Meine Identität

Eine afghanische Schriftstellerin schreibt über den emotionalen Bezug zu ihrer Heimat - im Rahmen von Weiter Schreiben - ein literarisches Portal für Autor*innen aus Krisengebieten.

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Mariam Meetra - Meine Identität
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Straßen, die sich leeren
vom Duft der Menschen, von Lebensfarben,
einer nach dem anderen treten wir ab.
Niemand ruft dort nach mir,
niemand betritt die Straße.
Wir sprechen durch Mauern miteinander,
in einer Stadt, deren Himmel
Kugeln blutig gefärbt haben …
Deine Stimme habe ich mir gemerkt,
nach jedem Treffer
schreien wir gemeinsam …
Wo soll ich mich verbergen?
Wo immer das Dach einstürzt, es fällt auf dich herab.
Das Dach dieses Hauses stürzt seit Jahren schon über mir ein,
in allen Himmelsrichtungen ist es zerbrochen …
In mir habe ich ein Haus errichtet
mit meinen Erinnerungen und Träumen,
mein innerstes Haus,
das ich nie verlasse.
Es ist meine Zuflucht,
wenn ich keine Anschrift habe,
wenn niemand meinen Namen kennt.
Ein Haus habe ich in mir errichtet …
Sie fragen,
woher ich komme? Wo ich geboren wurde?
Sie fragen nicht, wo ich gelitten habe?
Wo ich lachte,
wo ich weinte,
wo ich meine Freunde verlor?
Ich bin mein eigener Ausweis
aus Träumen und Ängsten,
mit denen ich Flüsse, Berge und Flughäfen passierte.
Augen, Erinnerungen, Kummer, Lachen,
meine Liebsten und meine Ängste
sind meine Identität.
Jeder Mensch ist ein Haus in sich,
mit Sprachen, die er spricht,
mit wiedererweckten Erinnerungen.

 

Übersetzung: Susanne Baghestani

 

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