Über Feminismus und die Rechte von Sexarbeiter*innen in Barcelona: „Wer hat hier die Kontrolle?“

Interview

Die 61-jährige Janet Mérida arbeitet als Prostituierte in Barcelona. Dort hat sie das Kollektiv der „empörten Prostituierten“ gegründet.

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Proteste von Sexarbeiter*innen in Barcelona im April 2012

Sarah Ulrich: Janet, euer Kollektiv, die prostitutas indignadas, also die „empörten Prostituierten“, setzt sich für die Rechte von Sex­ar­bei­te­r*in­nen ein. Gleichzeitig kritisiert ihr die feministische Bewegung – warum?

Janet Mérida: Aus dem Feminismus ist eine kapitalistische Marke geworden. Jahrhundertelang haben wir ohne Lohn gearbeitet, der 8. März wurde zu einem Tag, an dem sichtbar gemacht wird, dass wir Frauen wichtige Arbeit machen, dafür aber am wenigsten wertgeschätzt werden. Heute findet die feministische Bewegung Ausdruck in politischen Ideologien, die das Konzept des Feminismus verwässern. Die Bewegung verliert ihren Charakter als Bewegung der Inklusion.

Was bedeutet das?

Der Feminismus braucht eine Katharsis. Die Privilegierten müssen für die Marginalisierten aufstehen und ihre Roma-Schwester, ihre migrantischen, ihre nichtbinären, ihre trans Schwestern, ihre Hurenschwestern verteidigen. Das wäre für mich ein wahrer Feminismus. Eine Person, die ihre Privilegien nutzt, um jene zu schützen, die keine Privilegien haben. Vielleicht ist es eine Utopie. Aber wenn ich keine machistische Gewalt akzeptiere, muss ich auch keine feministische Gewalt akzeptieren.

Feministische Gewalt?

Der weiße, europäische, akademische Feminismus macht feministische Minderheiten unsichtbar. Dabei sind wir die, die jeden Tag kämpfen müssen, um in einem System zu überleben, in dem wir nur eine Nummer sind. Wir Frauen haben die Macht verloren, über unseren Körper zu entscheiden. Wenn ich von Frauen sprechen, ist es gleich, ob sie eine Vagina oder einen Penis haben, ob sie binär sind. Es geht darum, wie die Gesellschaft dich liest, wie sie deinen Körper als Frauenkörper liest, und wie die Gewalt des Patriarchats sich auf uns auswirkt. Der Feminismus nutzt Strategien des Patriarchats, um Minderheiten unsichtbar zu machen. Auch uns als Sexarbeiter*innen. Aber in einem kapitalistischen System müssen wir alle arbeiten – niemand arbeitet aus Liebe zur Kunst. Wir arbeiten alle für ein Dach über dem Kopf.

Du spielst auf Teile der feministischen Bewegung an, die Sexarbeit abschaffen wollen. Immerhin ist es ein umstrittenes Thema, in Spanien noch viel stärker als in Deutschland. Die Gleichstellungsministerin Irene Montero von der linken Podemos ist eine sogenannte Abolitionistin, die Sexarbeit abschaffen will.

Genau, es geht um die Konfrontation von Macht. Aber neben denen, die die Macht haben, ihre Ideen vorstellen zu können, gibt es noch eine Gruppe: Die, die im Schlamm liegen, die Seite an Seite für Rechte kämpfen. Das sind nicht die Privilegierten. Die treibende Kraft der Revolution kommt nicht von den Politiker*innen oben, sondern vom Volk, das sich selbst organisiert hat und nicht mehr unterdrückt werden will. Und wenn die Gleichstellungsministerin wirklich denkt, dass die Prostitution, wie sie sagt, geschlechterspezifische Gewalt ist, sollte sie das patriarchale System zerstören und wirklich feministische Politik machen, bei der das Leben aller im Mittelpunkt steht.

Katalonien hingegen war in der Bewegung vom 8. März die einzige Region, die die Rechte der Sexarbeiter*innen gefordert und anerkannt hat – und sich damit gegen die Regierung gestellt hat.

Ja, aber es gibt auch hier viele Lager. Es gibt Leute, die glauben, dass die Männer uns bezahlen, um uns vergewaltigen zu dürfen. Und dass wir das machen, weil wir so arm sind und sonst keine Mittel haben, es nicht besser wissen und so vom Patriarchat indoktriniert sind. Und das könnte nicht ferner der Realität sein! Du stehst hier auf der Straße, da kommt ein Typ und sagt: Ich will Sex mit dir haben. Dann gibst du ihm einen Preis. Du sagst, wie lange und welche Bedingungen du hast, was du machen oder nicht machen willst. Und bevor du die Unterhose ausziehst, muss der Typ dich bezahlen. Wo ist da die Gewalt? Wer hat hier die Kontrolle?

Sexarbeit ist für dich also eine Art, die Kontrolle über den eigenen Körper im patriarchalen System zu erlangen?

Ja, Hure zu sein, ist ein Weg, dem Bestehenden etwas entgegenzusetzen. Wir Frauen haben in diesem System die Pflicht, moralisch zu handeln, ethisch darauf zu achten, dass die anderen uns als gute Frauen wahrnehmen. Wir müssen dazu bereit sein, uns für andere zu opfern. Und es wird nie berücksichtigt, was wir eigentlich brauchen.

Ihr kämpft also mit euren Körpern.

Unser Körper ist das einzige Werkzeug, das wir haben, um zu kämpfen. In allen Kämpfen. Nicht nur in den feministischen, sondern auch in den Kämpfen der Arbeiter*innenklasse.

Wie bist du dazu gekommen, Sexarbeiterin zu werden?

Ich bin vor 40 Jahren aus Uruguay nach Barcelona gekommen. Mit 25 habe ich dann aus finanziellen Gründen mit der Sexarbeit angefangen. Alle wollen Huren wieder in die Gesellschaft eingliedern. Aber wenn ich zur Bank gehe, ist es ihr egal, woher das Geld kommt. Arbeit ist Arbeit.

Welche Entwicklungen hast du in dem Beruf in der langen Zeit gemacht?

Ich habe in einer Bar angefangen, dann habe ich in Wohnungen gearbeitet, danach war ich auch auf dem Strich. Vor zwanzig Jahren bin ich dann hier gelandet.

Warum bist du ausgerechnet hierhergekommen, auf den Straßenstrich im armen und multikulturellen Altstadtviertel Raval?

Ich musste das Familienleben und den Beruf unter einen Hut bringen. Auf dem Straßenstrich ist die Missbilligung besonders groß, man ist am auffälligsten. Wir sind stark stigmatisiert, weil man glaubt, dass die Huren auf der Straße alle Drogenabhängige und Alkoholiker*innen sind. Dennoch wurde mir hier klar, dass ich freier arbeiten kann als anderswo. Was du verdienst, verdienst du für dich. Über viele Jahre hinweg hatte ich für Unternehmer gearbeitet, die sich an mir bereicherten. Sie bekamen 50 Prozent meiner Einnahmen, so ist das System in Spanien – der patron (Zuhälter, aber weniger negativ konnotiert; Anm. d. Red.), bekommt die Hälfte der Einnahmen, wenn du in einem Club arbeitest.

Wie viel hast du denn verdient?

Umgerechnet etwa 18 Euro in zwanzig Minuten. Im Jahr 1985 habe ich also fast so viel verdient wie der Präsident – eine Millionen Peseten im Monat. Aber davon musste ich 50 Prozent abgeben. Und um in der Gesellschaft sichtbar zu sein, musste ich ein Doppelleben führen. Die Gesetze für Sexarbeit erlaubten mir nicht, offiziell Geld zu verdienen. Ich brauchte also einen Job mit Gehaltszettel. Tagsüber als Putzfrau, nachts als Hure. Mit 30 merkte ich dann, dass Clubs nichts mehr für mich waren, und fing an, in Privatwohnungen zu arbeiten und mit 40 dann hier.

2006 gab es eine neue Verordnung, die zum Ziel hatte, die Sexarbeit von der Straße zu verdrängen. Überwachung durch Polizei, die Bußgelder verhängte, führten dazu, dass die Sexarbeiter*innen nicht mehr rauskonnten. Eure Organisierung als prostitutas indignadas hat maßgeblich dazu beigetragen, dass diese Verordnung nicht mehr durchgesetzt wird.

Ja, ich sah mich in meiner privilegierten Position in der Pflicht, dem entgegenzutreten. Zum einen aus Verantwortungs- und Pflichtgefühl, zum anderen, weil ich den politischen und polizeilichen Machtmissbrauch, den wir erlebten, nicht zulassen konnte. Wir haben erreicht, dass die Sicherheitskräfte uns nicht schikanieren und beleidigen. Wir haben erreicht, dass sie keine Bußgelder verhängen. Wir haben die Huren von der Straße auf die politische Agenda gesetzt. Es gibt kein anderes Kollektiv, das das erreicht hat.


Zuerst erschienen bei taz.de