Lateinamerika: Die Wertschätzung des Lebens

Frauen tragen die Hauptlast der Reproduktionsarbeit und sind deshalb stärker als Männer auf den Zugang zu Gemeinressourcen angewiesen. Dem herrschenden Modell muss eine Perspektive entgegengesetzt werden - eine feministische Alternative zum gegenwärtigen Gesellschaftsmodell.

Feministische Alternativen zum gegenwärtigen Gesellschaftsmodell

Wie überall auf der Welt haben auch in Lateinamerika die Frauen immer gegen Unrecht und Ausgrenzung gekämpft, die sie in einer patriarchalen Gesellschaft erfahren. Sie waren kühne Verteidigerinnen der lokalen Kulturen gegen die Bedrohung durch die europäische Kolonialisierung, die den Rahmen für die Herausbildung des extraktivistischen Wirtschaftsmodells in unserer Weltregion darstellt. Eine feministische Perspektive in der Analyse von Gemeingütern (Commons) basiert auf der Feststellung, dass Frauen die Hauptlast der Reproduktionsarbeit tragen, deshalb stärker als Männer auf den Zugang zu Gemeinressourcen angewiesen sind und sich weit mehr für deren Bewahrung einsetzen. Das gilt sowohl für die Vergangenheit als auch für die Gegenwart. Während internationale Institutionen zunehmend den Commons-Gedanken wiederentdecken und für den Markt nutzbar machen, gilt es weiter nach Antworten zu suchen, wie die Gemeinschaftsgüter Grundlage einer nichtkapitalistischen Wirtschaftsordnung werden können – eine Frage, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Klassenkämpfe unserer Zeit zieht. [1]

Im Allgemeinen wird das Verhältnis von Frauen und Natur überwiegend als etwas gesehen, das sich unmittelbar aus der Mutter- und Schwangerschaft ergibt. Auch einige theoretische und politische Ansätze vertreten diese Idee. Die Nähe zur Natur wird als weiblicher Wesenszug gedeutet. Im feministischen, soziokonstruktivistischen Ansatz wird das Verhältnis zwischen Frau und Natur dagegen auf die Rolle der Frau in der gesellschaftlichen und geschlechtlichen Arbeitsteilung zurückgeführt, woraus sich die ihr zugeschriebene Rolle für die Sorge und Erhaltung des menschlichen Lebens quasi zwangsläufig ergibt. Gleichzeitig wird die ökologische Krise als Resultat der andro- und anthropozentrischen Prämissen begriffen, die der patriarchalen Gesellschaft zugrunde liegen.

Der Kapitalismus entwickelte sich auf Kosten der Ausbeutung der Natur und der Aneignung von Lebenszeit der Menschen in Form von Arbeit, damit diese dem Markt zur Verfügung stehen. Wie Yayo Herrero es formuliert, "entschieden sich unsere patriarchal-kapitalistischen Gesellschaften bei der Wahl zwischen der Nachhaltigkeit des menschlichen Lebens und dem wirtschaftlichen Nutzen für letzteres". [2]

Reproduktion als Schlüssel bei der Analyse des aktuellen Gesellschaftsmodells

Die zentrale Bedeutung des menschlichen Lebens für das Funktionieren des gegenwärtigen Gesellschaftsmodells sowie die Infragestellung des androzentrischen westlichen Denkens sind grundlegende Bestandteile sowohl der feministischen Ökonomie als auch des Ökofeminismus. Die geschlechtliche Arbeitsteilung macht die Frauen für die Reproduktion verantwortlich, als wäre dies allein durch ihre Mutterschaft ihre Bestimmung. Die gesetzte Trennung zwischen (Waren-)Produktion und Reproduktion ermöglicht, den ökonomischen Nexus zwischen beiden zu verschleiern. Nur die Erwerbsarbeit und Tätigkeiten mit Marktwert werden als Teil der Wirtschaft anerkannt, wohingegen die alltäglichen Tätigkeiten, die für den Lebenserhalt der Menschen notwendig sind, nicht als solche definiert werden: "Arbeit" und "Ökonomie" sind auf den Markt begrenzt. Damit werden Haus- und Sorgearbeit genau wie die Natur als Externalitäten des Wirtschaftsmodells behandelt und als unerschöpfliche Ressourcen für die kapitalistische Ausbeutung betrachtet. Die Frauen sind vorwiegend in nichtkommerzielle Bereiche eingebunden, wo sie umverteilende, dienstleistende und gemeinnützige Tätigkeiten ausführen. Die Sorgearbeit und das Erbringen von Leistungen, die der Befriedigung biologischer Bedürfnisse dienen, aber auch die Pflege affektiver Beziehungen und das ständige Bemühen um Wohlergehen gehören danach zu diesen nichtkommerziellen Bereichen.

Da ein Großteil dessen, was Frauen tun, außerhalb des Marktes stattfindet, beeinträchtigt die fortschreitende Kommerzialisierung zunehmend die Ausübung ihrer Tätigkeiten. Durch das Eindringen des Marktes und der großen Unternehmen in die Territorien werden die Machtbeziehungen dort neu definiert: das Wissen der Frauen wird entwertet, die kapitalistische Ausbeutung und die patriarchale Dominanz über sie werden verschärft – durch Gewalt, Prostitution und Zwangsmigration. Diese Erfahrungen rufen Misstrauen gegenüber dem Vordringen des Marktes in die Territorien hervor. Der Widerstand der Frauen ist daher groß, weil sie um den direkten Zusammenhang zwischen Territorien und dem Erhalt ihrer Lebensgrundlagen wissen. Sie sind es, die sich am meisten dem Eindringen der Unternehmen in die Territorien widersetzt haben. Schon als sie von der grünen Revolution ausgeschlossen wurden, haben sie ihre traditionelle landwirtschaftliche Arbeitsweise beibehalten, auch wenn dadurch ihre Produktionstätigkeiten auf den eigenen Hof, die Gemüse- und Obstgärten und die Aufzucht von Kleinvieh beschränkt blieben. Heute setzen sie sich in den Städten für die Einrichtung öffentlicher Dienstleistungsbetriebe ein und experimentieren mit der Kollektivierung von Hausarbeit.

Wiederaneignung der Gemeingüter

Den Produktionsverhältnissen und sozialen Praktiken des herrschenden Modells muss eine Perspektive entgegengesetzt werden, die sich gegen das vorherrschende System richtet. Die aktuelle Situation wird vielfach so beschrieben: Mit der verschärften Ausbeutung der Gemeingüter, die mit einer Prekarisierung der Arbeit und einer Zunahme konservativer Haltungen einhergeht, wird die letzte Grenze überschritten. Für dieses Phänomen gibt es verschiedene Bezeichnungen. Silvia Federici spricht von einer "neuen ursprünglichen Akkumulation", David Harvey von "Akkumulation durch Enteignung". [3] Zum Beispiel hat sich das Landgrabbing insbesondere in Afrika, Asien und Lateinamerika für den Anbau in Monokulturen von Nahrungsmitteln und Agrarkraftstoffen für den Export ausgebreitet. In den städtischen Gebieten haben Immobilienspekulationen für große Bauvorhaben, u. a. für Megaevents, deutlich zugenommen. Die Bergbauunternehmen weiten ihre Erschließungsgebiete und Tagebauflächen aus. Sie verschmutzen weiterhin unvermindert die Gewässer, betreiben die übermäßige Ausbeutung von Arbeitskräften und sind Mitverursacher von bewaffneten Konflikten.

Bei der Suche nach Alternativen müssen daher Vorschläge, die auf Effizienz, technologische Wirksamkeit und noch mehr Kommerzialisierung abzielen – einschließlich dessen, was sich beschönigend "grüne Ökonomie" nennt –, als Irrwege bezeichnet und verworfen werden.

Die Herausforderung besteht in der Schaffung antisystemischer Alternativen, was zum einen die Wiederaneignung der Gemeingüter und zum anderen einen Paradigmenwechsel hin zur Nachhaltigkeit des menschlichen Lebens beinhaltet: mit dem Ziel, Leben und Wohlergehen zu fördern und die zentrale Bedeutung von Sorgearbeit anzuerkennen, sowie die Notwendigkeit, gleichberechtigte Beziehungen zwischen Männern und Frauen und einen harmonischen Umgang mit der Natur zu erreichen. Hierfür ist Voraussetzung, dass die wechselseitige Abhängigkeit (Interdependenz) zwischen den Menschen untereinander und zwischen Mensch und Natur anerkannt wird. Wir stehen also vor der Herausforderung, ein neues Reproduktionsmodell zur Diskussion zu stellen, das mit der Sphäre der Produktion verflochten ist und alternative Parameter festlegt. Diese müssen bestimmen, was, wie, wofür und für wen produziert wird. Wie kann Reproduktion so gestaltet werden, dass sie nicht mehr nur Frauensache ist, sondern die Sache von Frauen und Männern gleichermaßen? Dass sie ins Zentrum eines Wirtschaftsmodells rückt, das ein alternatives Paradigma von der Nachhaltigkeit des Lebens verfolgt? Renata Moreno begreift die feministische Politisierung der Beziehung zum eigenen Körper als Voraussetzung für die weibliche Autonomie.[4] Diese, zusammen mit dem politischen Konzept von der zentralen Bedeutung der Sorge für das Leben und die Natur, ist in der Lage, ein anderes, auf Gleichheit beruhendes Paradigma von der Nachhaltigkeit der Lebensgestaltung zu schaffen.

Es ist deshalb unabdingbar, in der gesamten Gesellschaft die Einsicht zu stärken, dass tiefgreifende Veränderungen notwendig sind. Für einen Übergang in ein neues Gesellschaftsmodell ist es dringend erforderlich, den Extraktivismus zu regulieren und einzugrenzen und gegen die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche einzuschreiten. Das beinhaltet etwa rasche Veränderungen in der Wirtschaftsgestaltung, wie beispielsweise die Umstellung von Individual- auf öffentlichen Personennah- und Fernverkehr, Agrarökologie anstelle von industrieller Landwirtschaft, Langlebigkeit von Produkten statt einer absichtlich verringerten Lebensdauer, eine aktive Politik zur Pflege und die Reorganisation von Räumen, von denen kollektives und gemeinschaftliches Handeln ausgehen kann, sowie die Förderung einer Kultur der Suffizienz.[5]

Der gegenwärtig von den Frauen geleistete Widerstand gegen das Vordringen des Marktes in die Territorien ist immer auch verbunden mit der Erarbeitung von Alternativen, der Wiederaneignung der Gemeingüter, vom Erhalt überlieferten Wissens und dem Aufbau von Beziehungen, die von Solidarität und Reziprozität geprägt sind. Beispiele hierfür sind die Agrarökologie und die solidarische Ökonomie. Die Frauen vom Volk der Lenka in Honduras, die die transnationalen Konzerne von ihrem Territorium vertrieben und ihr Land zurückgewonnen haben, sammeln jetzt Erfahrungen mit Gemeineigentum an Grund und Boden, das auch als solches registriert wurde. In Peru leisten heute Frauen unermüdlichen Widerstand gegen Bergbau-Unternehmen – wie einst ihre Vorfahren, die sich vor den Bedrohungen der spanischen Kolonisierung in die Berge flüchteten und dort gemeinschaftliche Lebensweisen hervorbrachten, die bis in unsere Tage fortexistieren.[6]

Viele Gemeinschaften, die bereits unter den negativen Auswirkungen von Monokulturen gelitten haben, organisieren heute den Widerstand gegen den Bergbau, wie z. B. die Gemeinschaften an den Ufern des Riacho dos Machados im Norden von Minas Gerais in Brasilien. Nachdem die Quilombola-Frauen und Landarbeiterinnen infolge der Naturzerstörung durch den Monokulturanbau von Baumwolle verarmten, sammelten sie Erfahrungen mit der Agrarökologie und organisieren sich nun, um gemeinsam das Vorrücken des Bergbaus zu stoppen.

Dank politischer Unterstützung und der Beteiligung von Basisbewegungen, die die Wasserversorgung mithilfe von Zisternen zur Speicherung von Regenwasser sicherstellen, gelang es den Frauen, eine traditionelle landwirtschaftliche Praxis wieder aufzunehmen.

In der Auseinandersetzung um das Berg­bauprojekt geht es im Kern also um die Kontrolle über das Wasser. Einen ähnlichen Fall gibt es in der Region Apodi im halbtrockenen Nordosten in Rio Grande do Norte (Brasilien), wo Frauen erbitterten Widerstand gegen die Umsetzung eines Bewässerungsgroßprojekts für den agroindustriellen Obstanbau in Monokultur leisten.

Weitere Erfahrungen betreffen urbane Gärten, wie sie in etlichen Ländern und sogar in New York betrieben werden. Neben ihrem nützlichen Beitrag zur Nahrungsmittelproduktion sind diese auch Räume für den sozialen Austausch und den Aufbau solidarischer und wechselseitiger Beziehungen.

Die Herausforderung besteht also darin, ausreichend soziale und politische Stärke aufzubringen, um eine alternative Politik durchzusetzen und ein anderes Gesellschaftsmodell zu ermöglichen. In diesem Sinne muss erst einmal diese Vision von der Mehrheit der Bevölkerung vertreten werden, und zwar auf der Grundlage eines politischen Prozesses unter Einbindung von kritischem Denken und der Mobilisierung für Transformationsprojekte. Einerseits kennen wir die Macht und Stärke der konservativen Sektoren. Andererseits wissen wir um die Schwierigkeiten innerhalb der sozialen Bewegungen und progressiven Kreise – insbesondere um die Schwierigkeit, eine Vision vom Kampf zu formulieren, die die verschiedenen Dimensionen von Unterdrückung (intersektional) miteinander verbindet. Über diese Vision wird es möglich sein, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Einheit zu schaffen, das die einzelnen politischen Akteurinnen und Akteure miteinander verbindet, und ein politisches Projekt zum Leben zu erwecken, das zugleich antikapitalistisch, antirassistisch, antikolonialistisch, antipatriarchal und wo sie Beratungs- und Bildungsprogramme für Frauengruppen, NGOs und Führungskräfte der öffentlichen Verwaltung anbietet.

 

Nalu Faria ist Autorin verschiedener Artikel über die Frauenbewegung. Von 2005 bis 2009 koordinierte sie das Red Latinoamericana Mujeres Transformando la Economía (Lateinamerikanisches Netzwerk von Frauen für die Umgestaltung der Wirtschaft, REMTE).

Übersetzung aus dem Spanischen: Martin Schorr
Überarbeitet durch die Heinrich-Böll-Stiftung.
Dieser Artikel erschien in "Perspectivas Lateinamerika: Jenseits des Raubbaus. Lateinamerikanische Alternativen zum Extraktivismus".

 

Fußnoten

[1] Federici, Silvia (2014): O feminismo e as políticas do comum em uma era de acumulação primitiva, in: Sempreviva Organização Feminista: Feminismo, economia e política: Debates para a construção da igualdade e autonomia das mulheres, São Paulo.
[2] Herrero, Yayo (2011): Propuestas feministas para un sistema cargado de deudas, in: Revista de Economía Crítica. N 13. Asociación Cultural Economía Critica, Barcelona.
[3] Mit "Akkumulation durch Enteignung" bezeichnet der marxistische Theoretiker David Harvey Methoden der ursprünglichen Akkumulation, die zur Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems sukzessiv auf Bereiche ausgeweitet werden, auf die der Markt zunächst noch keinen Zugriff hatte. Während die ursprüngliche Akkumulation zur Schaffung eines neuen Systems führte, das an die Stelle des Feudalismus trat, hat die Akkumulation durch Enteignung zum Ziel, das gegenwärtige System zu verfestigen und trifft insbesondere die im Zuge der Überakkumulationskrise verarmten Sektoren.
[4]  Moreno, Renata (2013): Economía feminista: una visión antisistémica, in: Sempreviva Organização Feminista: En busca de la Igualdad, São Paulo.
[5] Die Kultur der Suffizienz hinterfragt das Produktions- und Verbraucherverhalten der reichen Länder und der Reichen in aller Welt. Sie schlägt alternative Organisationsformen für das Leben, die Arbeit und das Verhältnis zur Natur vor, bei denen das Wohlergehen der Menschen und ihrer Gemeinschaften im Mittelpunkt stehen.
[6] Siehe Fußnote 1.

Weiterführende Literatur

  • Carrasco, Cristina (2003):
    Sustentabilidade da vida humana: um assunto de mulheres?, in: Faria, Nalu/ Nobre, Miriam (Hrsg.): A produção do viver: ensaios de economia feminista, São Paulo.
  • Freitas, Tais Viudes de (2008):
    Experiências de socialização do trabalho doméstico na América Latina, in: Silveira, Maria Lucia da/ Tito, Neuza (Hrsg.): Trabalho doméstico e de cuidados: Por outro paradigma de sustentabilidade da vida humana, SOF, São Paulo.
  • León, Magdalena (2006):
    La perspectiva de las Mujeres,­ in: Integración: nuevas rutas. ­Reihe América Latina en Movimiento 414-5, Quito.
  • Puleo, Alicia (2011):
    Ecofeminismo para otro mundo posible, Madrid.