Über verschlossene Türen

Kommentar

Viele haben nach Hanau behauptet, die AfD habe mitgeschossen. Die AfD hat strukturellen Rassismus und die Diskursverschiebung nach rechts aber nicht erfunden. Über verschlossene Türen als alltägliche migrantische Erfahrung und über rassistisches Framing in den Medien, wo Shisha-Bars zum Kampfbegriff politisiert und rechter Terror und rechte Gewalt zu Einzelfällen entpolitisiert werden, schreibt Nima Sorouri in seinem Kommentar.

Für den rechtsterroristischen Mordanschlag in Hanau am 19. Februar 2020, bei dem insgesamt zehn Menschen getötet wurden, ist natürlich nur der rassistische Täter selbst verantwortlich. Dennoch ist die Tat in einem gesellschaftlichen Kontext zu betrachten, sowie auch der Täter in einem aufgestachelten Klima endgültig die Entscheidung traf, dass aus seiner Sicht nun die Zeit gekommen sei, möglichst viele Migrant*innen in einem Shisha-Café zu ermorden.

Vielleicht versinnbildlicht dieses Klima und den gesellschaftlichen Kontext nichts eindrücklicher, als die versperrte Tür des Notausgangs in dem Shisha-Café, in dem der Täter seine Grausamkeit vollstreckt hat. Eine mutmaßlich polizeilich angeordnete Verriegelung des Fluchtweges, die es für die Gäste des Cafés unmöglich machte, den gezielten Tötungen zu entkommen. Angeblich sollte mit der Verriegelung der lebensrettenden Fluchtwege verhindert werden, dass Gäste des Cafés bei Polizeikontrollen die Flucht ergreifen. Sollte sich das bewahrheiten, wurde von Seiten der Sicherheitsbehörden also wissentlich in Kauf genommen, dass im Katastrophenfall Menschen sterben würden.

Neben der erhöhten Brandgefahr waren Shisha-Cafés auch schon vor dem Anschlag in den Fokus rechter und rassistischer Hetze geraten. Immer wieder gab es rassistische Angriffe und Pöbeleien in und um Shisha-Bars an vielen Orten im ganzen Bundesgebiet. Auf die Idee, dass sich hieraus ein erhöhtes Gefahrenpotenzial für rechtsradikale Attacken ergeben könnte, ist jedenfalls die hessische Polizei nicht gekommen.

Migrantischer Alltag in Deutschland

Doch diese verschlossene Tür steht für mehr. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch die verschiedenen Stationen und alltäglichen Erfahrungen migrantischen Lebens in Deutschland. Verschlossene Türen für Menschen auf der Flucht, die sich auf den Weg machen mussten für ein Leben ohne Terror, Gewalt und Perspektivlosigkeit. Menschen, die Freundschaften, Familien, Hab und Gut zurücklassen mussten für ein Leben ohne ständige Angst, stehen irgendwann vor den verschlossenen Türen der Festung Europa.

Sie harren, ignoriert von der Welt, von der sie geträumt haben, unter erbärmlichsten Bedingungen aus und warten, dass sich diese Tür doch noch öffnet. Die wenigen, die dieses Glück hatten, stehen bald schon vor den nächsten verschlossenen Türen. Mangelhafte Jobaussichten, schlechtere Schulformen und Bildungsperspektiven. Doktortitel aus dem Herkunftsland nicht anerkannt und dann mit etwas „Glück“ Taxifahrer*in in Köln?

Das bleibt sogar über Generationen. Noch die Kinder in der zweiten, dritten, vierten Generation leben mehrheitlich in „ärmeren“ Stadtteilen, erhalten eine schlechtere Bildung, kommen seltener auf die Universität, landen in schlechter bezahlten und unsichereren Jobs. Und andersherum ziehen sich privilegierte Weiße aus entsprechenden Stadtteilen, Kitas, Schulen zurück, weil sie „nur das Beste“ für ihre eigenen Kinder wollen. Sie verstehen sich in der Regel nicht als Rassist*innen. Sie möchten eben „nur“ nicht, dass ihr Kind hinterher ist im Wettbewerb um eine lebenswerte Zukunft, die eben nicht für alle vorgesehen ist.

Das Problem sitzt tief und ist in allen gesellschaftlichen Bereichen verankert. Es heißt struktureller Rassismus. Neben PISA und zahlreichen weiteren wissenschaftlichen Studien, die auf all diese verschlossenen Türen bereits seit Jahrzehnten hinweisen, gibt es auch migrantische Kulturschaffende, Journalist*innen, Künstler*innen, Filmemacher*innen, Rapper*innen, die seit der Zeit der ersten Gastarbeiter*innen-Generation ihre Geschichten über Rassismus und Ungleichheit erzählen.

Es sind Geschichten über Deutschland. Es sind Geschichten, die es aber oft nicht in den Mainstream-Kanon schaffen und wenn sie es schaffen, dann müssen sich die Autor*innen nicht gerade selten meist von privilegierten weißen Männern anhören, sie würden sich nur vermarkten oder den Rassismus halluzinieren. Verschlossene Türen eben. Auch in den Köpfen.

Ein halbes Jahr nach dem Anschlag in Hanau wurde am Abend vor der geplanten Trauerfeier und Demonstration den Organisator*innen gesagt, dass die Veranstaltung wegen Corona nicht in geplanter Form stattfinden dürfe, obwohl das Hygienekonzept gemeinsam mit der Stadt entwickelt worden war. Wie werden sich die trauernden Angehörigen der Opfer gefühlt haben, wenn sie dann die Bilder tausender Corona-Leugner*innen ohne Masken und ohne Abstand in den Abendnachrichten gesehen haben? Parallelgesellschaft eben. Die eine mit weit geöffneten Türen und die andere steht vor verschlossenen.

Von Shisha-Bars und Clankriminalität

Shisha-Cafés können im migrantischen Leben eine wichtige Rolle spielen. Hier treffen Menschen, die gerade in Deutschland angekommen sind, auf Leute, die bereits in der zweiten, dritten, vierten Generation hier sind, sowie auf Menschen ohne Migrationsgeschichte. Für Viele ist es ein Ort, an dem der Alltagsfrust, der Stress von der Arbeit einfach mal vergessen werden kann.

Leute treffen aufeinander, hängen miteinander ab. Der orientalische Look, der Geruch von schwarzem Tee und bestimmten Knabbereien, das Hintergrundgeräusch von Tavla und nicht zuletzt das Wohnzimmer-Ambiente, das vielen Shisha-Cafés immanent ist, wird bei den Menschen Erinnerungen wachrufen oder ein Gefühl der Vertrautheit erwecken, Sicherheit geben.

Die Midnight Bar in Hanau war einer der Tatorte des Anschlags vom 19. Februar 2020.

Ein „Safe Space“ auch für Menschen, die sich alltäglich mit misstrauischen Blicken, Zurückweisung und verschlossenen Türen konfrontiert sehen. Das Gefühl, zwar da zu sein, aber nicht richtig dazuzugehören, nicht zu genügen, egal, wie sehr man sich bemüht. Das Gefühl, „exotisch“, suspekt, nur der „Witzige“ in der Clique oder nicht selten verdächtig zu sein. All diese permanenten Begleiter können im Shisha-Café für eine Weile vergessen werden. Der Angriff in Hanau war somit auch ein Angriff auf einen der letzten möglichen Zufluchtsorte im migrantischen Alltag.

Rassistisches Framing: Shisha-Bar gleich Clankriminalität

Jahre bevor der rechtsextreme Mörder von Hanau beschließt, ein Shisha-Café anzugreifen, hatten bereits Medien „Shisha-Bars“ als Angriffsziel entdeckt. Diese Shisha-Bars werden in der Berichterstattung, viel zu oft leider auch in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, mit organisierter Kriminalität in Verbindung gebracht. Dabei werden Begriffe nicht scharf voneinander abgegrenzt, sondern ganz im Gegenteil verwischt oder gleich synonym verwendet.

Begriffe, die oft in einen Zusammenhang zu Shisha-Bars gestellt werden, sind „Clankriminalität“ und „arabische Großfamilie“. Bei letzterem schwingt noch eine gewisse Unterstellung von vorzivilisatorischen Familienvorstellungen mit. Das Problem ist nicht, das Phänomen organisierter Kriminalität zu benennen. Die stereotype Darstellung von bestimmten Ethnien und das undifferenzierte Einfügen von „Shisha-Bars“ ins kriminelle Milieu, ist dagegen schon ein Problem. Eine solche Darstellung ist gefundenes Fressen für Rechte und Rassist*innen. Von hier aus ist es im rechtsradikalen Weltbild nicht mehr weit zum legitimen Angriffsziel.

Es ist offensichtlich, dass das Wort „Shisha-Bar“ ohne besondere Differenzierung in die Nähe von kriminellen arabischen Clans gebracht werden kann, wohingegen rechtsradikale Netzwerke mit Waffen, Sprengstoff, Todeslisten und personellen Verstrickungen in die Sicherheitsbehörden und in den Staatsapparat hinein oft so lang relativiert und zerredet werden, bis am Ende doch nur Einzelfälle und Einzeltäter*innen übrigbleiben.

Auch der Mörder von Hanau wird immer wieder in Berichten und Nachrichten entsprechend eingeordnet. Im Jahresrückblick 2020 des ZDF beispielsweise wurde der Hanau-Attentäter mit keinem Wort als „rechts“ oder „rassistisch“ bezeichnet. Stattdessen wurde er „Wirrkopf“ genannt. Ein Wirrkopf ist halt eben nicht ganz bei Trost, sich vielleicht seiner Handlungen nicht mal wirklich bewusst. Ein rechter Terrorakt wird entpolitisiert. Dabei fügt sich das rassistische, verschwörungsideologische Weltbild des Hanau-Täters problemlos in die gängigen rechtsradikalen Narrative ein.

Und er stand mindestens mit seinem ebenso rassistischen und verschwörungsideologischen Vater im engen Austausch. Ist das nicht schon kein Einzeltäter mehr? Auch wird in mancherlei Berichterstattung eine „Radikalisierung im Internet“ nicht als Vernetzung gedeutet. Aber findet nicht genau diese Vernetzung von rechts Radikalisierten im Internet statt, teilweise sogar im internationalen Maßstab?

Setzt man die Berichterstattung über rechte Netzwerke und rechten Terror ins Verhältnis zu jener über Clankriminalität arabischer Großfamilien, lässt sich der Verdacht nicht mehr so leicht entschärfen, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird. Shisha-Bars werden zum Kampfbegriff politisiert. Rechter Terror und rechte Gewalt werden zu individuellen, nicht verallgemeinerbaren Einzelschicksalen entpolitisiert.

Die AfD hat die Diskursverschiebung nicht erfunden

Manche Politiker*innen und Kommentator*innen und auch einige antirassistische und linke Initiativen schrieben nach dem Terroranschlag in Hanau zurecht, dass die AfD mitgeschossen hätte. Auch wenn natürlich stimmt, dass die AfD mit all ihrer Hetze und manipulierenden Falschdarstellungen erheblich zum gesellschaftlichen Klima beiträgt, so dürfen wir nicht vergessen, dass die AfD den Islam-Hass und die Verachtung von bestimmten Ethnien nicht erfunden hat. Die AfD hat auch die Diskursverschiebung nach rechts nicht erfunden.

All das fand auch schon in den Jahren vor dem Aufstieg der AfD in unserer Medienlandschaft statt und auch heute gibt es viele Akteur*innen außerhalb der AfD, die diese Diskursverschiebung immer wieder vorantreiben. Man denke an den Bundesvorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft, den früheren Finanzsenator von Berlin, den grünen Oberbürgermeister von Tübingen. Man denke an den Bundesinnenminister, den früheren Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, an die Werteunion. Und vielleicht sogar an die Herausgeberin der Zeitschrift Emma.

Auch schon Jahre vor der Gründung der AfD drehte sich die öffentliche Debatte immer wieder um Islam, Integration, „Parallelgesellschaften“. Wenn durch die Häufigkeit eines in Talkshows gesetzten Themenfeldes Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Relevanz gezogen werden könnte, müsste man meinen, der Islam sei eines der wichtigsten Themen im Land überhaupt. Scheinbar wichtiger als Bildungsperspektiven, soziale Ungleichheit, Klimakrise, explodierende Mietpreise und Altersarmut.

Ehrenmord oder Familientragödie?

Bei der Berichterstattung über den Islam ist auffällig, dass immer wieder bestimmte gesellschaftliche Missstände wie Gewalt, Frauenverachtung, Homophobie, Demokratiefeindlichkeit oder Antisemitismus mit ihm in Verbindung gebracht werden.

Über Jahre hinweg haben Zeitungen wie etwa Der Spiegel den Islam in die Nähe von Rückständigkeit und Gewalt gestellt oder „problematisiert“, dass Menschen aus bestimmten „Kulturkreisen“ angeblich große Schwierigkeiten hätten, „unsere Wertvorstellungen“ zu teilen. Einige Journalist*innen scheinen davon auszugehen, man müsse einfach sagen, dass bestimmte Verhaltensweisen „kulturell bedingt“ seien und nicht genetisch, dann sei es auch nicht rassistisch.
Es ist in jedem Fall rassistisch. 

Auch bei manchen Gewaltverbrechen fügen Nachrichtensendungen und Zeitungen immer wieder eine Unterscheidung ein, wenn das Verbrechen in den Zusammenhang bestimmter Ethnien gestellt werden kann. „Ehrenmord“ ist so ein Beispiel. Femizide werden mit diesem Begriff in ein rückschrittliches Licht gerückt, wohingegen bei nicht-muslimischen Tätern der Mord an einer Frau aus verletztem Ehrgefühl oder Eifersucht nicht selten als „Familientragödie“ relativiert wird. Bei Ehrenmord steht der gesamte Kulturkreis am Pranger und es kochen die Gemüter. Bei einer Familientragödie ist es halt ein trauriges Einzelschicksal. Beides falsch.

Ähnlich dem Rassismus, der in der Gesellschaftsordnung verankert und strukturell ist, ist auch das Patriarchat strukturell. Bei beiden kann die systematische Ungleichheit letztlich zu Gewalt und Mord führen. Doch die strukturellen, systemischen Missstände schaffen es im medialen Diskurs leider nur selten in den Vordergrund und bleiben oft Kommentare am Rande. Lieber wird von Einzelschicksalen gesprochen. Lieber werden Frauenverachtung, Demokratiefeindlichkeit, Homophobie zu einem „Islam-Problem“ externalisiert. Auf diese Weise muss man strukturell nichts ändern und es gibt trotzdem praktischerweise Schuldige.

Nicht nur die AfD hat mitgeschossen

Genau hier nimmt die AfD ihre Arbeit auf. Sie kann die Vorlagen und rassistischen Motive aus der Berichterstattung und aus der sogenannten Mitte für sich nutzen und weiter zuspitzen. Aber diese müssen schon vorhanden sein, damit die AfD hier erfolgreich andocken kann. Aus dieser Perspektive betrachtet hat in Hanau nicht nur die AfD mitgeschossen. Der tief sitzende, strukturelle Rassismus dieser Gesellschaftsordnung, die rassistischen Framings in der Medienlandschaft und aus Teilen der Politik waren mindestens die geistigen Väter für den Hass, der zur Entscheidung führte, den Abzug zu drücken. 

In diesem aufgestachelten Klima und in Anbetracht der anhaltenden Diskursverschiebung, dem permanenten Kleinreden und Ignorieren von rechtem Terror und der zunehmenden Vernetzung von Rechtsextremen und Verschwörungsideolog*innen, ist es traurigerweise nur wahrscheinlich, dass die nächsten rechten Killer bereits in den Startlöchern sitzen. Die Hinweise dafür häufen sich. Man denke an die bewaffneten rechten Netzwerke, die Feindeslisten anlegen und sich auf „Tag X“ vorbereiten, um loszuschlagen. Man denke an NSU 2.0. oder an die 1200 bewaffneten Rechtsextremist*innen im Land. 

So utopisch das klingen mag: Alles muss sich ändern.
Es reicht eben nicht, einige Tage gemeinsam zu trauern, wenn keine grundsätzlichen Schlussfolgerungen gezogen werden. Weder politische, noch gesellschaftliche. Eine Bewegung, welche die tief sitzenden Strukturen des Rassismus und der systematischen Ungleichheit bekämpft und die verschlossenen Türen endlich eintritt, ist nicht erst seit der AfD, nicht erst seit Hanau und Halle überfällig.
Es ist längst Zeit.

Dieser Kommentar erschien zuerst auf Heimatkunde, dem migrationspolitischen Portal der Heinrich-Böll-Stiftung.