajewo. Am Schluß, sagen sie: Sie ist eine von uns. Einige Tage zuvor, hat Tijana Popivoda, ansonsten aus Belgrad, Erfahrungs-Workshops mit Frauen aus einer kleineren Stadt in Serbien durchgeführt. Die Frauen sind verheiratet, geschieden, kümmern sich um Kinder, Frühstück-Mittagessen-Abendessen, ihren Beruf. Tijana hört ihnen zu, stellt ihnen einfühlsam Fragen, ermutigt sie, stimmt ihnen zu, bringt sie zum Lachen, leitet sie durch   Übungen, in denen sie lernen Freundschaft mit ihren Gefühlen zu schließen. Am Schluß umarmen sich die Frauen und sagen: Sie ist eine von uns. Eine von ihnen fügt noch dazu: Du hast mich so vertrauensvoll angeschaut, so dass ich um ersten Mal einen Frauenschmerz in mir erkannt habe. Ich danke dir. Du hast mein Herz berührt, ich werde meiner Enkelin deinen Namen geben. Und so war’s.

Frauensolidarität ist weder in den Schulbüchern niedergeschrieben, noch in Büchern, die wir zu Studienzeiten lesen, wie zum Beispiel Shakespeare, Goethe, Dostojewski, Gandhi oder Mark Twain. Kein Wort über uns. Wenn ich mich entscheide, frauen-solidarisch zu sein, rebelliere ich gegen die Ordnung. Das ist nicht leicht und heißt, dass ich andere Rebellinnen um mich herum haben muss, die mir sagen, dass ich recht habe, damit ich schließlich mir sagen kann: Ich habe recht.

Frauensolidarität ist der Anfang der Entfaschisierung in jeder von uns. Weil wir wählen zu verstehen und nicht zu verurteilen, weil wir uns für Empathie und nicht für Hass entscheiden. Wir wählen, Verantwortung für unsere Taten, Emotionen und Gedanken zu tragen und weigern uns, die Opferrolle zu übernehmen. So überwinden wir die Grenze des nationalen Konsensus in der Feindbild-Konstruktion. FRAUENSOLIDARITÄT IST EINE POLITIK DES ANTIFASCHISMUS. Weil es uns wichtig ist, wie es der Anderen oder dem Anderen gehe.

Frauen-solidarisch zu sein heißt, dass Unsere nicht wichtiger, besser oder schöner seien, als die Anderen. Frauensolidarität ist international, weil die nationale Identität nur eine der Vielfältigkeiten in der Welt ist. Frauen-solidarisch zu sein heißt, eine Verräterin des Patriarchats zu sein, weil unsere Kinder nicht notwendigerweise besser sind als andere, weil ich gleichwertig bin wie alle anderen, weil ich weiß, dass Hierarchien des Patriarchats in die Gewalt gegen Frauen, Kinder und Gemeinschaften mit weniger sozialer Macht führen. In den Krieg. Eine kreative Abtrünnigkeit gegenüber dem Patriarchat ist der Beginn von Frauensolidarität und das bedeutet, dass wir uns – politisch und emotional – in gleicher Weise um uns und die anderen kümmern. In voller Freude und Akzeptanz unserer Unterschiede.

Daher ist Frauensolidarität eine feministische Politik.

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