(K)ein Recht auf Anderssein: Rassismus, Rechtspopulismus und LSBTIQ*

Kadir Özdemir erläutert, wie die fehlende Thematisierung von Homo- und Transfeindlichkeit in der Gesamtgesellschaft die Stigmatisierung herausgegriffener Gruppen erleichtert und rechtspoplistischen Bewegungen in die Hände spielt.

LGBT Solidarity Rally in front of the Stonewall Inn in solidarity with every immigrant, asylum seeker, refugee and every person impacted by Donald Trump's illegal, immoral, unconstitutional and un-American executive orders
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LGBT Solidarity Rally in front of the Stonewall Inn in solidarity with every immigrant, asylum seeker, refugee and every person impacted by Donald Trump's illegal, immoral, unconstitutional and un-American executive orders

In Deutschland leben inzwischen 18,6 Millionen Bürger*innen mit Migrationserbe. Die deutliche Mehrheit dieser Menschen hat einen deutschen Pass und betrachtet Deutschland als ihre Heimat. Rund 42 Prozent dieser Gruppe hat seit ihrer Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft, verfügt über keine eigene Migrationserfahrung, hat kein Vorleben in einem vermeintlichen Herkunftsland.1

Diese Bürger*innen haben die gängige Bezeichnung „Migrationshintergrund“ von ihren Eltern geerbt, zum immer größer werdenden Teil sogar nur von den Großeltern. Die Entscheidung, dieses schwere Erbe anzunehmen oder abzulehnen, wird dieser Gruppe nicht selbst überlassen. Dieses Etikett wird an sie– und womöglich noch an ihre Folgegenerationen – herangetragen. Der Begriff „Migrationshintergrund“ ist überholt und wenig aussagekräftig. Bei einem „Hintergrund“ liegt die Vermutung nahe, dass dieser der Person selbst gehört. Selbst bei Personen mit eigener Migrationserfahrung ist dieser Begriff nicht passend.

Geeigneter erscheint dagegen der Begriff „Migrationserbe“. Er macht deutlich, dass selbst die neuen Einwanderer*innen einen Raum voller vorbelasteter Debatten und Etikettierungen betreten und damit ihre gesellschaftliche Beschreibung unweigerlich von den Narrativen über Arbeitsmigrant*innen der 1950er bis zu den aktuellen Debatten über Flucht geprägt wird.

Teilhabe in der postmigrantischen Gesellschaft und Diskurse über „Andersartigkeit“

Der Wille von Bürger*innen mit Migrationserbe, sich als ein Bestandteil von Deutschland zu positionieren, prallt an den Machtstrukturen in der Mehrheitsgesellschaft ab. Es ist eine leichte Übung, diese Bürger*innen als „Ausländer*innen“ zu markieren und ihrem Begehren nach gesellschaftlicher Partizipation und ihrer Auflehnung gegen strukturellen Rassismus kein Gehör zu schenken.

Die gut ausgebildete junge Generation mit Migrationserbe hat inzwischen die gläsernen Wände ertastet und benennt strukturelle und emotionale Hindernisse an der Teilhabe, die von der Mitte der Gesellschaft ausgehen. Bürger*innen mit Migrationserbe wollen sich nicht länger objektifizieren lassen . Sie brechen mit den gewohnten Rollenverteilungen, indem sie Partizipation einfordern. Sie haben erkannt, dass ihre integrierte Lebensweise keine gleichberechtigte Teilhabe an gesellschaftlichen Positionen und Ressourcen zur Folge hat.

Nur wenige Menschen ohne Migrationserbe wissen, dass es erst im Jahre 2000 den politischen Moment gab, in dem sich Deutschland als ein Einwanderungsland positionierte.2 Das Leitbild veränderte sich zum ersten Mal. Hinter dieser Veränderung steckte das Versprechen, dass alle Bürger*innen dieses Landes gleiche Rechte haben werden, unabhängig von ihrer Herkunft. Deutschsein sollte fortan vielfältig sein dürfen.

Dieser selbstreflexive Moment wurde allerdings durch hysterische Diskussionen um Kopftuch, Islam, Terror oder Flucht immer wieder in Frage gestellt. Die teils unsachlichen Debatten um Flucht sowohl von rechten Parteien als auch von den großen Volksparteien haben dazu beitragen, dass rechtspopulistische Bewegungen an Stärke zunahmen. Dabei bestimmten Begriffe wie „unsere abendländisch-christlichen Werte“ immer wieder kulturpolitische Diskurse.

Kulturrassismus der AfD: wie sich mit LSBTIQ* die Gesellschaft spalten lässt

Auffallend an diesen Diskursen war, dass bestimmte Phänomene wie Homo- und Transphobie, die seit Jahrhunderten in der deutschen Gesellschaft existieren, zunehmend zu einem Problem der Migrant*innen und Flüchtlinge erklärt wurden. „Unsere Werte“ und „Wir“ als ein Gegensatz zu Geflüchteten und Bürger*innen mit Migrationserbe konstruierte ein Bild einer kollektiv toleranten Mehrheitsgesellschaft gegenüber LSBTIQ* – während die jeweils als „anders“ markierten dies kollektiv nicht sind.3

Während rechte Bewegungen einerseits antifeministische Weltbilder verbreiteten, die die „traditionelle Familie“ als die Keimzelle der Gesellschaft und Gendermainstreaming als großes Übel hinstellten, positionierten sie sich andererseits als die Beschützer*innen der (weißen) deutschen LSBTIQ*. Früh wurde deutlich, dass die Haltung zu LSBTIQ* ein gutes Mittel der Spaltung der linken und der queeren Szene sein kann.

So zeigte die Berliner AfD eine Bannerwerbung mit einem besorgten schwulen Paar, das „keinen Wert auf Bekanntschaft mit muslimischen Einwanderern legt“.4 Auf diese Weise schalten sich rechte Bewegungen in den LSBTIQ*-Aktivismus ein, um ein kulturrassistisches Bild der homophoben Flüchtlinge und Bürger*innen mit Migrationserbe zu zeichnen.

Wie wenig echtes Interesse diese Bewegungen an queeren Menschen haben, zeigt sich in der jahrelangen Agitation gegen Homo- und Transsexuelle, darunter die Ablehnung der Ehe für Alle, die Gleichsetzung von Homosexualität mit Pädophilie und Sodomie, Angriffe auf Regenbogen-Familien oder die Forderung nach Gefängnisstrafen für Homosexuelle.5 Schulaufklärungsprojekte zu LSBTIQ* bewertete Björn Höcke als „Bildungspolitik für den Arsch“ und Andreas Nerstheimer, Berliner AfD-Kandidat, bezeichnete Homosexuelle als „Degenerierte Spezies“.6

Gerade die Familienpolitik der AfD bildet eine Netzwerkfunktion, an die auch christlich-evangelikale Gruppierungen andocken können. Das Wahlprogramm der AfD Baden-Württemberg bringt es auf den Punkt: „Der grün-rote Kampf gegen die angeblich allgegenwärtige Diskriminierung, der unter der Fahne des „Gender Mainstreaming“ geführt wird, hat die Zerstörung der traditionellen Familie und die Auflösung der geschlechtlichen Identität von Mann und Frau zu seinem eigentlichen Ziel.”7

Interessant ist jedoch, dass trotz dieser LSBTIQ*-feindlichen Einstellungen sich eine Arbeitsgruppe der „Homosexuellen in der AfD” gebildet hat. Der ehemalige Sprecher dieser Gruppe, Torsten Ilg, schrieb im Oktober 2015, dass die Arbeitsgruppe keine Bedeutung in der Partei habe und sich lediglich dem konservativen Flügel um Beatrix von Storch anbiedern würde.8 Ein Indiz dafür ist, dass die „Homosexuellen in der AfD“ gleichgeschlechtliche Partnerschaften immer noch der traditionellen Ehe unterordnen und andere Familienmodelle höchstens eine „konservative Verstärkung der traditionellen Familie” sein könnten.9

„Die Homosexualität auf der einen Seite – und auf der anderen eine Partei, die vor „Gender-Wahn“ warnt und die Drei-Kinder-Familie als Lebensziel definiert: Ist das kein Widerspruch?“, fragte Juliane Löffler in Der Freitag.10 Die Frage drängt sich auf: Etliche Parteimitglieder treffen menschenverachtende Aussagen über LSBTIQ* – wie die Aufforderung, Homosexuelle statistisch erfassen zu lassen oder gleich verhaften zu lassen.11

Der Brückenschlag zwischen LSBTIQ* und Rechtspopulismus ist Islamfeindlichkeit und Rassismus. Muslim*innen, Bürger*innen mit Migrationserbe und den Geflüchteten kommen zwei zentrale Aufgaben zu: Die Aufwertung des Eigenen und die Abwertung des Fremden. „Die Fremden“ müssen dafür kollektiv zu einer homo- und transfeindlichen Gruppe erklärt werden, während die etablierten Bürger*innen als kollektiv tolerant sein müssen. „Man muss beides benennen – homophobe Deutsche und homophobe Migranten. „Aus meiner Sicht ist die queere Szene in Berlin da zu voreingenommen.

Damit tun wir uns keinen Gefallen“, betont Marcel de Groot, Geschäftsführer der Schwulenberatung Berlin.12 Der Geschäftsführer des Gay-Club SchwuZ, Marcel Weber, bekräftigt: „Eine Zunahme von Übergriffen durch Migranten und Geflüchtete kann ich definitiv ausschließen. Vielleicht haben die Beschwerden zugenommen. Aber da muss man einen Unterschied zwischen gefühlter Wahrnehmung und Realität machen.“13

Die fehlende Thematisierung von Homo- und Transfeindlichkeit in der Gesamtgesellschaft macht die Stigmatisierung herausgegriffener Gruppen einfacher und spielt damit rechtspopulistischen Bewegungen in die Hände. Tatsächlich belegt die jüngste Mitte-Studie der Universität Leipzig, dass 40 Prozent der Befragten es „ekelhaft“ finden, wenn Homosexuelle sich in der Öffentlichkeit küssen.14 Die Befragten waren keine extremistischen Muslim*innen, sondern bildeten einen Querschnitt der deutschen Gesellschaft. Man darf nicht aus den Augen verlieren, dass in Deutschland ein Heterosexismus herrscht, der davon ausgeht, dass prinzipiell alle Menschen heterosexuell sind und die Existenz der anderen sexuellen Orientierungen oder Geschlechtsidentitäten als Ausnahmen gelten.15

Die Relevanz intersektionaler Ansätze

Der konstruierte Gegensatz zwischen „den“ „Fremden“ und LSBTIQ* wird inzwischen nicht nur von (rechts-)populistischen Bewegungen aufgegriffen, sondern auch von Teilen der weißen LSBTIQ*-Organisationen; zumeist von weißen, schwulen Männern. Queerer Aktivismus und Rechtspopulismus sind bedauerlicherweise keine Gegensätze.

So kam es bereits im Jahre 2010 beim Berliner CSD zu einem Eklat, als die queere Philosophin und Feministin Judith Butler den Preis für Zivilcourage mit der Begründung ablehnte, dass die veranstaltenden queeren Organisationen gegen Probleme wie Rassismus und Mehrfachdiskriminierung von queeren Migrant*innen nicht vorgehen. Sie zählte in der Folge namentlich einzelne queere Organisator*innen auf, die den Kampf gegen Homo- und Transphobie als einen Kampf gegen andere Minderheiten führen. In ihrer Ablehnungsrede betonte sie:

In diesem Sinne muss ich mich von dieser Komplizenschaft mit Rassismus einschließlich antimuslimischen Rassismus distanzieren. Wir haben alle bemerkt, dass Homo-, Bi-, Lesbisch-, Trans-, Queer-Leute benutzt werden können von jenen, die Kriege führen wollen, d. h. kulturelle Kriege gegen Migrant*innen durch forcierte Islamophobie und militärische Kriege gegen Irak und Afghanistan. Während dieser Zeit und durch diese Mittel werden wir rekrutiert für Nationalismus und Militarismus. Gegenwärtig behaupten viele europäische Regierungen, dass unsere schwule, lesbische, queere Freiheit beschützt werden muss und wir sind gehalten, zu glauben, dass der neue Hass gegen Immigrant*innen nötig ist, um uns zu schützen. Deswegen müssen wir nein sagen zu einem solchen Deal. Und wenn man nein sagen kann unter diesen Umständen, dann nenne ich das Courage. Aber wer sagt nein? Und wer erlebt diesen Rassismus? Wer sind die Queers, die wirklich gegen eine solche Politik kämpfen? Wenn ich also einen Preis für Courage annehmen würde, dann muss ich den Preis direkt an jene weiterreichen, die wirklich Courage demonstrieren.“16

Judith Butler weist damit auf die Blase der weißen, queeren Szene aus der Mittel- und Oberschicht hin, die sich mit Rassismus oder Klassenfragen lange Zeit kaum befasst hatte. Die Vorstellung, dass sich auch unter Migrant*innen und Flüchtlingen LSBTIQ* befinden, blieb ihnen verborgen, ebenso wie die Tatsache, dass diese durch eine Mehrfachzugehörigkeit zu Opfern von Rassismus und eines Ethnosexismus werden.17

Das für das Ballhaus Naunynstraße in Berlin realisierte Theaterstück „Jenseits - Bist du schwul oder bist du Türke?“ thematisierte bereits 2008, wie in der deutschen Gesellschaft Schablonen von Identität und Identifikation angelegt werden. Einer der beiden Regisseure, Nurkan Erpulat, greift die Thematik in einem Interview auf und bringt damit die Situation vieler queerer Einwanderer*innen auf den Punkt: „Ich bin homosexueller Türke und genieße die Früchte des positiven Rassismus in Deutschland. (…) Viele Menschen stehen voller Bewunderung vor mir nach dem Motto: Oh, der ist hierher gekommen, um sich zu emanzipieren! Lasst uns ihn mit vereinten Kräften befreien. Und ich denke: Na dann, erlöst mich mal!“18

Das Stück feierte große Erfolge, nicht zuletzt, weil es die Erwartung eines Tabubruchs bediente. Das scheinbar paradoxe Ineinandergreifen von Homosexualität und Migration macht deutlich, welche begrenzten Bilder über die Migrationsgesellschaft vorherrschen, die demnach nicht nur als nicht-deutsch sondern auch als heterosexuell begriffen wird. Nach dem Schema des Stückes lassen sich eine Reihe von Fragen formulieren: „Bist du schwul oder Flüchtling?“, „Bist du eine Frau oder Migrantin?“, „Bist du deutsch oder Muslim*a?.“19 Um Zuständigkeiten zu klären, steht für Einwanderer*innen und Geflüchtete die mehr oder weniger suggestive Aufforderung im Raum, sich monoidentitär zu positionieren, in einen Rahmen zu passen.

Sie sollen entweder deutsch, schwul, lesbisch, trans* oder heterosexuell, arabisch, kurdisch, muslimisch, yezidisch sein. Die fehlende Kompetenz in der Mehrheitsgesellschaft mit Mehrfachzugehörigkeit umzugehen, endet in einfachem Schubladendenken. Dieser Mechanismus ist in der Mehrheitsgesellschaft strukturell verankert, aber auch Minderheitengruppen sind davon betroffen. Auch ihren Mitgliedern kann der intersektionale Blick fehlen, was zur Homogenisierung der eigenen Gruppe führt. Zudem schützt die Zugehörigkeit zu einer Minderheit nicht davor, andere Minderheiten zu diskriminieren.

Ressentiments an muslimische Bürger*innen und Geflüchtete auslagern

In diesem Rahmen ist es eine leichte Übung, Minderheiten bei der Durchsetzung von Mehrheitsinteressen gegeneinander auszuspielen. Ein gutes Beispiel ist ein Gutachten des von der CDU/CSU beauftragten Prof. Dr. Winfried Kluth, das sich mit dem Vorschlag befasste, den 3. Zusatz des 3. Artikels (AGG) um die „sexuelle Identität” zu erweitern. Dieser Gutachter sprach sich dagegen aus und begründete seine Positionierung damit, dass dadurch eine „Erschwernis der Integration von Muslimen“ in Deutschland entstünde, da deren „[…] Toleranz gegenüber der Gruppe der Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern, transsexuellen und intersexuellen Menschen noch wenig entwickelt ist […].“20

Sowohl der Zentralrat der Muslime (ZMD) als auch der LSVD Berlin-Brandenburg haben sich gegen diesen Versuch von konservativen Politiker*innen positioniert, Muslim*innen für ihre eigene parteipolitische und homofeindliche Agenda zu instrumentalisieren.21 Der Generalsekretär des ZMD trat im Gegenteil für einen umfassenden Diskriminierungsschutz in der Verfassung ein. Bereits zwei Jahre zuvor hatten sieben muslimische Organisationen, darunter auch der größte muslimische Verband DITIB, als Reaktion auf einen homophoben Artikel im arabischsprachigen Anzeigenblatt ‚Al-Salam‘ erklärt, dass „die Reaktion der Öffentlichkeit auf diesen Artikel zu Recht Empörung und Unverständnis war.“22

Im Jahre 2013 unterzeichnete der damalige Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD), Kenan Kolat, einen offenen Brief an die Fraktionen der Bundesregierung, in dem er sich deutlich für die Öffnung der Ehe für LSBTIQ* aussprach.23 Während CDU/CSU in den Jahren vor der Öffnung der Ehe nicht durch ihr Engagement für Homo- und Trans*rechte aufgefallen sind, wollten sie scheinbar die eigene politische Vergangenheit und eigene Ressentiments gegenüber LSBTIQ* an muslimische Bürger*innen und Geflüchtete auslagern. Der besagte Gutachter lehrt derzeit an der Universität Halle Migrationsrecht und tritt für eine Begrenzung der Einwanderung ein.24

Gestaltungshoheit politischer Diskurse und gesellschaftlicher Narrative: die Verantwortung der Medien

Das Gegeneinander-Ausspielen von verschiedenen Minderheiten ist von der Antike über die Jahrhunderte des Kolonialismus bis zum heutigen Tage eines der wirkmächtigsten Instrumente derjenigen, die gesellschaftliche Narrative bestimmen. Zwar taugen per se alle gesellschaftlichen Gruppen zum Feindbild, jedoch sind die Möglichkeiten, gesellschaftliche Diskurse zu dominieren und neue Narrative zu schaffen, ungleich verteilt.

Daher muss der Blick dafür gewahrt werden, wer über die Macht verfügt, Debatten zu politisieren und Entscheidungen herbeizuführen. Diese Macht liegt selten bei Geflüchteten oder Bürger*innen mit Migrationserbe. Die zentrale Frage ist: In wessen Interesse geschieht die Konstruktion von ethnischen, sexuellen, geschlechtlichen oder ökonomischen Zugehörigkeiten? Woher schöpfen wir unser Wissen über andere Minderheiten? Welche Bilder werden über diese Gruppen generiert und ständig verbreitet?

Eine wesentliche Verantwortung bei der Veränderung eines schlechten Ist-Zustandes liegt bei Politiker*innen und Medienmacher*innen in ihrer wechselseitigen Beziehung. Regelmäßig und bereits seit über fünfzehn Jahren werden Bürger*innen mit Migrationserbe und Geflüchtete als der weiße Hase aus dem Zylinder gezaubert, wenn es darum geht, gesellschaftliche Probleme zu diskutieren; seien es Themen wie Armut, Jugendkriminalität oder wie jüngst die Sexismus-Debatten.

Während bei den Ereignissen in der Kölner Silvesternacht 2015/2016 Geflüchtete von einigen prominenten weißen Feminist*innen schnell kulturalisiert und als Kollektiv zu Sexualverbrechern erklärt wurden, löste die #metoo-Debatte, die mit dem US-amerikanischen Produzenten Harvey Weinstein begann und schnell auf etliche Männer in den USA und auch in Deutschland überging, seltsamerweise keine Kulturdebatten aus. Die weißen Männer aus den westlichen Ländern handelten scheinbar alle als Individuen, da Sexismus wohl in den eigenen Reihen als strukturelles Problem nicht existieren darf.

Seit etwa zwanzig Jahren werden Kulturdebatten um Geflüchtete und Bürger*innen mit Migrationserbe von effekthascherischen Cover-Stories deutscher Printmagazine wie Der Spiegel, Stern oder Focus begleitet. Zum Thema Islam zeigten sie in ständiger Wiederholung eine vollverschleierte Frau vor einem bedrohlich dunklen Hintergrund als visuelle Vertretung der Muslim*innen in Deutschland. Bei Bürger*innen mit Migrationserbe dominieren Themen rund um Kriminalität. Im Bereich Film und Fernsehen kommt die Mehrheit der Schauspieler*innen mit Migrationserbe selbst im Jahre 2018 selten über eine Nebenrolle als „Migrant*in“ hinaus. Sie sind prädestiniert für rassistische und geschlechtsspezifisch stereotype Rollen als türkische*r Gewalttäter*in, afrikanische*r Drogendealer*in, als unterdrückte Kopftuch-Türkin oder exotische Frau, die aber beschützt werden muss.

Diese mediale Schieflage ist eng verzahnt mit dem Verhältnis zwischen Kultur, Politik und Machtverteilung in der Gesellschaft. Eine Untersuchung zu den Hauptnachrichtensendungen von ARD, ZDF, RTL und SAT 1 kam zu dem Ergebnis, dass mehr als ein Drittel der Berichte über Bürger*innen mit Migrationserbe und Flüchtlinge in einem Zusammenhang mit Terror und Terrorismus standen.25 Der Negativismus der Berichterstattung hängt unter anderem damit zusammen, dass kaum Journalist*innen mit Migrationserbe in den Redaktionen arbeiten. Eine Erhebung in den Lokalredaktionen von 600 Tageszeitungen kam zu dem Ergebnis, dass von etwa 16.000 hauptberuflich tätigen Journalist*innen lediglich 1,2 Prozent über ein Migrationserbe verfügten.26

Postmigrantische Allianzen

LSBTIQ* sind ein Querschnitt der politischen Landschaft und bleiben nicht unberührt vom Erstarken des Rechtspopulismus, Neo-Konservatismus und von abwertenden Debatten über Geflüchtete und Bürger*innen mit Migrationserbe. Damit das Gegeneinander der Minderheiten in ein Miteinander und in stärkere Bündnisse außerhalb der queeren Bubble münden kann, brauchen wir den intersektionalen Blick und eine Sensibilität für Mehrfachbetroffenheit. Die Sozialwissenschaftlichen Naika Foroutan plädiert daher für einen Paradigmenwechsel und eine postmigrantische Perspektive auf die Gegenwart, um nicht länger nach Herkunft zu sortieren:

„Es geht also um postmigrantische Allianzen in einem Land, um Menschen, die gemeinsam für eine Haltung streiten und nicht um eine Herkunft. Ob herkunftsdeutsch, biodeutsch, migrantisch, mit Hintergrund oder ohne: Der normative, sinnstiftende Endpunkt unserer nationalen Identität ist die plurale Demokratie. Sie zu schützen und zu vollziehen ist in der Verfassung angelegt. Wir müssen dieses plurale Narrativ der deutschen Identität also nicht erfinden – nur befreien von all den Erzählungen, die es überdecken.“27

Es bleibt zu hoffen, dass LSBTIQ* sich nicht von rechtspopulistischen Trugbildern mitreißen lassen und erkennen, dass es sich dabei um ein klassisches Teile-und-herrsche-Verfahren handelt, ohne wirklich eigene Lösungen anzubieten. Der Einsatz für Gleichberechtigung und gesellschaftliche Teilhabe sollte für alle Lebensentwürfe gültig sein und nicht nur für die eigene Gruppe. Menschen sind nicht durch eine einzige Eigenschaft, durch eine einzige Identität gekennzeichnet. Fragen nach Sexismus, Rassismus und Klassismus müssen daher als Querschnittsthema immer mitbedacht werden.


1 Pressemitteilung Nr. 261 des Statistischen Bundesamtes vom 01.08.2017 Online unter: https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2017/08/PD17_261_12511.html (Zugriff am 15.02.2018)

2Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, welches am 1. Januar 2000 in Kraft trat, stellte einen Wendepunkt in der Ausländerpolitik dar. Die Einbürgerung bestimmt fortan das Geburtsrecht (ius soli) und nicht länger das Recht des Blutes (ius sanguinis). Damit fiel das Staatsbürgerrecht von 1913 weg. Bei dem ersten „Integrationsgipfel“ in 2006 kamen Vertreter*innen von Migrant*innenverbänden, Kommunen, wissenschaftlicher Einrichtungen und Ministerpräsident*innen zusammen. Allerdings wurden muslimische Verbände von diesem Gipfeltreffen ausgeschlossen. Sie sollten separat zu der „Islam Konferenz“ geladen werden. Bei dieser Konferenz dominierten wiederum Vertreter*innen der Sicherheitsorgane, was als fehlendes Vertrauen seitens des deutschen Staates und als Desinteresse an einem wirklichen Dialog kritisiert wurde.

3LSBTIQ* steht für lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle bzw. -geschlechtliche und intersexuelle bzw. -geschlechtliche Menschen. Das Q* symbolisiert jene, die sich nicht unter die erst genannten Kategorisierungen subsumieren lassen, jedoch auch nicht heteronormativen Vorstellungen entsprechen.

4Weingärtner, Markus (2016): Die AfD spielt Schwule und Muslime gegeneinander aus. In: Berliner Zeitung vom 22.07.2016. Online unter: https://www.berliner-zeitung.de/berlin/kommentar-die-afd-spielt-schwule-... (Zugriff am 01.02.2018)

5 Schumann, Jan; Decker, Markus (2016): AfD-Politiker fordert Gefängnisstrafe für Homosexuelle. In: Mitteldeutsche Zeitung vom 03.06.2016. Online unter: https://www.mz-web.de/24166818 (Zugriff am 10.02.2018)

6Karig, Friedemann (2016): Was machen Homosexuelle in der AfD? In: Jetzt.de vom 15.11.2016. Online unter: https://www.jetzt.de/afd/schwule-und-lesben-in-der-afd (Zugriff am 05.02.2018)

7 AfD Kreisverband Rhein-Neckar I. Praeambel. Online unter: https://rnk.afd-bw.de/programm/l.-praeambel (Zugriff am 10.02.2018)

8Schnorrenberg, Jan (2016): Der rosarote Dolchstoß. Die AfD, ihre LGBT* und der schwule Rechtspopulismus. Online unter: http://spektrallinie.de/2016/05/12/schwuler-rechtspopulismus/ (Zugriff am 01.02.2018)

9Ebenda.

10Löffler, Juliane (2017): Warum wählen Schwule und Lesben die AfD? Auch Homosexuelle wenden sich rechten Populisten zu. Was sie dort wollen? Eine Spurensuche. In: Der Freitag vom 18.05.2017. Online unter: https://www.freitag.de/autoren/juloeffl/warum-waehlen-schwule-und-lesben... (Zugriff am 10.02.2018)

11 Klages, Robert (2015): AfD will Homosexuelle in Thüringen zählen lassen. In: Der Tagesspiegel vom 12.10.2015. Online unter: https://www.tagesspiegel.de/berlin/queerspiegel/anfrage-von-corinna-herold-afd-will-homosexuelle-in-thueringen-zaehlen-lassen/12438312.html (Zugriff am 11.02.2018), Vgl. auch: Schumann, Jan; Decker, Markus (2016): AfD-Politiker fordert Gefängnisstrafe für Homosexuelle. In: Mitteldeutsche Zeitung vom 03.06.2016. Online unter: https://www.mz-web.de/24166818 (Zugriff am 10.02.2018)

12Löffler, Juliane (2017): Warum wählen Schwule und Lesben die AfD? Auch Homosexuelle wenden sich rechten Populisten zu. Was sie dort wollen? Eine Spurensuche. In: Der Freitag vom 18.05.2017. Online unter: https://www.freitag.de/autoren/juloeffl/warum-waehlen-schwule-und-lesben... (Zugriff am 10.02.2018)

13Ebenda.

14 Diese Studie wurde von der Universität Leipzig in Zusammenarbeit mit der Otto-Brenner-Stiftung, der IG Metall, Heinrich-Böll-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung durchgeführt. Sie stellt eine Zunahme gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit fest, insbesondere gegen Geflüchtete. Vgl.: Decker, Oliver; Kiess, Johannes; Brähler, Elmar (2016): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland - Die Leipziger „Mitte“-Studien 2016. Gießen. Online unter: https://www.boell.de/sites/default/files/buch_mitte_studie_uni_leipzig_2... (Zugriff am 10.02.2018)

15 Heterosexismus liegt ein falscher Universalismus zu Grunde, d.h. man kann die Generalisierung der Heterosexualität als die „eigentliche“ Norm als eine indirekte Form der Ausgrenzung von LSBTIQ* betrachten.

16 Heidenreich, Nanna (2013): Sich nicht entscheiden wollen, aber dennoch eine Haltung haben. In: Andreas, Michael; Frankenberg, Natascha (Hrsg.) (2013): Im Netz der Eindeutigkeiten. Unbestimmte Figuren und die Irritation von Identität, Bielefeld 2013, S. 67-88, S. 71

17 Dietze, Gabriele (2016): Ethnosexismus. Sex-Mob-Narrative um die Kölner Silvesternacht, in: Movements 1/2016, S. 1–16, S. 12.

18http://www.ballhausnaunynstrasse.de/stueck/jenseits_-_bist_du_schwul_oder_bist_du_turke Kosnick, Kira (2014): „Nach dem Multikulturalismus: Aspekte des aktuellen Umgangs mit Diversität und Ungleichheit in der Bundesrepublik Deutschland“, in: Heike Drotbohm u. Boris Nieswand (Hrsg), Kultur, Gesellschaft, Migration: die reflexive Wende in der Migrationsforschung. Wiesbaden 2014, S. 297-323, S.315.

19Özdemir, A. Kadir (2017): „Bist du schwul oder bist du Flüchtling?“, in: Hartwig, Luise; Mennen, Gerald; Schrapper, Christian (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit mit geflüchteten Kindern und Familien. Weinheim Basel, S. 414 – 420.

20Klein, Dennis (2010): Gefährdet der Homo-Schutz die Integration von Muslimen? In: Queer.de vom 21.04.2010, Online unter: http://www.queer.de/detail.php?article_id=12063 (Zugriff am 12.02.2018)

21 Pressemitteilung des ZMD: Zentralrat der Muslime wehrt sich gegen Instrumentalisierung von Muslimen gegen Homosexuelle vom 12.10.2010. Online unter: http://zentralrat.de/15829.php (Zugriff am 10.02.2018) vgl. auch: Zinn, Alexander (2010): Muslime und Homosexuelle nicht gegeneinander ausspielen. Online unter: https://tbb-berlin.de/downloads_tbb/Muslime_und_Homosexuelle_nicht_gegen... (Zugriff am 16.02.2018)

22 Jamal, Julius (2015): Homophobie und antimuslimischer Rassismus – Diskriminierung nicht gegeneinander ausspielen. In: Die Freiheitsliebe vom 26.02.2015. Online unter: https://diefreiheitsliebe.de/gesellschaft/homophie-und-antimuslimischer-... (Zugriff 12.02.2018)

23 Offener Brief für die Öffnung der Ehe an den Bundestag (2013), In: Spiegel Online vom 15.03.2013. Online unter: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/prominente-fuer-die-homo-ehe-d... (Zugriff am 10.02.2018)

24 Winfried Kluth im Interview „Bürger nicht überfordern“ In: Mitteldeutsche Zeitung vom 15.11.2016. Online unter: https://www.mz-web.de/25094102 (Zugriff am 11.02.2018)

25 Ruhrmann, Georg; Sommer, Denise; Uhlemann, Heike (2006): TV-Nachrichtenberichterstattung über Migranten – Von der Politik zum Terror. In: Geißler/Pöttker (Hrsg.), Bielefeld, S. 45 – 75.

26 Geißler, Rainer (Hrsg.) (2009): Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland, Bielefeld, S. 79ff

27Widmann, Arno (2017): Was ist deutsch? In: Frankfurter Rundschau vom 11.07.2017. Online unter: http://www.fr.de/kultur/migration-was-ist-deutsch-a-1311224 (Zugriff am 11.02.2018)

 

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