El Salvador: Der Kampf um Freiheit, Gesundheit und Leben von Frauen

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Proteste gegen die Inhaftierung der 17 Frauen. Nach Schwangerschaftskomplikationen wurden sie wegen Mordes verurteilt.
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Proteste gegen die Inhaftierung der 17 Frauen. Nach Schwangerschaftskomplikationen wurden sie wegen Mordes verurteilt.

Bei Komplikationen in der Schwangerschaft können Frauen in El Salvador ins Gefängnis kommen. Der Vorwurf: illegale Abtreibung. Aktivistinnen haben Begnadigungsersuche für 17 Frauen eingereicht - eine neue Welle des Protests für die reproduktiven Rechte von Frauen.

Eine Frau kommt in ein Krankenhaus, weil sie medizinische Hilfe benötigt. Doch anstatt versorgt und unterstützt zu werden, wird sie einer Straftat beschuldigt und noch aus der Notfallambulanz heraus einem Gerichtsverfahren unterzogen. Wenige Tage später wandert sie ins Gefängnis, ohne überhaupt zu begreifen, was mit ihr geschehen ist.

Eine solche Geschichte ist kaum vorstellbar. Sie erscheint wie reine Fiktion oder eine Horrorstory. In El Salvador aber sind Vorfälle wie dieser Alltag. So wiederfuhr es auch den 17 Frauen, für die im April 2014 ein Begnadigungsantrag eingereicht wurde, und einigen weiteren, denen derzeit der Prozess gemacht wird oder die bereits zu einer Gefängnisstrafe von dreißig oder mehr Jahren verurteilt worden sind.

Die wahre Geschichte aber wird totgeschwiegen. Sie wurde erst als gesellschaftliches Problem und als Justizirrtum erkannt, als im April 2014 eine Gruppe von Menschenrechtsorganisationen und Einzelpersonen eine Kampagne zur Unterstützung der betroffenen Frauen startete. Unter dem Motto "EINE BLUME FÜR DIE 17 - IHR LEBEN DARF NICHT VERWELKEN!" wurden 17 Begnadigungsgesuche eingereicht, um die Freilassung der zu Unrecht inhaftierten Frauen zu erreichen. Nach auftretenden Schwangerschaftskomplikationen wurden diese Frauen zunächst beschuldigt, absichtlich eine Fehlgeburt herbeigeführt zu haben. Danach wurden sie mit dem Vorwurf, ihre neugeborenen Kinder getötet zu haben, wegen Mordes zu 30 bis 40 Jahren Gefängnis verurteilt.

Hinter dieser Geschichte steht die Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs

In der salvadorianischen Gesetzgebung galt Schwangerschaftsabbruch zwar schon seit jeher als Straftat, doch hat sich seit 1998 mit dem Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuches die Kultur der Schuldzuweisungen gegen Frauen verschärft. Paradoxerweise gehört das neue Strafrecht zu den Ergebnissen der Friedensvereinbarungen, mit denen der zwölf Jahre andauernde bewaffnete Konflikt in El Salvador beendet wurde. Durch ein Gesetz, das der Bevölkerung angeblich größere Rechtssicherheit verschaffen und die Einhaltung von Garantien und Bürgerrechten gewährleisten sollte, wurde den betroffenen Frauen letztendlich das Recht auf Unschuldsvermutung verweigert.

Fakt ist, dass die Nachkriegsära in El Salvador mit einer starken Präsenz neokonservativer Kräfte in den einflussreichsten wirtschaftlichen Machtgruppen einherging. Sie machten die Kontrolle über die Sexualität und die Reproduktionsfähigkeit von Frauen zu einer der zentralen Stützen für ihren weltweiten ideologischen Zusammenhalt, und sie üben ihre Hegemonie in Gesellschaften wie der salvadorianischen aus. Über Jahre hinweg konnten sie Frauen aktiv verfolgen oder die Wahrheit über ihre Fälle totschweigen, ohne dass es irgendjemand gewagt hätte, etwas dagegen zu sagen.

El Salvador gehört weltweit zu den Ländern mit der restriktivsten Abtreibungsgesetzgebung. Am 20. April 1998 trat in dem Land ein neues Strafgesetzbuch in Kraft. Die Gründe, aus denen bis zu diesem Zeitpunkt ein Schwangerschaftsabbruch noch straffrei möglich war, wurden gestrichen, nämlich bei Gefahr für das Leben der Mutter, bei Vergewaltigung und bei schweren Missbildungen des Fötus. Darüber hinaus wurde im Januar 1999 Artikel 1 der salvadorianischen Verfassung reformiert und die Anerkennung der menschlichen Person vom Augenblick der Empfängnis an festgeschrieben. Dieser Kurswechsel hin zu einer restriktiveren Gesetzgebung läuft der Liberalisierungstendenz zuwider, die seit 1994, dem Jahr der Internationalen Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung, weltweit zu beobachten ist.

Die Statistiken über unsichere Abtreibungen sind aus den vom salvadorianischen Gesundheitsministerium bereitgestellten Informationen verschwunden. Die Zahl der Selbstmorde schwangerer Jugendlicher aber steigt von Tag zu Tag und ist mittlerweile die häufigste Ursache für die Müttersterblichkeit bei jungen Frauen unter 18 Jahren.

Trotz der restriktiven Gesetzgebung in El Salvador wird die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche für die Zeit von 1995 bis 2000 auf insgesamt 246.275 mit einem Anteil an der Müttersterblichkeit von 11,1 Prozent geschätzt. Nach Angaben der Abteilung für Information, Monitoring und Evaluierung des Gesundheitsministeriums wurden von Januar 2005 bis Dezember 2008 landesweit 19.290 Schwangerschaftsabbrüche registriert, von denen 27,6 Prozent bei Heranwachsenden auftraten.

Fortschritte und Schwierigkeiten bei der Kampagne für die Freilassung DER 17

Dank der Kampagne für die Freilassung der 17 Frauen, die von einer ganzen Reihe solidarischer Organisationen getragen wird, konnten innerhalb eines Jahres in zwei von 17 Fällen Begnadigungen erwirkt werden. Für mehr als 15 Frauen gelten nach wie vor Haftstrafen von 30 Jahren. Allerdings wurde in diesen Fällen Berufung bzw. Revision eingelegt, und die Urteile sind noch nicht rechtskräftig.

Es bleibt noch viel zu tun, bis auch für diese Frauen die Freilassung erreicht ist. Ihnen allen gemeinsam ist  die Armut, ihr jugendliches Alter und ein niedriges Bildungsniveau. Bei den bisherigen Bemühungen wurde mehrgleisig vorgegangen. So konnte am 23. April 2015 die Freilassung von Carmelina durchgesetzt werden, einer jungen Honduranerin, die als Hausangestellte im Osten El Salvadors gearbeitet hatte. Carmelina erlitt eine ähnliche Fehlgeburt wie die anderen Frauen. Mit starken Blutungen wurde sie ins Krankenhaus eingeliefert. Dort wurde sie zuerst der Abtreibung bezichtigt und später zu einer dreißigjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Ihre Geschichte nahm eine Wendung, als ein Team von Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtlern gegen das Urteil Berufung einlegte. Sie wiesen Verstöße gegen die Menschenrechte Carmelinas nach, darunter das Zeugnisverweigerungsrecht und das Recht auf Unschuldsvermutung. Die Berufung wurde zugelassen und der Prozess neu aufgerollt. Darin wurde ihre Unschuld anerkannt, und nach 16-monatiger Haft wurde Carmelina aus dem Gefängnis entlassen.

Die Geschichte der 17 Frauen macht deutlich, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern um eine systematische Verletzung der Menschenrechte von Frauen, insbesondere ihrer reproduktiven Rechte. Nicht alle Frauen sind davon gleichermaßen betroffen. Es sind vor allem die armen Frauen, denn dieses Unrecht hat seine Wurzeln in den tiefgreifenden sozioökonomischen Ungleichheiten und der Kriminalisierung von Frauen in El Salvador, die verdächtigt werden, eine Fehlgeburt absichtlich herbeigeführt zu haben.

Auch die Organisationen und Einzelpersonen, die gegen dieses Unrecht vorgehen, werden stigmatisiert: Sie werden beschuldigt, Mörderinnen zu verteidigen, und als gewissenlose Abtreiber diffamiert. Ihnen drohen Anklagen wegen Billigung einer Straftat und Herbeiführung einer Abtreibung. Diesmal aber ist es den konservativen Rechtsverweigerern nicht gelungen, die Stimmen, die Gerechtigkeit fordern, zum Schweigen zu bringen. Ganz im Gegenteil: Immer mehr Menschen, die von der Geschichte dieser Frauen erfahren, werden sich des Unrechts bewusst. Ganz allmählich tritt eine Problematik ans Tageslicht, die bisher im Verborgenen geblieben und von niemandem als gesellschaftliches Problem anerkannt worden ist.

Der von Amnesty International 2014 vorgelegte Bericht "Am Rande des Todes - Gewalt gegen Frauen und das Abtreibungsverbot in El Salvador" bedeutete ein Vorher und Nachher für diejenigen, die in El Salvador gegen die Kultur der Schuldzuweisungen und der Kriminalisierung von Frauen eintreten. Menschenrechtsstellen und -organisationen haben mittlerweile Bündnisse geschlossen und unterstützen sich gegenseitig. So konnten mehrere Organisationen, die auf eine allgemeine regelmäßige Überprüfung hinwirkten, zwölf Staaten zu einer Empfehlung an den salvadorianischen Staat bewegen, seine Abtreibungsgesetzgebung zu überprüfen und die 17 Frauen freizulassen.

Zentralamerika und Karibik: In El Salvador, Haiti, Surinam, Honduras und Nicaragua ist jegliche Form von Schwangerschaftsabbruch strengstens untersagt. Demgegenüber gilt in Uruguay seit 2012 ein Gesetz, das die Abtreibung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche vollständig entkriminalisiert; andere Länder wie zum Beispiel Mexiko erlauben eine Abtreibung bei Vergewaltigung. In Staaten wie Kolumbien und Argentinien wird das Thema nach wie vor diskutiert, wenngleich dort Fortschritte im Hinblick auf Abtreibung bei Vergewaltigung oder Gefahr für die Gesundheit der Mutter erzielt werden konnten, so dass die Gesetze ständig weiter reformiert werden. In Chile befasst sich derzeit der Gesundheitsausschuss des Parlaments mit der Entkriminalisierung der Abtreibung aus dreierlei Gründen, nachdem Staatspräsidentin Bachelet eine entsprechende Gesetzesvorlage eingebracht hat. Hierbei wird die Möglichkeit in Betracht gezogen, eine Abtreibung zuzulassen, wenn der Fötus nicht lebensfähig ist, eine Gefahr für die Gesundheit der Mutter besteht oder eine Vergewaltigung vorliegt. (Lepe, N. (2015): “Chile entre los 9 países del mundo que castigan el aborto” (Chile unter den 9 Staaten der Welt, die Abtreibung unter Strafe stellen"). Publimetro, Chile

Klagen vor dem Interamerikanischen Menschenrechtssystem

Gemeinsam mit anderen internationalen Menschenrechtsorganisationen wurden vor dem Interamerikanischen Menschenrechtssystem der OAS zwei Klagen eingereicht. Der Fall von Beatriz mit ihrer Petition "quiero vivir" ("ich will leben") ging um die Welt: Sie beantragte einen Schwangerschaftsabbruch, weil sie unter mehreren Krankheiten litt, die sich mit fortschreitender Schwangerschaft verschlimmerten, und dem Fötus überdies große Teile des Gehirns fehlten. Dieser Fall machte die institutionellen Widerstände gegen die Anerkennung des Rechts von Frauen auf Leben in ihrem ganzen Ausmaß deutlich. Auf Beatriz wurde enormer Druck ausgeübt, damit sie ihren Antrag zurückzog, obwohl 15 Fachärzte ihre Diagnose bestätigt und zu einem Schwangerschaftsabbruch geraten hatten. Beatriz wartete auf einen Beschluss des salvadorianischen Verfassungsgerichts, das ihren Antrag jedoch nie positiv beschied. Mittlerweile hat sie viel darüber nachgedacht, was ihr widerfahren ist. Deshalb ist sie auch fest entschlossen, diesen Weg der Suche nach Gerechtigkeit vor internationalen Instanzen weiterzugehen, denn sie weiß, wie wichtig es für sie selbst und auch für andere Frauen ist, die Klage weiterzubetreiben.

Ein weiterer Fall ist der von Manuela. Sie lebte in einer ländlichen Gemeinde und wurde als Schwangerschaftsnotfall mit starken Blutungen in ein Krankenhaus eingeliefert. Dort beschuldigte man sie, eine Abtreibung vorgenommen zu haben, und sie wurde zu einer dreißigjährigen Haftstrafe verurteilt. Nur wenig später starb sie im Gefängnis an Lymphdrüsenkrebs, der nach ärztlichen Einschätzungen möglicherweise auch ursächlich für die Fehlgeburt gewesen war. Manuela sah ihre zwei Kinder nie wieder, und sie starb mit dem Stigma, eine Mörderin zu sein. Das Gericht, das sie verurteilt hatte, weigerte sich, das Urteil post mortem zu überprüfen, obwohl Menschenrechtsverteidiger Revision beantragt hatten. Deshalb wurde bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) Klage eingereicht. Die CIDH hat beide Klagen zugelassen und den salvadorianischen Staat aufgefordert, zu jedem Einzelfall Informationen bereitzustellen.

Mangelnde Anerkennung sexueller und reproduktiver Rechte

Im Hinblick auf die sexuellen und reproduktiven Rechte stellt sich die Lage in El Salvador in Anbetracht der steigenden Zahl von Schwangerschaften bei Kindern und Heranwachsenden noch komplizierter dar: Tag für Tag müssen Mädchen im Alter von zehn, elf oder zwölf Jahren erzwungene Schwangerschaften bis zum Ende austragen, obwohl nach der salvadorianischen Gesetzgebung Schwangerschaften bei Mädchen im Alter von 14 oder weniger Jahren als Ergebnis einer Vergewaltigung einzustufen sind.

Wir sprechen hier von der Geschichte eines Landes, in dem ein paar Gesetze kürzlich reformiert, ein paar Frauenrechte anerkannt und ein paar öffentliche Dienstleistungen für ein paar Probleme von Frauen bereitgestellt worden sind. In ihrem Kern aber werden die Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern immer wieder aufs Neue festgeschrieben.

In El Salvador steht die faktische Anerkennung der sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen nach wie vor aus. Noch immer wandern Frauen vom Krankenhaus direkt ins Gefängnis, weil sie von den staatlichen Krankenhäusern angezeigt worden sind, wenngleich in sinkender Zahl.

El Salvador weist die höchste Quote von Jugendschwangerschaften in Lateinamerika auf. Nach der landesweiten Erhebung zur Familiengesundheit hatte mehr als ein Fünftel (23 Prozent) der jungen Mädchen im Alter von 15 bis 19 Jahren bereits mindestens eine Schwangerschaft hinter sich. Davon war fast die Hälfte jünger als 18 Jahre alt, und die Schwangerschaften waren ungewollt. 2013 registrierte die salvadorianische Nationale Zivilpolizei insgesamt 1.346 Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen. Über die Anzahl der durch Vergewaltigung verursachten Schwangerschaften liegen keine genauen Angaben vor. (Amnesty International (2014) “Resumen Ejecutivo: Al borde de la muerte. Violencia contra las mujeres y prohibición del aborto en El Salvador” [Zusammenfassung: Am Rande des Todes - Gewalt gegen Frauen und das Abtreibungsverbot in El Salvador])

Fünfzehn der 17 Frauen sind nach wie vor zusammen mit weiteren Frauen inhaftiert, die in den darauffolgenden Jahren verurteilt wurden. Der Oberste Gerichtshof hat den Weg der Begnadigung versperrt, sich aber zu einem Gutachten zugunsten der Begnadigung von Guadalupe "aus zwingenden Gründen der Gerechtigkeit und Gleichheit sowie unter Anerkennung vorliegender Rechtsfehler" durchgerungen. Bei anderen Frauen aber, deren Fälle ähnlich gelagert sind, hat er die Begnadigungsgesuche abgewiesen. Mittlerweile wird allgemein anerkannt, dass die Strafen überzogen sind und oftmals das Recht auf ein faires Verfahren verletzt wurde. Dies bedeutet einen Verstoß gegen Verfassungsrechte, die allen Bürgerinnen und Bürgern des Landes vom salvadorianischen Staat garantiert worden sind.

Doch nicht nur in El Salvador ist die Freiheit von Frauen bedroht. So befindet sich in Paraguay die Mutter eines Mädchens in Haft, weil sie für ihre Tochter nach einer Vergewaltigung einen Schwangerschaftsabbruch beantragt hat. Doch das solidarische Engagement für Freiheit, für den Kampf um das Leben und die Gesundheit von Frauen wird jedoch von Tag zu Tag stärker: In jedem Land werden Rechtsmittel eingelegt, und wenn der jeweilige nationale Rechtsrahmen keine Erfolgschancen bietet, werden internationale Rechtsprechungsorgane angerufen.

Es muss sich zunehmend die Einsicht durchsetzen, dass Frauen nicht als Menschen anerkannt sind, solange man ihnen die Freiheit verweigert. Genau dies aber tun die neokonservativen fundamentalistischen Kreise in El Salvador, doch sie werden damit keinen Erfolg haben, denn trotz ihrer ungeheuren Reichtümer und der Kontrolle über einflussreiche Medien treten immer mehr Menschen unter uns für einer gerechtere und solidarischere Welt ein.

Informationen in kursiver Schrift: Heinrich-Böll-Stiftung
Übersetzung aus dem Spanischen: Beate Engelhardt
Dieser Artikel erschien erstmal in spanischer Sprache auf der Seite des Länderbüros Mexiko, Zentralamerika und Karibik.