"In Chile herrscht eine regelrechte Angst vor dem Selbstbestimmungsrecht von Frauen"

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"Die Reichen zahlen, die Armen verbluten - Freie und sichere Abtreibung für alle": Plakat in Santiago de Chile, 2015

In Chile gilt eine der restriktivsten Abtreibungsgesetzgebungen weltweit. Der Schwangerschaftsabbruch ist seit 1989 ausnahmslos verboten. Erstmals seit Ende der Diktatur hat nun eine Gesetzesinitiative Aussicht auf Erfolg, die eine Legalisierung der Abtreibung in den ersten 12 Wochen in drei Fällen vorsieht: Bei Gefährdung des Lebens der Frau, Lebensunfähigkeit des Fötus sowie Schwangerschaft durch Vergewaltigung. Während die Bevölkerungsmehrheit laut Meinungsumfragen zustimmt, vergleichen Lebensschützer/innen in einer groß-angelegten Kampagne Abtreibung mit Folter, Tod und Verschwindenlassen zu Zeiten der Diktatur Pinochets.

Die Vorsitzende der feministischen Nichtregierungsorganisation Humanas Chile, Carolina Carrera, erklärt im Interview die Situation von betroffenen Frauen und die Hintergründe des Gesetzesprojekts. Die Psychologin und Beraterin des Nationalen Menschenrechtsinstituts des chilenischen Staates trägt seit vielen Jahren zu akademischen und zivilgesellschaftlichen Debatten über Geschlechtergerechtigkeit und Frauenrechte bei.

In Chile gilt ein Komplettverbot der Abtreibung. Welche gesundheitlichen Risiken gehen die Frauen ein, die unter nicht fachgerechten Bedingungen dennoch einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen?
Es gibt schwerwiegende Folgen im Bereich der reproduktiven sowie der psychischen Gesundheit. Die Frauen, die nach Komplikationen in ein Krankenhaus eingeliefert werden, befinden sich teilweise in Lebensgefahr. Oft durch die fehlerhafte Einnahme des Medikaments Misoprostol, das auf dem Schwarzmarkt gehandelt wird. Der medikamentöse Schwangerschaftsabbruch mit Misoprostol wäre heutzutage unter medizinischer Beobachtung eine der am wenigsten gefährlichen Abtreibungsformen. Aber die Frauen wissen nicht genau, was sie kaufen und wie man es anwendet.

Aber nicht alle sind gleichermaßen betroffen. Die soziale Ungleichheit spielt eine große Rolle, wie nun auch Präsidentin Bachelet in unserer Radiosendung eingestand. Frauen, die es sich finanziell leisten können, lassen in Privatkliniken innerhalb des Landes oder im Ausland abtreiben. Unter den schlechtesten Bedingungen leiden also einkommensschwache Frauen.

Mit welchen strafrechtlichen Konsequenzen müssen die Frauen rechnen?
Im Unterschied zu El Salvador gibt es in Chile derzeit keine Frauen, die wegen Abtreibung inhaftiert sind. Aber es gibt angeklagte Frauen, in deren Führungszeugnissen Entsprechendes vermerkt ist. Im Zeitraum 2006-2014 wurden laut Angaben der Defensoría Penal Pública ungefähr 300 Frauen angeklagt.

Im August und September diesen Jahres hat die Gesundheitskommission der Abgeordnetenkammer einem Gesetzesentwurf der Regierung zugestimmt, der die Legalisierung unter drei Bedingungen vorsieht: Bei Gefährdung des Lebens der Frau, Lebensunfähigkeit des Fötus sowie Schwangerschaft durch Vergewaltigung. Wie bewertet Ihre Organisation die Initiative?
Wir denken, diese Regelung ist ein Fortschritt und ein ethischer Mindeststandard. Sie wird die Problematik nicht grundsätzlich lösen. Immerhin hilft sie einer bestimmten Anzahl von Frauen. Diejenigen, die andere Gründe haben, um abzutreiben, werden aber immer noch kriminalisiert.

Die Initiative ist eine politische Vereinbarung zwischen den Mitgliedern des Parteienbündnisses, und der Verhandlungsspielraum war von Beginn an recht begrenzt. Das wussten wir alle. Die Initiative war so ausgerichtet, dass auch die Christdemokratische Partei (Mitglied des Regierungsbündnisses Nueva Mayoría, Anm. d. Red.) zustimmen konnte. Das hat Konsequenzen. Der Vorschlag der Regierung war gut, aber es ist unklar, was am Ende herauskommen wird.

Teile der feministischen Bewegung äußern scharfe Kritik an der Regelung. Warum?
In der feministischen Bewegung glauben einige, dass diese Gesetzgebung überhaupt nicht hilfreich ist, weil das Thema damit für eine lange Zeit vom Tisch sein wird. Sie befürchten, dass man damit die Möglichkeit verschließt, ein umfassenderes Selbstbestimmungsrecht der Frau durchzusetzen. Sie kritisieren, dass im Zentrum der Debatte Fragen der Gesundheit und nicht das Selbstbestimmungsrecht stehen. Andere entgegnen: Ja, das kann passieren, aber es öffnet uns auch eine Tür. Zunächst auf symbolischer Ebene, weil Abtreibung nicht mehr generell eine Straftat ist. Zweitens hilft die Regelung einer bestimmten Anzahl von Frauen. Drittens eröffnet sie einen rechtlichen Weg, um auch die anderen Fälle angehen zu können. Viertens gibt es in Chile gerade die Debatte über eine neue Verfassung und das wäre ein anderer Weg, um das Thema anzugehen.

Wie wurde die Abtreibungsfrage in der Gesundheitskommission verhandelt - polemisch?
Sehr polemisch! Es ist ein Thema, das spaltet. Ich war dabei, als über die Gesetzesinitiative abgestimmt wurde. Die politische Rechte hat die Initiative vollständig abgelehnt. Die Abgeordneten der Nueva Mayoría haben der Initiative zwar zugestimmt. Aber einige betonten, dass es sich um ein Thema der Gesundheit handelt und nicht um das Selbstbestimmungsrecht der Frau geht. Es gibt eine regelrechte Angst vor dem Selbstbestimmungsrecht. In Chile werden Frauen wie kleine Mädchen behandelt, die nicht entscheidungsfähig sind. Im Falle der Legalisierung nach einer Vergewaltigung wird angeführt, dass Frauen zukünftig immer vorschieben werden, vergewaltigt worden zu sein. Das sind die Argumente, die man im Kongress in der letzten Zeit vernehmen konnte. Es ist eine Schande!

Die erste Hürde ist mit der Zustimmung durch die Gesundheitskommission genommen. Wie geht es weiter?
Mitglieder der Gesundheitskommission haben Kommentierungen vorgenommen, die den Entwurf abschwächen. Ursprünglich sprach er von einer Legalisierung, wenn Gesundheitsrisiken für die Frau akut auftreten oder zukünftig zu erwarten sind. Das wurde auf den Fall des akuten Lebensrisikos beschränkt. Nun wird das Projekt an die Kommission für Verfassung, Gesetzgebung und Justiz weitergereicht. Anschließend muss das Plenum zustimmen bzw. entscheiden, ob Veränderungen vorgenommen werden. Dann geht die Gesetzesinitiative an den Senat. Wir hoffen, dass dieser Prozess nicht sehr lange dauert. Inzwischen wurden alle Organisationen angehört und es besteht die Gefahr, dass die Debatte übersättigt wird. Die Abgeordneten besitzen nun hinreichend Informationen, um zu entscheiden.

Aber Sie rechnen mit einer Zustimmung der Mehrheit?
Eigentlich dürften genügend Stimmen vorhanden sein, um die Initiative verabschieden zu können. Wir hoffen, dass alle Parteien der Regierungskoalition zustimmen. Denn es werden sogar dort Stimmen laut, dass die Abgeordneten eine Gewissensentscheidung treffen sollen. Warum stimmen sie in anderen Fragen, die unsere Demokratie betreffen, parteibezogen ab und hier soll es nun eine Gewissensentscheidung sein? Wenn es um das Gewissen ginge, müssten die Frauen befragt werden! Warum sollte das Gewissen der Abgeordneten stärker wiegen als das der Frauen?

Teile der Opposition haben bereits verlautbaren lassen, dass sie den Gesetzestext als verfassungswidrig einstufen. Halten Sie es für wahrscheinlich, dass der Gesetzgebungsprozess auf diese Weise noch einmal blockiert wird?
Die politische Rechte hat bereits angekündigt, das Projekt vor dem Verfassungsgericht anzufechten. In letzter Zeit sind sie mit Themen, die ihnen nicht passen, so verfahren. Feministische Jurist/innen bereiten sich gerade darauf vor, um die notwendige Argumentation parat zu haben, wenn es vor das Verfassungsgericht geht.

Das komplette Abtreibungsverbot ist ein Erbe der Diktatur Pinochets. Warum hat nach Ende der Diktatur 25 Jahre gedauert, bis nun eine Änderung angestoßen wird?
Bis 1989 legte das Gesundheitsgesetzbuch fest, dass der Schwangerschaftsabbruch im Falle eines tödlichen Risikos für die Frau legal war. Mit der Streichung dieser Regelung versuchte Pinochet kurz vor Ende der Diktatur Teile seines Regimes aufrecht zu erhalten – nämlich ein Gesellschaftsmodell, in dem Frauen keine Rechte haben.

In den vergangenen 25 Jahren wurden in Chile 17 Anträge auf eine Gesetzesänderung eingereicht; allerdings keiner von Seiten der Regierung. Die meisten wurden abgelehnt, die anderen wurden zu den Akten gelegt, ohne dass es zur Diskussion kam. Einzig der Antrag, den die Regierung Bachelet nun selbst ins Parlament eingebracht hat, hat zu etwas geführt. Zu Zeiten des Regierungsbündnisses Concertación fehlten unserer Einschätzung nach die Bedingungen, um das Projekt anzustoßen.

Was ist heute anders?
In den letzten drei Präsidentschaftswahlkämpfen wurde deutlich, dass der Frage nicht mehr ausgewichen werden kann. Das hat mit dem Kampf der feministischen Bewegung und den Medien zu tun, die es öffentlich gemacht haben. Dazu beigetragen hat auch, dass wir Abtreibung nicht nur als ethische Frage, sondern als Gegenstand der Demokratie und öffentlicher Politiken in die Debatte eingebracht haben. Die Präsidentschaftskandidat/innen wurden gezwungen, dazu Stellung zu nehmen.

Gab es außer der Mobilisierung der feministischen Bewegung andere Faktoren, die zur Neuverhandlung beigetragen haben?
Die chilenischen sozialen Bewegungen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Sie haben das Thema zwar nicht auf die Agenda gebracht, aber sie haben es aufgenommen. Heutzutage reden Akteur/innen wie die Präsidentin der Agrupación de Familiares de Detenidos Desaparecidos über das Recht der Frauen auf eine selbstbestimmte Entscheidung. Wir haben wichtige soziale Akteur/innen auf unserer Seite. Das war vor acht Jahren vielleicht nicht so. Die Stimmung ist anders. Die katholische Kirche hat nach den Missbrauchsfällen an Glaubwürdigkeit verloren. Dadurch befinden wir uns in einem politisch günstigen Moment. Und die Gesellschaft ist reifer geworden. Wir sagen: Die chilenische Gesellschaft weiß, was sie möchte, aber das Parlament nicht. Auch der internationale Druck hat dazu geführt, dass die Frage nicht länger aus Debatten ausgeklammert werden kann. Internationale Organisationen haben den chilenischen Staat seit 1989  informiert, dass die Gesetzgebung überarbeitet werden muss.

Steht die Gesellschaft in einem katholisch geprägten Land wie Chile eindeutig hinter der Liberalisierung der Abtreibungsgesetzgebung?
In den Meinungsumfragen sprechen sich 70 Prozent für die Entkriminalisierung aus, unter den Frauen sind es noch viel mehr. Sobald man aber die feministische Forderung einer generellen Entkriminalisierung zur Debatte stellt, befürworten das nur noch 20-30 Prozent. Ein Drittel spricht sich auch weiterhin für ein Komplettverbot aus. Es gibt also zwei Lager. Deswegen ist die vorgeschlagene Regelung die einzige Möglichkeit, momentan eine Mehrheit hinter sich zu haben. Eine Gesetzesinitiative, die den Schwangerschaftsabbruch komplett legalisiert, ist derzeit nicht durchsetzbar.

Das Interview entstand während Carolina Carreras Teilnahme an der Veranstaltungsreihe „Lateinamerika gegen den Malestream - Geschlechterdemokratie unter der Lupe?" des Lateinamerikareferats der Heinrich-Böll-Stiftung.


Schwangerschaftsabbruch in Chile
Laut chilenischem Gesundheitsministerium lassen jährlich 33.000 Mädchen Frauen eine Abtreibung vornehmen. Mehr als 10 Prozent sind in dieser Statistik Mädchen und junge Frauen zwischen 10 und 19 Jahren. Erfasst werden die Fälle, in denen Frauen nach Komplikationen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Studien von Wissenschaftler/innen und Nichtregierungsorganisationen gehen von mindestens 60.000 illegalen Abtreibungen pro Jahr aus. Schätzungen von Human Rights Watch zufolge treiben bis zu 160.000 Frauen jährlich ab; etwa 64.000 von ihnen sind jünger als 18 Jahre. Die Zahl der Fälle, die strafrechtlich verfolgt werden, scheint demgegenüber gering. So hat die chilenische Staatsanwaltschaft im Jahr 2014 in 174 Fällen ermittelt. Zwischen Januar 2011 und September 2012 waren es 310 Fälle. Dennoch ist diese Zahl höher als in den meisten Ländern weltweit.