Organisierter Antifeminismus in der Türkei – Eine Momentaufnahme

Antifeministische Diskurse und Hassreden gegen LGBTIQ-Personen gehören seit jeher zu den gängigen Praktiken politisch aktiver, islamistischer und nationalistischer Gruppen in der Türkei. Die Transformation dieser gelegentlichen Angriffe in eine organisierte Bewegung ist jedoch ein vergleichsweise neues Phänomen.

Turkish Flag

Eine solche Gegenbewegung trat das erste Mal im Rahmen der Kampagne „Mein Körper. Meine Entscheidung!“ feministischer Gruppen in Erscheinung, die sich mit zahlreichen progressiven Frauenorganisationen in der Türkei zusammengetan und erfolgreich gegen gesetzliche Vorstöße, Abtreibungen zu kriminalisieren, protestiert hatten.1

Die Antifeminist*innen haben in den letzten zwei Jahren ihre Aktivitäten verstärkt, da in dieser Zeit sowohl das Weiterbestehen der AKP-Herrschaft in der Türkei, als auch die reibungslose Funktionsweise der sozio-ökonomischen Ordnung stark unter Druck geraten sind. Seitdem hat diese organisierte Bewegung beträchtliche Lobbymacht in der und über die Regierungspartei gewonnen. Der vorliegende Artikel möchte die Hauptakteur*innen der antifeministischen Bewegung in der Türkei skizzieren: Dazu werden grob ihr ideologisches Rüstzeug sowie einige erste Hinweise auf ihre sozialen Hintergründe präsentiert. Dabei greift der Artikel auf die heuristische Kategorisierung von Janet Chafetz und Anthony Dworkin aus den 1980er Jahren zurück, um die Besonderheiten der antifeministischen Bewegungen in sich verändernden sozio-ökonomischen Kontexten zu analysieren.2

Laut Chafetz und Dworkin besteht eine antifeministische Bewegung im Allgemeinen aus zwei Arten von Gruppen: Die erste setzt sich üblicherweise aus den dominanten Machteliten zusammen, gegen welche die feministischen Bewegungen kämpfen. Diese Gruppen vertreten die Besitzstandsrechte der führenden politisch-wirtschaftlichen Akteur*innen und des religiösen Establishments/Klerus. Die oberste antifeministische Strategie dieser Gruppen ist in erster Linie pragmatisch ausgerichtet. Ein Grund dafür ist, dass die reibungslose Funktionsweise des politischen Systems, das ihre Interessen fördert, von der allgemeinen öffentlichen Meinung abhängt, und die öffentliche Meinung befürwortet nicht immer und notwendigerweise antifeministische Maßnahmen. Dies gilt sogar in Ländern wie der Türkei, wo der soziale Konservatismus recht wirkmächtig ist.3

Die zweite Gruppe ist nicht so leicht zu fassen und besteht aus Freiwilligen (Laien) aus der Zivilgesellschaft, die mit den Aktivist*innen der feministischen Bewegung üblicherweise den gleichen gesellschaftlichen Hintergrund teilen. Diese Gruppen versuchen typischerweise, „die Uhr zurückzudrehen“ oder fordern – wie im Falle der Türkei – die Rücknahme der staatlichen Politiken, die Frauenrechte begünstigen. Angetrieben werden sie durch die Angst vor dem Verlust ihres persönlichen oder kollektiven Status und durch Frustration in Bezug auf ihnen fehlendes „Humankapital.“ Sie neigen dazu, sich vorwiegend auf einzelne Themen zu fokussieren, was an mangelnder Klassenhomogenität zwischen den beiden vorbenannten Arten von Gruppen leigt, welche die antifeministische Gegenbewegung bilden4. Der letzte Punkt ist besonders bedeutsam für die Situation in der Türkei, wo der organisierte Antifeminismus große interne Verwerfungen mit sich bringt. Kurz gesagt, können die Beziehungen zwischen den beiden oben skizzierten Gruppen, die eine Gegenbewegung bilden, nicht als selbstverständlich hingenommen werden, da sie die sozio-ökonomischen und politischen Realitäten widerspiegeln, die diese Gegenbewegung permanent verändern bzw. herausfordern.

In der Türkei sind die ressourcenbasierten und ideellen Transaktionen zwischen den beiden antifeministischen Gruppen sowohl intensiv als auch fragil. Sie haben einen starken gemeinsamen Nenner: Eine gender-feindliche Agenda, die jedweden menschenrechtsbasierten Einwand gegen die binäre Geschlechterordnung und die patriarchale Heteronormativität in der Türkei mit westlichem Kapitalismus und Kolonialismus in Verbindung bringt.

Diese Gemeinsamkeit trägt jedoch nicht immer dazu bei, die zugrunde liegenden Unterschiede zu überwinden. Die Zwietracht zwischen dem Elite- und dem Laien-Antifeminismus führt zu weiteren Komplikationen für das politische Regime in der Türkei, das permanent zwischen diesen beiden unterschiedlichen antifeministischen Projekten und gesellschaftlichen Wählendenschaften hin und her pendelt.

Die Interessengruppen und das Narrativ der Gender-Komplimentarität

Trotz der Einführung der wirtschaftlichen Liberalisierungspolitik Anfang der 1980er Jahre hat sich die Geschlechterordnung in den städtischen Regionen der Türkei, welche weitgehend auf einer männlich dominierten Familie basiert (männlicher Geldverdiener, weibliche Haushälterin), nicht dramatisch verändert. Nichtsdestotrotz ist in der Zwischenzeit, insbesondere bei jungen Frauen, der Wunsch nach Selbstentfaltung gewachsen, welcher ununterbrochen durch patriarchale, sozio-politische Strukturen und einen geschlechterdiskriminierenden Markt behindert wird.5

Auch die verstärkte Beteiligung des türkischen Staates am globalen Frauen-Menschenrechtssystem – dank des wirksamen Kampfes der feministischen Bewegung in der Türkei während der AKP-Regierungen seit 2002 – hat zu einer Verbreitung der Ideen von Geschlechtergleichstellung und Stärkung der Frauen in unterschiedlichen Phasen der sozialen und wirtschaftlichen Organisation geführt – auch wenn diese Ideen meist auf der Ebene von Lippenbekenntnissen geblieben sind. Dieser feministische Menschenrechtsaktivismus hat zur Entstehung einer neuen Generation von Frauen beigetragen, die sich weigern, ausschließlich in die Privatsphäre abgedrängt zu werden und die gleichzeitig dafür kämpfen, den öffentlichen Raum zu transformieren. Jüngste Umfragen zeigen, dass sich diese Frauen feministische Ideale aneignen, und in vielen Fällen beschränken sich diese Ideale nicht nur auf die säkularen Öffentlichkeiten der Türkei. Die neue Generation von muslimischen Frauen tritt in Bezug auf ihre Rechte äußerst entschlossen auf und übertritt zahlreiche Grenzen, die ihr in der Vergangenheit durch ihre eigenen Gemeinschaften auferlegt wurden.

Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass dadurch eine Art Gender-Panik in der islamischen Elite des herrschenden Blocks in der Türkei ausgebrochen ist. Diese Elite ist bereits daran gescheitert, die kulturelle Hegemonie über die säkularen Teile der Gesellschaft zu sichern und hat nun größte Sorge, ihre kulturelle und ideologische Vormachtstellung in den eigenen konservativen, gesellschaftlichen Wählendenschichten zu verlieren. Ihr Wunsch ist es, die gesellschaftliche Transformation zu bewältigen, indem sie zur Schaffung einer neuen, selbstbewussten Generation von jungen Frauen (und Männern) beiträgt, ohne die eigenen Klassen- und Machtinteressen zu gefährden. Zu diesem Zweck tritt die wohlhabende Elite des neuen Regimes für ein Gegen-Gender-Narrativ ein, das leicht vom Antigenderismus und Antifeminismus der nebulösen Laiengruppen abweicht.6

Diesen in Panik geratenen Gruppen zufolge gäbe es zwei Themen, die konfrontativ angegangen werden müssten: Zum einen ginge es um den sich verändernden Lebensstil von jungen muslimischen Frauen; zum anderen ginge es um ihre sich verändernde(n) politische(n)/ideologische(n) Gesinnung(en). In öffentlichen Diskussionen, die von den islamistischen Intellektuellen geführt werden, welche der herrschenden Macht nahestehen, wird im Allgemeinen angeführt, dass die jungen muslimischen Frauen weniger religiös seien und persönliche Sicherheit in post-säkularen / post-islamistischen Gebräuchen suchten. Mit anderen Worten seien die neuen Lebensgewohnheiten vieler junger Frauen aufgrund der rasanten Ökonomisierung in der Türkei zu einem zentralen Anliegen für die eher traditionellen islamischen Denker*innen – einschließlich einiger prominenter muslimischer Feuilletons – geworden.7 Die andere, damit einhergehende Sorge in Bezug auf die sich verändernde(n) politische(n) Gesinnung(en) lässt sich an diesem aggressiven Vorwurf einer antifeministischen Medienikone festmachen: „Der Zorn verschleierter Frauen richtet sich jetzt gegen die Männer und nicht gegen die Säkularist*innen“.8 Insgesamt hat die der Regierung nahestehende islamistische Elite Angst davor, die ethisch-politische Kontrolle über die wachsenden geschlechterbezogenen gesellschaftlichen Spannungen gänzlich zu verlieren.

Entsprechend dieser Gender-Panik lässt sich ebenso beobachten, dass viele Frauenorganisationen, die unmittelbar mit der Regierung von Präsident Erdoğan verbunden sind, versuchen, eine alternative Geschlechter-Ideologie anzuregen, während sie sich gleichzeitig ausdrücklich vom Feminismus distanzieren. Ungeachtet ihrer kleinen internen Differenzen versuchen Organisationen wie KADEM and HAZAR, diese junge Generation muslimischer Frauen und ihre Forderung nach einer gleichberechtigteren ehelichen Beziehung zu repräsentieren. Einerseits wollen sie die Institution Familie fördern, die von der AKP als Wiege der islamisch-anatolischen Zivilisation angesehen wird, und kritisieren die feministische Bewegung offen dafür, dass sie „Individualismus über unsere [sic] sozialen Werte“ stellten.9 Andererseits wollen sie die Institution Familie reformieren, insbesondere die Rolle von Männern in der Familie. Zum Beispiel fordern sie eine „verantwortungsvollere Vaterschaft“ und kritisieren gleichzeitig das von den Massenmedien verbreitete Ideal der makellosen Mutterschaft, das „anstatt zu überzeugen”, Frauen davon abhalte, „Kinder zu zeugen.”10 Um ihrer Sache Ausdruck zu verleihen, versuchen sie, das Konzept der Geschlechterkomplementarität zu befördern, indem sie sich auf das „goldene Zeitalter des Islam“, wie sie es nennen, beziehen. Diesem Ansatz folgend, dient das Zeitalter des Propheten Mohammed als Inspiration für ihre Aussichten auf eine harmonische eheliche Einheit zwischen einem verantwortungsvollen und beschützenden Mann und einer gestärkten, aber dennoch bescheidenen Frau. Unter dem Begriff ‚Stärkung der Frauen‘ verstehen diese Organisationen weitestgehend die Förderung der unternehmerischen Fähigkeiten von Frauen – eine Haltung, die ihren eigenen (klein)bürgerlichen Klassenhintergrund widerspiegelt.

Dieser modernisierte Konservatismus schützt diese Frauenorganisationen jedoch nicht vor Angriffen der antifeministischen Laiengruppen, die ihnen vorwerfen, sich nicht klar von den „Feminazis“, wie sie sie nennen, in der Türkei abzugrenzen.11 Andererseits ist die Haltung dieser Frauenorganisationen gegenüber den Laiengruppen zweideutig. Obgleich sie ihren vulgär-maskulinistischen Kampagnen kritisch gegenüberstehen, machen sie ihnen in hitzigen politischen Momenten umfassende Zugeständnisse. Immer wenn beispielsweise der feministische Kampf für Geschlechtergleichstellung in die Schlagzeilen in der Türkei gerät, versuchen sich diese Frauenorganisationen davon so weit wie möglich zu distanzieren. Sie werfen dann den Feminist*innen vor, den „lokalen und kulturellen Werten“ der Türkei feindlich gegenüberzustehen, und schlagen sich bei derartigen Gelegenheiten auf die Seite der Laiengruppen.

Außerdem stellen die Elitegruppen den Laiengruppen handfeste Ressourcen zur Verfügung. Hierzu gehört der nepotistische Zugang zu öffentlichen Gütern, wenn sie konkrete politische Ziele erreichen wollen, wie zum Beispiel in Zeiten von Wahlkämpfen oder akuten Staatskrisen. Insbesondere seit dem 15. Juli 2016, dem gescheiterten Putschversuch, lässt sich ein solches Verhalten in der Türkei beobachten. Dieser offenbarte die Abhängigkeit der AKP-Elite von männlichem, aber auch weiblichem Vigilantentum auf Straßenebene, um an der Macht zu bleiben.

Nebulöse Gruppen und Anti-Genderismus unter dem Deckmantel des Antikapitalismus

Das Entstehen einer organisierten Gegenbewegung in der Türkei wurde in erster Linie durch die Mobilisierung verschiedener kleiner, aber auch mehrerer virtueller Vereinigungen sowie durch die Unterstützung einiger Zeitungen, die klar artikulierte islamistische Absichten verfolgen, möglich. Diese Zeitungen haben organische Verbindungen zu unterschiedlichsten religiösen Sekten. Ihr politischer Islamismus ist auch in verschiedenen Gesellschaftsschichten fest verankert.12 Im Falle der radikalen islamistischen Zeitung, Yeni Akit, die fortwährend dabei ist, die antifeministische Mobilisierung in der Türkei zu befeuern, sollten die sozio-politischen Verbindungen mit einem existierenden, manchmal aber auch imaginären männlichen Subproletariat nicht vergessen werden.13 Akit und andere ähnliche Medien beflügeln beständig einen nativistischen, populistisch-maskulinistischen Diskurs. Sie argumentieren dabei, dass der türkische Staat die Frauen schütze und dabei die familiäre Einheit beschädige, und dass er ausländisch-finanzierte Frauenorganisationen und reiche feministische Anwält*innen unterstütze und gleichzeitig die „armen Männer“ bestrafe und kriminalisiere.

Die vorgeblichen Forderungen dieser Gruppen ranken sich um die Vorstellung, den Männern „Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“, da diese angeblich unter den im Westen geltenden gesetzlichen Maßnahmen – z.B. Sorgerecht, Recht auf Unterhaltszahlung und Kriminalisierung von Minderjährigenehen - litten, welche vermeintlich die Frauen bevorrechteten.

Nichtsdestotrotz sind die Wortführenden dieser Gruppen nicht ausschließlich Männer. Tatsächlich sind auch viele Frauen in diesen Gruppen aktiv, die sich häufig auf Plattformen organisieren, die sich nur mit einem einzelnen Thema befassen, zum Beispiel The Platform of Divorced People and Family Initiative (Plattform für Geschiedene und Familieninitiative). Diese Frauen kritisieren, dass sie sich durch die Frauenorganisationen in der Türkei nicht repräsentiert fühlen, einschließlich der regierungsfreundlichen Gruppen wie KADEM. Sie behaupten, dass sie durch das Fehlen eines „Sozialstaats“ in der Türkei dazu gedrängt würden, für die Rechte der „männlichen Opfer“ des türkischen „ungerechten Geschlechterrechtssystems“ einzutreten.14 Wenn zum Beispiel ein geschiedener Mann erneut heirate, leide ihrer Meinung nach auch seine neue Frau unter der Ungerechtigkeit des türkischen Unterhaltsrechts, das „diesen Mann als Haupteinkommensquelle für seine Ex-Frau“ betrachte.

Diese Gruppen, einschließlich ihrer weiblichen Mitglieder, werfen dem Staat vor, vor dem Genderprojekt aus „Brüssel“ zu buckeln. Brüssel sei eine Kolonialmacht, die darauf aus sei, das familienbasierte soziale Unterstützungssystem in der Türkei zu zerstören. Den Feminist*innen wird vorgeworfen, Kompradoreni zu sein. Diese Rhetorik ist allerdings weder die stärkste noch die neueste Komponente der antifeministischen Mobilmachung in der Türkei. Den Feminismus als westliche Ideologie darzustellen, ist ein alter maskulinistischer Trick im Kontext des Nahen Osten. Das Neue an der aktuellen antifeministischen Welle ist vielmehr die spezifische Kombination aus Anti-Genderismus und einer pseudo-humanitären Kritik am globalen Kapitalismus.

Einige islamistische Intellektuelle in der Türkei, die regelmäßig zwischen den Interessengruppen und den Laiengruppen hin und her navigieren, behaupten, dass „Brüssel“, „die USA“ und transnationale Unternehmen gemeinsam versuchten, die heterosexuelle Familie zu demontieren. Sie meinen, dass diese Akteur*innen „den globalen Bevölkerungsüberschuss kontrollieren woll[t]en, der die Zukunft des kapitalistischen Systems” gefährde.15 Demzufolge sei der Einschluss von queeren Menschen in den Schutzbereich des türkischen Staates durch eine Erweiterung des Geschlechterkonzepts eine Kernkomponente dieses größeren Plans. Der Plan ziele darauf ab, die Weltbevölkerung durch Schaffung nicht-zeugungsfähiger Familien zu dezimieren. Hinzu kommt, dass die antikapitalistische Kritik neben ihrer rechtsextremen, populistischen Wirkung auch dazu dient, die technophoben, maskulinistischen Ängste der Laiengruppen zu kaschieren. Diese Gruppen artikulieren außerdem Bedenken gegenüber den Methoden der assistierten Reproduktion, die Frauen ihrer Meinung nach bald die Möglichkeit gäben, sich ohne die Beteiligung von Männern fortzupflanzen.16

Der ausschließlich als moralische Kritik an der Marktgesellschaft formulierte Antikapitalismus ist seit jeher ein Baustein der politisch-islamistischen Ideologie. Die islamistischen Debatten konzentrieren sich üblicherweise auf die Kommodifizierungs- und Ökonomisierungsprozesse aus moralischer Sicht und erachten sie als destruktiv für die Würde der Frauen. Was genau den antikapitalistischen Ton der aktuellen antifeministischen Mobilmachung funktionsfähiger macht, ist die Tatsache, dass er durch die wachsenden Auswirkungen der Wirtschaftskrise in der Türkei zu einem Instrument geworden ist, das nicht nur zur Mobilisierung von Laien eingesetzt wird, sondern auch um Brücken zwischen den beiden Hauptgruppen des organisierten Antifeminismus zu bauen. Die Verbindung von moralischer Kritik an der Marktgesellschaft und Anti-Genderismus sowie die Entwicklung einer pseudo-humanitären Kapitalismuskritik haben die Reihen zwischen den islamischen bzw. muslimischen Intellektuellen, die eine Gender-Panik erfasst hat, und den Laiengruppen, die eine kompromisslose „Wiederherstellung des Maskulinismus“ herbeisehnen, praktisch geschlossen”.17

Erst kürzlich haben auch die Laiengruppen das Spektrum ihrer Angriffe auf den sogenannten „feministischen Staat“ in der Türkei ausgeweitet und begonnen, über einzelne Themen hinausgehende, antifeministische Kampagnen strategisch aufzusetzen – wie beispielsweise die vorbenannte Kampagne gegen Unterhaltszahlungen. Sie behaupten, dass der türkische Staat seit Ende der 1970er / Anfang der 1980er Jahre Teil der westlich-geprägten Geschlechterordnung ist. Deshalb nehmen sie nicht nur die von der Türkei 2012 ratifizierte Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Häuslicher Gewalt ins Visier, sondern verurteilen auch die Unterstützung der UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) durch den türkischen Staat seit 1984. Um dem entgegenzuwirken, plädieren sie für den Austritt aus den bestehenden Konventionen.

Diese Rückzugsmöglichkeit klingt jedoch in den Ohren der Elitegruppen überaus problematisch und nicht einfach umsetzbar, aufgrund des potenziellen Prestigeverlusts, den Präsident Erdoğan international erleiden könnte. Daher werden sie von bestimmten Straf- und Zivilrechtsanwält*innen, die in jüngster Zeit häufig an den Zusammenkünften und Treffen der Laiengruppen teilnehmen, alternativ zu einem Positionskampf herausgefordert. Gemäß dieser Perspektive könne sich nur ein moralisch integerer und selbstsicherer Mann – ein Mann, der nach dem Vorbild seiner „türkisch-islamischen“ Vorfahren handle – gegen das „feministische Regime der Überwachung und Kriminalisierung“ zur Wehr setzen, das von den internationalen frauenfreundlichen Konventionen befördert werde. Männern wird geraten, das bestehende gesetzliche Geschlechtergleichstellungssystem klug und geschickt einzusetzen (ohne es notwendigerweise abzuschaffen), um ihre eigenen persönlichen, männlichen Interessen voranzubringen. Es wird suggeriert, dass sich „die proletarischen Männer“ gegen „die feministische Ideologie, die sie verarmen [lasse], da ihr Vermögen auf ihre ungehorsamen Hausfrauen übertragen“ werde, durchsetzen könnten, wenn sie Schläue und moralische Entschlossenheit an den Tag legten.18

Eine Art Schlussfolgerung

Wie bereits oben erwähnt, sind die Verbindungen zwischen den Interessengruppen und den Laiengruppen in der Türkei wackelig und konfliktreich. Vor diesem Hintergrund üben die Laiengruppen großen Druck auf die AKP-Mitgliedsbasis aus, indem sie mit dem Entzug der politischen Unterstützung drohen. Um die Wirksamkeit ihres Drucks weiter zu erhöhen, versuchen sie, arbeitslose junge Männer aufzuhetzen. Zu diesem Zweck weisen sie auf die Widersprüche hin, zwischen dem programmatischen Insistieren der Regierung, die Zahl der Eheschließungen zu erhöhen, und den sozio-ökonomischen Realitäten, welche die Menschen in der Türkei mutmaßlich vom Heiraten abhielten. Während sich die sozio-ökonomischen Bedingungen verschlechtern und die Stabilität des autoritären Regimes zu bröckeln scheint, wächst die Abhängigkeit der dominanten Gruppen von den Laiengruppen. Diese Situation ebnet den Weg für eine breite Etablierung des Antifeminismus im staatlichen Diskurs und in der Politik.

Dennoch unterliegen Staatsgebilde und Staatsumbildung in der Türkei einem äußerst dynamischen Prozess. Einerseits forciert die herrschende Macht das antifeministische Zunichtemachen der kürzlich unternommenen Schritte zur Gleichstellung der Geschlechter in der Türkei. Andererseits ist der Widerstand dagegen nicht zu verachten.

Die Frauenbewegung in der Türkei gibt nicht auf. Der beeindruckende Widerstand von Frauen in der Türkei verdient es, weiterhin umfassend diskutiert zu werden, was der vorliegende Artikel in der Kürze nicht leisten kann.

 


1 Eine kurze Diskussion zur Geburtsstunde des Antigenderismus in der Türkei und seine Beziehung zum neoliberalen, neokonservativen Projekt der AKP findet sich bei: Özkazanç, A., 2019. The New Episode of Anti-Gender Politics in Turkey. LSE Blogs in Anti-Gender, [online]. Abrufbar unter: https://blogs.lse.ac.uk/gender/2019/05/20/new-episode-anti-gender-turkey/

2 Chafetz, J.S. und Dworkin, A.G., 1987. In the Face of Threat: Organized Antifeminism in Comparative Perspective. Gender & Society1(1), SS. 33-60.

3 Jüngste Studien herausragender Sozialforschungszentren zeigen, dass die öffentliche Wahrnehmung von Geschlechtergleichstellung unter Frauen und Männern in der Türkei positiv voranschreitet. Siehe hierzu auch die öffentlichen Umfragen des Kadir Has University’s Gender and Women's Studies Research Centre, “The Perception of Gender Equality and Women’s Status in Turkey”. Abrufbar unter: https://khas.edu.tr/tr/haberler/toplumsal-cinsiyet-ve-kadin-algisi-arastirmasi-2019-sonuclari-aciklandi.

4 Chafetz und Dworkin. “In the Face of Threat”, SS. 37-38.

5 Eine Diskussion zur Brisanz der Widersprüche zwischen libertären Jugendlichen / Frauen und dem bröckelnden paternalistischen / patriarchalen Geschlechtervertrag in der Türkei findet sich bei: Yakın Ertürk, Sınır Tanımayan Şiddet: Paradigma, Politika ve Pratikteki Yönleriyle Kadına Şiddet Olgusu (İstanbul: Metis, 2015).

6 Eine kurze Abhandlung zum Gegen-Gender Narrativ der AKP-Prominenz im Vergleich zu anderen Beispielen aus Europa findet sich bei: Selin Çağatay, “Varieties of anti-gender mobilizations. Is Turkey a case?”, LSE Blog zu Anti-Genderismus, 29. Januar 2019, https://blogs.lse.ac.uk/gender/2019/01/09/varieties-of-anti-gender-mobilizations-is-turkey-a-case/.

7 Siehe auch: Fatma Barbarosoğlu, “DİB hiç bilmediği hayatlara vidyo hazırlıyor, Instatürban kadınlar coşuyor”, Yeni Şafak, 20. November 2019, https://www.yenisafak.com/yazarlar/fatmabarbarosoglu/dib-hic-bilmedigi-hayatlara-vidyo-hazirliyor-instaturban-kadinlar-cosuyor-2053409.

8 Sema Maraşlı, “Kadem Söylemleriyle İslam Düşmanı Kadın Dernekleriyle Yarışıyor”, İslami Analiz, 2. May 2019, http://www.islamianaliz.com/h/71958/sema-maraslidan-sert-elestiri-kadem-soylemleriyle-islam-dusmani-kadin-dernekleriyle-yarisiyor.

9 Siehe auch die Eröffnungsrede der KADEM-Vizevorsitzenden und Tochter von Präsident Erdoğan, Sümeyye Erdoğan, am Internationalen Frauentag 2019. Sümeyye Erdoğan, Açılış Konuşması, Kadem, 9. März 2019, https://kadem.org.tr/kadem-yonetim-kurulu-baskan-yardimcisi-sumeyye-erdogan-bayraktarin-iii-olagan-genel-kurulu-acilis-konusmasi.

10 Siehe auch „6. Toplumsal Cinsiyet Adaleti Kongresi Sonuç Bildirgesi”, KADEM, 13. März 2020, https://kadem.org.tr/6_tcak_sonuc_bildirisi_aciklandi/.

11 Diese und ähnliche Hassredepraktiken finden sich auf den Webseiten islamistischer Zeitungen wie Yeni Akit. Bitte auch den folgenden Abschnitt zu Laien-Antifeminismus beachten.

12 Zu den wesentlichen Eigenschaften des Islamismus in der Türkei siehe auch: Cihan Tuğal, “Islamism in Turkey: Beyond Instrument and Meaning”, Economy and Society 31, no:1, (2002): SS. 85-111.

13 Obgleich diese radikal-islamistische Zeitung für sich beansprucht, die Unterschichten zu repräsentieren, die vermutlich am härtesten von der kapitalistischen westlichen Modernisierung in der Türkei betroffen sind, ist diese Darstellung in vielerlei Hinsicht fragwürdig: Die sozialen Gruppen, einschließlich des männlichen Subproletariats, welche sie sich anmaßen zu vertreten, nehmen ihnen ihre antifeministischen Motive nicht notwendigerweise ab.

14 Weitere Informationen zu Propagandainstrumenten derartiger antifeministischer Gruppen finden sich beispielsweise auf den sozialen Medienaccounts der Platform of Divorced People and Family Initiative [auf Türkisch: Boşanmış İnsanlar ve Aile İnisiyatifi (BİA)] oder auch unter: Birsel @BirselLknur, “Süresiz Nafaka Ne Zaman Kalkacak”, Twitter, 12. July 2020, 07.14 Uhr, https://twitter.com/BirselLknur/status/1271491083499945991.

Verweis der Redaktion: Zur Begriffserklärung für "Komprador": https://fremdworterbuchbung.deacademic.com/42526/Komprador

15 Mücahit Gültekin, “2053’te Türkiye nasıl bir ülke olacak?”, 12. Mai 2018, İslami Analiz, http://www.islamianaliz.com/h/65186/mucahit-gultekinden-2053te-turkiye-nasil-bir-ulke-olacak-yazisi-bati-tarafindan-hacklenmek.

16 Weitere Details zu diesem spezifisch antifeministischen Diskurs finden sich in den Propagandamaterialien, Presseerklärungen und Publikationen des Family Council of Turkey [auf Türkisch: Türkiye Aile Meclisi], which are mostly available on the internet site of the İlke News Agency, https://ilkha.com/tag=t%C3%BCrkiye%20aile%20meclisi.

17 Zum Konzept der “maskulinistischen Wiederherstellung“ siehe auch: Deniz Kandiyoti, “Locating the politics of gender: Patriarchy, Neo-liberal Governance and Violence in Turkey”, Research and Policy on Turkey 1, no: 2 (2016): SS. 103-118.

18 Diese und andere, ähnliche „Vorbildmann“-Ratschläge finden sich auch bei: Lütfi Bergen, “Erkek (racul) Olmak: Feminizme Direnmek”, Lütfi Bergen’s Blogspot, 10. März 2020, https://www.lutfibergen.com/category/feminizm.