„Die Flucht“

Francesca Sanna war 24 Jahre alt, als ihr Bilderbuchdebüt Die Flucht erschien. So einfach und kraftvoll der Titel, so bildgewaltig und bunt sind die Illustrationen dieses Kinderbuchs ab 4 Jahren. Sanna hat ein Gesamtkunstwerk erschaffen, das in seiner textlichen Einfachheit keinen Moment banal ist.

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“Die Flucht” von Francesca Sanna ©2016 NordSüd Verlag AG, Zürich / Schweiz

Francesca Sanna ist zuerst Illustratorin und dann Literatin. Im Zentrum stehen die Bilder, die Die Flucht zu einem visuellen Erlebnis, einem Kunstwerk machen. Die Auseinandersetzung der Autorin mit der Thematik Flucht und Migration nahm ihren Anfang, als ihr zwei Mädchen die Geschichte ihrer eigenen Flucht erzählten. Sie begann daraufhin, Geschichten von Geflüchteten zu suchen und zu sammeln, anhand derer sie ein Buch machen wollte. „In den Nachrichten hören wir fast jeden Tag die Wörter „Migranten“ und „Flüchtlinge“, doch kaum je sprechen wir mit einem*r von ihnen oder erfahren, was genau sie persönlich durchgemacht haben. Dieses Buch fasst all die persönlichen Geschichten zusammen und zeugt von der unglaublichen Kraft der Menschen, die sie erlebt haben“, erklärt Sanna ihre Motivation im Nachwort.

Sanna erzählt in aller Einfachheit und kindlicher Sprache die Geschichte vieler Fluchten: Von sorglosen Leben, die umgebrochen werden durch eine Krise, von persönlichen Katastrophen, Verlusten, Angst vor dem Aufbruch. Und von dem Wunsch nach Sicherheit. Die oder der Ich-Erzähler*in bekommt dabei keinen Namen – ebenso wenig die Familienmitglieder oder andere Figuren. Sanna legt die Figuren nicht fest. Es könnte jede*r sein. Das impliziert auch: Es könnte jede*n treffen.

Der sachliche Text wird beseelt durch dichte und bunte Bildwelten. Sannas Illustrationen sind farbenfroh und gewaltig – sie eröffnen neue Zugänge, erzählen auch die Geschichte eines Abenteuers, nehmen die Phantasie mit auf eine spannende Reise. Beinahe märchenhaft zeigen sie zum Beispiel, wie sich die Protagonist*innen im Wald verstecken – klein kauern sie im Unterholz, während monströs und gigantisch groß die Grenzer einen ganzen Wald überblicken und durchsuchen. Der Autorin gelingt dabei die Gratwanderung, das Erlebte nicht zu beschönigen oder gar zu verharmlosen und es trotzdem Kindern zugänglich zu machen. Die kubistisch anmutenden Formkompositionen setzen sich aus einer Vielzahl einzelner schlichter graphischer Elemente zusammen. Das visuelle Konzept steht programmatisch für das Buch als Ganzes: Es reduziert sich im Text auf Wesentliches, auf eine einfache Form, die wiederum viele Komponenten vereint: Erst die vielen Geschichten von vielen Fluchten ergeben ein Ganzes. So ergibt sich ein Werk, in dem alle Facetten enthalten sind: harte und weiche, eckige und runde. Schlicht und verspielt zugleich.

Zum Nachdenken regen vor allem der Schlusstext und seine Bebilderung an. Mit einem Vergleich zu Zugvögeln, die frei und leicht Grenzen überwinden können, zeigt er, wie „normal“ Wanderbewegungen sein könn(t)en und wie entstellt und künstlich der Diskurs um sie häufig ist. Denn: Grenzen und Mauern sind von Menschen gemacht.

Sanna hat viele Geschichten gehört und sie zu einer großen zusammengefasst, die sie in aller Knappheit und Klarheit in Kinderworten auf den Punkt bringt. Ein bildgewaltiges Debüt: wunderbar gezeichnet, mehrfach ausgezeichnet, einfach ausgezeichnet!

 

Dieser Artikel erschien zuerst beim Aktionsbündnis "Wir machen das". Der Originalbeitrag hier.


Die Flucht von Francesca Sanna ist 2016 im NordSüd Verlag erschienen.

Hier geht es zum offiziellen Portfolio der Autorin.