War er...? Ja. Oder: Just a guy

Feministischer Zwischenruf

Schusswaffen-Massenmorde eint mehr als die Tatwaffe. Fast alle Attentäter sind Männer. Auch wenn das kaum zu interessieren scheint. Doch woran liegt es, dass Männer häufiger Massenmorde begehen?

Dieser Artikel ist älter als 6 Jahre

Nein, Alkohol- oder Drogenprobleme habe er keine gehabt, für Religion und Politik habe er sich nicht interessiert und ein Waffennarr sei er auch nicht gewesen. „Wir haben keine Ahnung, warum er das getan hat“, sagte Eric Paddock in Richtung der Fernsehkameras, kurz nachdem sein Bruder Stephen in Las Vegas 58 Besucher eines Country-Festivals und anschließend sich selbst erschossen hatte.

Mit dieser Ahnungslosigkeit ist er nicht allein. War er ein Islamist? Nein. Rechtsextremist? Auch nicht. Vielleicht psychisch krank? Hatte er Schulden? Offenbar nicht. Jedes der typischen Täterprofile wurde von Behörden und Medien in den vergangenen Wochen ausgeschlossen. Und dennoch könnte die allseits bekräftige Feststellung, es gebe keine Anhaltspunkte, wie es zum schlimmsten Schusswaffen-Massenmord in der amerikanischen Geschichte kommen konnte, falscher nicht sein. Denn Paddock passt perfekt in ein Täterprofil, das fast alle Attentäter vereint und nachdem dennoch kaum jemand fragt: War er? Ja, auch Stephen Paddock war ein Mann.

Fast alle Massenmörder sind Männer

Columbine, Paris, Orlando… Ach lassen wir das. Der Umstand, dass fast alle (in den USA sind es 98 Prozent) Schusswaffen-Massenmorde von Männern verübt werden, ist so offensichtlich, dass es nicht einmal der bei anderen Täterkategorien üblichen Aufzählung bedarf. Auch bei häuslicher Gewalt, Sexualstraftaten, Körperverletzungen und Mord sind die Täter*innen so häufig männlich, dass man sich das Gendern von „Täter“ auch sparen kann. „Nicht alle x sind Massenmörder, aber alle Massenmörder sind x“, heißt es bei anderen Tätergruppen häufig. Für keine andere gesellschaftliche Gruppe ist diese Gleichung so wahr wie für „x = Männer“.

Fabian Goldmann ist freier Journalist, Politik- und Islamwissenschaftler. Seine Themenschwerpunkte sind u.a. Islamophobie und die Kritik an patriarchalen Männlichkeiten.

Und dennoch verbleibt die Auswertung der Analysekategorie „Mann“ auch im Fall von Stephen Paddock meist exklusiv in feministischen Plattformen wie dieser. Als würde nach einem Schulamoklauf nur in Nachhilfe-Foren über mögliche Versäumnisse in der Bildungspolitik diskutiert. Wenn wir nach dem xten Sturmgewehr-Attentat ganz selbstverständlich, die Rolle allzu liberaler Waffengesetze thematisieren, warum nicht genauso selbstverständlich die Bedeutung gesellschaftlicher Geschlechterbilder, wenn der Täter schon wieder ein Mann ist? Dazu muss man kein*e Männer-Hasser*in, nicht einmal ein*e Feminist*in sein. Man muss auch kein*e Islam-Gegner*in sein, um im Fall des Paris-Attentäters zu fragen, unter wessen Einfluss Abdelhamid Abaaoud radikalisiert wurde. Warum war es schon wieder ein Mann? Man muss keine heimliche Vision von einer anderen Geschlechterordnung im Hinterkopf haben, um diese offensichtliche Frage zu stellen.

Angst vor Entmannung

Das gilt umso mehr, als dass ihre Beantwortung keine exklusive Sphäre von feministischen Meinungsbeiträgen wie diesem ist, sondern wissenschaftlich fundiert ist. So wie es als gesichert gilt, dass bestimmte psychische Krankheiten Gewalt begünstigen können oder der schlichte Besitz von Schusswaffen deren Einsatz wahrscheinlicher macht, belegen Studien den Zusammenhang von Männlichkeitsbildern und Gewalt.

„Niemand ist den Frauen gegenüber aggressiver oder herablassender als ein Mann, der seiner Männlichkeit nicht ganz sicher ist“, warnte Simone de Beauvoir einmal. „Angst vor Entmannung“ beschrieb der britische Autor Jack Urwin in seinem Bestseller „Boys don't Cry“ das Phänomen, das Wissenschaftler „Masculine Overcompensation Thesis“ nennen. In mehreren voneinander unabhängigen Studien belegten Forscher den  Zusammenhang zwischen Männlichkeitsbildern und Gewalt. (hier und hier) 

Genauer: In sozialpsychologischen Studien zeigten die Wissenschaftler*innen, dass Männer umso mehr als männlich wahrgenommene Eigenschaften wie sexuelle Potenz, Homophobie oder Gewaltbereitschaft demonstrieren, je stärker ihre Männlichkeit von außen infrage gestellt wird. Männer, denen feminine Züge zugeschrieben wurden, waren homophober und befürworteten sexuelle Grenzüberschreitungen eher, als Männer, die unbeeinflusst in das Experiment gingen. Dieselbe Auffälligkeit zeigte sich auch bei Männern, die sich durch gesellschaftliche Veränderungen verunsichert zeigten: Je stärker sie ihren Status als „Mann“ bedroht sahen, desto größer war die Zustimmung zu Gewalt. Bei weiblichen Probanden trat das Phänomen nicht auf. Mit der These einer „Überkompensation“ von Männlichkeit erklären Forscher auch, warum homophobe Einstellungen überdurchschnittlich häufig bei Männer anzutreffen sind, die selbst homosexuelle Neigungen haben.  Das gleiche Phänomen lässt sich bei Vergewaltigern nachweisen: Auch sie fühlen sich vor der Tat häufig in ihrer Männlichkeit bedroht

Toxische Männlichkeit

Reicht diese Mischung aus „toxischen“ Männlichkeitsbildern und dem Bedürfnis erlebte Verunsicherungen zu überkompensieren aus, um 58 Menschen zu erschießen? Ja, sagt der  Soziologe Michael Kimmel. In seinem 2013 erschienenen Buch „Angry White Men“ liefert er eine Antwort auf die Frage, warum gerade in den USA so viele Männer zu Mördern werden. Kimmel zufolge herrsche in den USA unter weiten Teilen der männlichen Bevölkerung ein Gefühl  männlicher Allmacht. Intensiver noch als in anderen Gesellschaften kollidiere dieser Anspruch mit progressiven Gesellschaftsentwürfen. Massaker mit Schusswaffen und andere Gewalttaten seien häufig die Entladung daraus resultierender Verunsicherung.  Es gibt sicher auch einen Zusammenhang mit whiteness, doch mein Fokus liegt hier zunächst auf Männlichkeitskonstruktionen insgesamt.

Ähnliches beschreibt auch Klaus Theweleit. Der Kulturwissenschaftler hat Ende der 1970er in seinem Werk „Männerphantasien“ am Beispiel des deutschen Freikorps-Soldaten den Prototyp eines faschistischen, gewalttätigen Mannes nachgezeichnet und gilt als Begründer der Männerforschung. In seinem 2015 veröffentlichten Buch „Das Lachen der Täter“ untersuchte er die Psychologie von Massenmördern: von Breivik über die Roten Khmer bis zu den Charlie Hebdo-Attentätern. Auch Theweleit fand eine Auffälligkeit: Egal welcher Ideologie sie sich unterordneten, allen Tätern gemein war, dass sie sich durch progressive gesellschaftliche Entwicklungen in ihrer Männlichkeit bedroht fühlten. "Töten ist das zentrale Mittel dieser Körper zum Erreichen des Spannungsausgleichs", schreibt Theweleit.

Just a guy

Ermordete Stephen Paddock also 58 Menschen, um seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen? Keine Ahnung. So verbreitet der Tätertypus „Mann“ auch ist, sollte man sich auch hier vor vorschnellen Erklärungen in Acht nehmen. Genauso wenig wie allein die Affinität zu einer politischen Ideologie, Mobbing in der Schule oder der Zugang zu Waffen einen Menschen zum Massenmörder macht, sollte man jedem Gewalttäter eine aus Verunsicherung resultierende Überkompensation von Männlichkeit attestieren. Aber es ist ein möglicher Erklärungsansatz. Als Eric Paddock vor zwei Wochen vor die Fernsehkameras trat, sagte er am Ende über seinen Bruder: „He was just a guy“. Ungewollt lieferte er damit die beste Erklärung für die Tat seines Bruder.