Wo bleibt die echte Diversität? Neue EU-Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen

Kommentar

Der 5. Mai ist traditionell der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Ein guter Anlass, die neue Disability Strategy der EU kritisch zu beleuchten.

Diversity ist der In-Begriff des 21. Jahrhunderts. Wenn es aber ans Eingemachte geht und um die tatsächliche Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen, hört die Begeisterung schnell auf. 

Gerade das letzte Jahr mit der Corona-Pandemie hat uns schmerzlich verdeutlicht, wie stark Menschen mit Behinderungen in der Europäische Union immer noch vergessen und diskriminiert werden und wie schnell in Krisensituationen Grundrechte in Frage gestellt werden. So kam es unter dem Stichwort Triage zu Abwägungen in den Notaufnahmen der Krankenhäuser, welches Leben bei knappen medizinischen Ressourcen noch gerettet werden könnte und welches nicht. Diese unterschiedlichen Lebenswertigkeiten haben 80 Jahre nach Ende der Aktion T4 viele nicht mehr für möglich gehalten und das hat uns Menschen mit Behinderungen ungläubig und sorgenvoll zurückgelassen.

Aber auch bereits bestehende Probleme wie die Unterfinanzierung lokaler Pflege- und Hilfeleistungen, abgeschottetes, segregiertes Leben in Einrichtungen, fehlende Unterstützung von Angehörigen oder der Mangel an barrierefreien Gesundheits- und Informationsangeboten hatten für Menschen mit Behinderungen dramatische Folgen.

Umso dringender scheint die neue EU-Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen für 2021 bis 2030, die im März von der Europäischen Kommission vorgestellt wurde.

Sie soll dafür sorgen, dass die UN-Behindertenrechtskonvention endlich in den EU-Mitgliedsstaaten umsetzt wird. Diese haben sich bereits vor über zehn Jahren zu den Verpflichtungen der Konvention bekannt - dem ersten Menschenrechtsvertrag übrigens, der von der EU als Institution ratifiziert wurde.

Von einer echten Teilhabe in allen Lebensbereichen sind wir in der Europäischen Union allerdings noch weit entfernt - und das obwohl jede fünfte Person mit einer Form von Behinderung lebt. Weniger als 50 Prozent der Menschen mit Behinderungen haben Arbeit, 29% leben in Armut und erfahren soziale Ausgrenzung. Frauen mit Behinderungen sind fünf Mal häufiger von Gewalt betroffen als Frauen ohne Behinderung. Oft bleiben Menschen mit Behinderung unsichtbar, abgeschottet in Sonderwelten – das Gegenteil gelebter Inklusion. 

Die neue EU-Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen möchten gerade die Bereiche selbstständiges Leben, Mobilität, Barrierefreiheit und inklusive Arbeit und Bildung stärken.

Als Europaabgeordnete habe ich parallel zur Arbeit der EU-Kommission einen Bericht zur „Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf“ verfasst, der im März mit großer Mehrheit im Europaparlament abgestimmt wurde. In dem Bericht ist mir die Forderung nach einem gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt besonders wichtig. Die Europäische Union muss Mitgliedsstaaten dazu bringen, von einem System der Abschottung in ein System des inklusiven, gemeinsamen Arbeitens überzugehen, so wie es die UN-Behindertenrechtskonvention vorgibt. Viele Menschen mit Behinderungen arbeiten derzeit in speziellen Werkstätten, abgeschottet vom Rest der Gesellschaft. Nur ein winziger Bruchteil davon wird auf den ersten Arbeitsmarkt vermittelt. Die Mitgliedsstaaten müssen diese Tendenz umkehren und jene Alternativen stärken, wo Menschen mit und ohne Behinderungen zusammen arbeiten. Gerade Deutschland ist mit 300.000 in Werkstätten beschäftigten Menschen mit Behinderung Spitzenreiter des Werkstattsystems, in dem Menschen für ein Taschengeld arbeiten. Hier muss unser Wirtschaftssystem und unsere Arbeitswelt inklusiver werden, damit Menschen einen vernünftigen Arbeitnehmerstatus und Mindestlohn bekommen.

Ein wichtiges Projekt ist der ebenfalls von der EU-Kommission angekündigte EU-Behindertenausweis, der Ende 2023 vorgestellt werden soll. Stand heute ist es so, dass jeder Mitgliedsstaat eine eigene Definition von Behinderung hat. Zieht man als Mensch mit Behinderung in ein anderes EU-Land, muss man sich erneut einer Prüfung unterziehen, bevor Hilfeleistungen in Anspruch genommen werden können: eine klare Diskriminierung mit Blick auf die EU-Freizügigkeit. Ein EU-Behindertenausweis, der sich auf Museumsvergünstigungen reduziert, nutzt Menschen mit Behinderungen wenig. Langfristig muss es möglich sein, dass Mitgliedsstaaten den nationalen Behindertenstatus gegenseitig anerkennen und so auch entsprechende Sozial- und Hilfeleistungen garantiert werden. So würden wir einen weiteren Schritt Richtung Sozialunion machen.

Menschen mit Behinderung müssen konsequent in allen EU-Politikfeldern berücksichtigt werden. Zwingende Voraussetzung hierfür: Menschen mit Behinderungen müssen auch in den Institutionen vertreten sein. Egal ob in EU-Institutionen, der UN oder in diversen NGOs -  spezielle Anlaufstellen oder Ausschüsse für die Rechte von Menschen mit Behinderungen müssen etabliert werden. Denn da, wo Menschen mit Behinderungen politisch unterrepräsentiert sind, werden sie auch vergessen. Das hat sich im Krisenmanagement der Pandemie gezeigt. Allein im Europaparlament bin ich unter 705 Abgeordneten die einzige Frau mit sichtbarer Behinderung. Ein deutliches Zeichen, dass sich hier dringend etwas ändern muss.

#NothingAboutUsWithouUs

Dieser Kommentar erschien zuerst auf der Seite der Heinrich-Böll-Stiftung.