Kolumbien: Auch während der Pandemie leben Aktivist/innen gefährlich

Hintergrund

Trotz des Lockdowns bekommt Mayerlis Angarita noch immer Drohungen. Die Trägerin des Anne-Klein-Frauenpreises 2018 der Heinrich-Böll-Stiftung setzt sich in Kolumbien für Frauen ein, die Opfer des internen bewaffneten Konfliktes wurden. Weder die Corona-Pandemie noch die Todesdrohungen können sie davon abhalten.

Mayerlis Angarita schläft wenig. Wegen dem, was ihr zustoßen könnte, ist sie stets wachsam: Sie prüft ihre Whatsapp-Nachrichten auf Drohungen, kontrolliert die Überwachungskameras, sieht nach, ob die vier Pitbulls, die das Haus bewachen, an ihrem Platz sind, und vergewissert sich, dass ihre Kinder schlafend im Bett liegen. Um drei Uhr morgens legt sie sich nach einem langen Arbeitstag schließlich ebenfalls hin. „An die Angst gewöhnt man sich nie“, sagt Mayerlis. Auch während des Lockdowns sind die Leibwächter bei ihr. Glücklicherweise hat der Staat ihr diesen Schutz nicht wieder entzogen – anders als anderen Aktivist/innen.

Mayerlis’ Arbeit als Frauenrechtsaktivistin wird überall im Land geschätzt. Während des Lockdowns hat sie weitergemacht, auch wenn das Internet bei ihr zuhause sehr langsam ist, was die Arbeit erschwert. Aber sie ist präsent: Kümmert sich in der von ihr gegründeten Stiftung Narrar para Vivir (Erzählen, um zu leben) um über achthundert Frauen, die in den Bergen Montes de María im Departamento Bolívar zu Opfern des bewaffneten Konfliktes geworden sind.

Mayerlis weiß, dass diese Drohungen ernstgemeint sind

Ihr Haus hat aus Sicherheitsgründen keine Außenfenster, was sie allerdings nicht daran hindert, im Inneren ein Leben voller Licht zu führen. Die Hausarbeit teilt sie sich mit ihren drei Kindern und einem Neffen. Alle helfen beim Putzen und Kochen, kümmern sich um die Tiere und den Garten. Der Lockdown hat auch zu Auseinandersetzungen zwischen ihren Kindern geführt, vor allem zwischen den beiden kleinen Töchtern. Manchmal kommen sie mit einer regelrechten „Beschwerdeliste“ zu ihr, sagt sie lachend, doch insgesamt ist es ihnen gelungen, eine harmonische Atmosphäre aufrechtzuerhalten.

Wie bei anderen Aktivistinnen und Aktivisten auch, haben die Drohungen während des Lockdowns nicht aufgehört. Man wolle sie aus dem Land haben, teilt man ihr in Beiträgen mit, die von der paramilitärischen Gruppe Águilas Negras in den sozialen Medien verbreitet werden. Mayerlis weiß, dass diese Drohungen ernstgemeint sind: Dreimal schon wurden Attentate auf sie verübt, zuletzt im Mai 2019, als Auftragskiller auf den gepanzerten Transporter schossen, in dem sie in Begleitung ihrer Töchter fuhr. Ihr Leibwächter hat ihr das Leben gerettet. Sie will das Land nicht verlassen, ihre Rolle als Aktivistin ist für sehr viele verwundbare, wenn auch zuversichtliche Frauen von großer Bedeutung – aber sie will auch nicht ermordet werden.

Der Lockdown hat die Bedrohungslage noch verschärft

Die Verbrechen gegen Personen, die sich für Menschenrechte einsetzen, sind während der Pandemie nicht weniger geworden. Die wegen COVID-19 von der Regierung verabschiedeten Schutz- und Quarantänemaßnahmen haben sie im Gegenteil noch verwundbarer gemacht. „Menschenrechtsaktivisten werden zu Hause ermordet“, sagt Mayerlis. Es ist ein großes Paradox: der Lockdown, der ausgerufen wurde, um Menschen zu schützen, hat dazu geführt, dass weniger Sicherheitskräfte in Gegenden sind, wo kriminelle Banden ihr Unwesen treiben und Aktivist/innen und Vertreter/innen der indigenen Bevölkerung bedrohen.

Die Pandemie kann die Epidemie sozialer Verbrechen in Kolumbien nicht vergessen machen: 2020 sind bislang mindestens zweiunddreißig Menschenrechtsaktivist/innen ermordet worden. Das ist laut den Vereinten Nationen die höchste Zahl in ganz Lateinamerika. Sie werden ermordet, weil sie ihre Gemeinschaft schützen wollen und sich gegen das organisierte Verbrechen zur Wehr setzen.

„Ich wollte kein Opfer sein“

Mayerlis war schon in ihrer Kindheit rebellisch. Angesichts der Ungerechtigkeiten, die sie sah, konnte sie nicht schweigen. Ihr soziales Bewusstsein und den Wunsch, anderen zu helfen, hat sie schon ihr Leben lang. Dass Paramilitärs vor fast drei Jahrzehnten im Departamento Montería ihre Mutter verschleppten, als Mayerlis gerade mal dreizehn Jahre alt war, hat diese Eigenschaften nur verstärkt. „Mir war klar, dass ich nicht schweigen konnte. Und ich wollte kein Opfer sein. Das war das Erste, was ich begriff“, so Mayerlis. „Mein Vater befahl uns, zu sagen, dass unsere Mutter gestorben sei, damit sie nicht auch noch uns holten. Ich sagte Nein und fand, man müsse sagen, dass die Paramilitärs sie mitgenommen hätten. Für meinen Vater war das schrecklich, weil ihm das Angst machte.“

Ein paar Jahre später erfuhr Mayerlis mehr über die Dynamik des Konflikts in Kolumbien, über die Entmenschlichung, die Vertreibungen und die Verschwundenen. Sie fing an, häufiger Zeitung zu lesen und Nachrichten zu schauen und ein Bewusstsein dafür zu entwickeln. Sie wollte immer Jura studieren, doch als ihre Mutter verschleppt wurde, mussten sie aus ihrem Heimatort fliehen und in einem anderen Dorf wieder von vorn anfangen. Es war nicht leicht für ihren Vater, wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen.

Die Stiftung bietet 840 Frauen Unterstützung

Ein paar Tage nach dem Massaker von El Salado im Jahr 1997, einem der gewalttätigsten Verbrechen, die Kolumbien je erlebt hat, beschloss Mayerlis, die Stiftung Narrar para Vivir zu gründen, mit der sie achthundertvierzig Frauen Unterstützung bietet, die Opfer des Konflikts wurden. „Ich wollte, dass die Opfer einen Ort haben, an den sie gehen können, dass sie wissen, was sie tun sollen und wie man die Verbrechen zur Anzeige bringt. Die Menschen sollten erfahren, dass man den Frauen das Leben zur Hölle machte. Dass sie viele Frauen folterten, vergewaltigten und versklavten. Wir fingen an, die Dinge gemeinsam an die Öffentlichkeit zu bringen.“

Die Arbeit mit der Stiftung verstärkte den Wunsch in Mayerlis, Jura zu studieren. „Das war immer mein Traum. Als sie meine Mutter verschleppten, haben sie mir nicht nur sie, sondern auch die Möglichkeit, zu studieren, genommen.“ Aber sie hat nicht aufgegeben, und viele Jahre später, mit fünfunddreißig und getrennt von ihrem Mann, mit der Verantwortung für drei Kinder und die Stiftung, begann sie ihr Jurastudium. „2012 wurde ein Attentat auf mich verübt. Das hat mich nachdenklich gemacht. Ich habe immer für andere gearbeitet, aber wo waren meine Träume geblieben? 2016 bin ich nach Barranquilla gegangen und habe mich in der juristischen Fakultät eingeschrieben. Ich dachte: Wenigstens habe ich meine Zulassung als Anwältin, wenn sie mich eines Tages umbringen.“ Im Juni machte sie als eine der Besten ihres Jahrgangs ihren Abschluss.

„Ich will, dass sie die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen.“

Für Mayerlis war die Zeit des Lockdowns besonders lang. Am 22. Januar hatte sie einen Anruf von der Staatsanwaltschaft erhalten, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass wahrscheinlich die Überreste ihrer Mutter – die sie nach Jahren der Suche nicht mehr zu finden gehofft hatte – aufgetaucht seien. Man fand eine Übereinstimmung mit der DNA von Mayerlis. „Ich fühle mich privilegiert, weil es wichtig ist, damit abzuschließen und zu wissen, dass ich jetzt trauern kann“, sagt sie unter Tränen. Sie weiß noch nicht, wann sie ihre Mutter endlich begraben und somit einen Ort haben wird, wo sie Blumen niederlegen und ihrer gedenken kann. Denn die Pandemie hat alles zum Stillstand gebracht, außer Mayerlis’ Hoffnung, ihre Mutter begraben zu können. „Es war immer eine Wunde in meinem Herzen und ich hatte die ganze Zeit den sehnlichen Wunsch, meine Mutter zu finden. Das Begräbnis wird das Nächste sein und auch, den Mördern ins Gesicht zu sehen. Ich empfinde keinen Hass, aber ich will, dass sie die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen.“

Aus dem Spanischen übersetzt von Susanna Mende.

Dieser Artikel erschien zuerst bei El Espectador.