Reproduktive Gerechtigkeit – Eine Einführung

Feministische Bewegungen, die sich ausschließlich auf Abtreibungsrechte fokussieren, repräsentieren in erster Linie die Perspektiven weißer privilegierter Frauen. Reproduktive Gerechtigkeit ist eine Zusammenführung von reproduktiven Rechten und sozialer Gerechtigkeit.

Zwei sich umarmende Personen

Reproduktive Gerechtigkeit (RG) ist ein intersektionales aktivistisch-theoretisches Konzept, welches seinen Ursprung 1994 in Chicago hat. 12 Schwarze Frauen übten auf einer Pro-Choice Konferenz Kritik an einer mehrheitlich weiß geprägten feministischen Mainstream-Bewegung, die marginalisierte Perspektiven in ihrer politischen Praxis für reproduktive Rechte ausblendet(e). Im hegemonialen Diskurs standen und stehen sich die politischen Lager von Pro-Choice und Pro-Life polarisiert gegenüber, wobei ein singulärer Kampf für die Entkriminalisierung bzw. Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen im Zentrum steht. Die multiplen Formen reproduktiver Unterdrückung, von denen primär marginalisierte Communities und im Spezifischen Communities of Color betroffen sind, bleiben dabei unthematisiert.

Mehr als Pro-Choice

Zentrale und im Pro-Choice Diskurs ausgeblendete Aspekte sind zum Beispiel (globale) antinatalistische Bevölkerungspolitiken und Eugenik, die sowohl historisch als auch aktuell die Geburtenraten von marginalisierten Communities niedrig halten (sollen). Dazu gehören Sterilisierungsprogramme, von denen auf sehr unterschiedliche Weise beispielsweise Jüd:innen, Rom:nja, Schwarze, be_hinderte Menschen und sogenannte ‚Asoziale‘ im Nationalsozialismus, aber auch indigene peruanische Communities in den 1990ern oder trans* Personen in Deutschland bis 2011 betroffen waren. Aber auch Verhütungsmittelprogramme spielen hier eine zentrale Rolle. So wurde das Langzeitverhütungsmittel Norplant, welches 1990 in den USA auf den Markt kam, zu einem politischen Instrument, um die Geburtenrate in Schwarzen Communities zu reduzieren. Obwohl es dort aufgrund der massiven Nebenwirkungen 2002 vom Markt genommen wurde, wird es nun seit 2012 im Globalen Süden unter dem Namen Jadelle vertrieben, um die dortige sogenannte ‚Überbevölkerung‘ zu bekämpfen. Feministische Bewegungen, die sich ausschließlich auf Abtreibungsrechte fokussieren, repräsentieren also in erster Linie die Perspektiven weißer privilegierter Frauen. Problematisch ist dies vor allem, weil sie gleichzeitig für sich beanspruchen, für alle Frauen und feminisierte Körper zu sprechen und damit rassistische Unterdrückungsdynamiken reproduzieren und massiv zur Unsichtbarmachung der Erfahrungen marginalisierter Communities beitragen.

Die Grundsätze Reproduktiver Gerechtigkeit

Um solche ausschließenden und unsichtbar machenden Prozesse zu vermeiden und den multiplen Erfahrungen reproduktiver Unterdrückung gerecht zu werden sowie sie in die politische Praxis einzubeziehen, besteht das Konzept Reproduktiver Gerechtigkeit aus drei zentralen Grundsätzen:

  1. Das Recht, sich für Kinder zu entscheiden und die Formen der Schwangerschaftsversorgung und Geburtshilfe selbstbestimmt wählen zu können
  2. Das Recht, keine Kinder zu bekommen und sicheren Zugang zu Verhütungs- und Abtreibungsmöglichkeiten zu haben
  3. Das Recht, Kinder in selbstgewählten Umständen aufziehen zu können – frei von institutioneller, struktureller und interpersoneller Gewalt sowie unter guten sozialen, gesundheitlichen und ökologischen Bedingungen  

In einigen Darstellungen wird diesen drei Grundsätzen noch ein vierter hinzugefügt, nämlich das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung.

Reproduktive Gerechtigkeit als Menschenrecht

In Bezugnahme auf feministische Bewegungen des Globalen Südens, die auf der UN-Weltbevölkerungskonferenz 1994 in Kairo für die Festlegung sexueller und reproduktiver Gesundheit und Rechte (SRGR) als Menschenrecht kämpften, sind die Grundsätze/Forderungen von RG konzeptuell eingebettet in ein human rights framework. Somit lassen sich nicht nur individuelle, sondern auch Kollektivrechte ausgehend von kollektiven Unterdrückungserfahrungen unterschiedlicher Communities einfordern und durchsetzen. Dieser Ansatz ist von großer Bedeutung – unter anderem, um eine klare Abgrenzung zu neoliberalen und individualistischen Herangehensweisen deutlich zu machen. Diese folgen einer Logik, nach der Personen für ihre Lebenssituation und (reproduktive) Gesundheit individualisiert verantwortlich gemacht werden, ohne ungleich verteilte Ressourcen und ökonomische Mittel sowie staatliche Kontrolle als Einflussfaktoren für den Grad an reproduktiver Selbstbestimmung in die Betrachtung einzubeziehen.

Reproduktive Rechte + soziale Gerechtigkeit

Mit einem Fokus auf diese Faktoren stellt Reproduktive Gerechtigkeit eine Zusammenführung von reproduktiven Rechten und sozialer Gerechtigkeit dar. Darüber hinaus beinhaltet das Konzept eine Kritik der ausschließlichen Forderung nach formalen/individuellen Rechten, mit denen Fragen der Zugänglichkeit und Ressourcen, die auf kollektiver Ebene verankert sind, ungeklärt bleiben. So ist die Forderung nach dem Recht auf Abtreibung wichtig für alle Menschen, die schwanger werden können. Wenn von diesem Recht aber auch alle Gebrauch machen können sollen, dann müssen soziale Bedingungen und Zugangsmöglichkeiten einbezogen werden.  

Eine intersektionale Perspektive

Ein letzter zentraler Aspekt, der hier noch Erwähnung finden soll, ist der Intersektionalitäts-Ansatz des Konzepts. Er ermöglicht es, marginalisierte Perspektiven auf Fragen der Sexualität, Verhütung, Abtreibung, Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft/leben mit Kindern ins Zentrum der Debatten zu rücken und einen konstruktiven Umgang mit erfahrungsbasierten Differenzen zu finden. In Abgrenzung zu einem universalistischen Verständnis, welches marginalisierte Positionen unsichtbar macht, fordert Loretta Ross, eine der Mitbegründerinnen Reproduktiver Gerechtigkeit, „theory and activism based on shared – but not identical – stories of reproductive oppression“ (2017: 288). Eine solche Perspektive ermöglicht es trotz unterschiedlicher Erfahrungen die Gemeinsamkeiten in der politischen Praxis herauszufiltern und eröffnet die Möglichkeit bewegungsübergreifender Solidarität und Allianz.

Literatur:
Ross, Loretta J. (2017): Reproductive Justice as Intersectional Feminist Activism. In: Souls. Vol. 19, No 3 July-September 2017, 286-314