Verantwortung sichtbar machen – Rassismus als vielschichtiges Problem

Sich mit den eigenen Privilegien auseinandersetzen - das war das Ziel der Tagung zu Rassismus und Männlichkeiten am 07.11.2015
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Sich mit den eigenen Privilegien auseinandersetzen - das war das Ziel der Tagung zu Rassismus und Männlichkeiten am 07.11.2015

Am 07.11.2015 fand die Tagung „Männlichkeiten und Rassismus“ in der Heinrich-Böll-Stiftung statt. Sie bot viele Chancen den je eigenen Rassismus zu reflektieren. Es war ein wichtiger Anfang für Weiße, um bündnisfähig zu werden.

Von Januar bis November wurden knapp 640 Straftaten registriert, die sich gegen Flüchtlingsunterkünfte richten. Fast dreimal so viele wie 2014. PEGIDA demonstriert seit 2014 seinen nationalistisch geprägten Fremdenhass und die rechtspopulistische AFD gewinnt zunehmend an Wählerschaft. Rassismus ist also nicht in erster Linie das Problem einer rechtsextremen Minderheit. Rassistische Strukturen und Handlungsmuster durchziehen sämtliche Milieus und Institutionen der Gesellschaft.

Ich begreife mich selbst als einen für Rassismus sensibilisierten Menschen und trotzdem, oder gerade deshalb, ertappe ich mich immer wieder dabei, eine vermeintliche Andersartigkeit allein aufgrund einer nicht-weißen Hautfarbe anzunehmen. Die Verknüpfung von „Fremdheit“ und einer anderen Hautfarbe ist für die weiße Mehrheitsgesellschaft in Deutschland leider immer noch grundlegend. Umso wichtiger ist die kontinuierliche Sensibilisierung für rassistische Strukturen, sowie das anhaltende Bestreben, sich von rassistischen Verhaltensweisen zu emanzipieren. Egal wer wir sind und was wir tun. Es betrifft uns alle.

Themenschwerpunkte und Kooperationen

Auf jener Grundlage begab sich auch das Forum Männer in Zusammenarbeit mit vier weiteren Kooperationspartnern auf die Suche nach den jeweils eigenen Rassismen in der politischen wie pädagogischen Praxis. Im Rahmen der Tagung  „Männlichkeiten und Rassismus“ galt es, beide Themenkomplexe miteinander zu verknüpfen. Fragen nach der wechselseitigen Legitimation, der oft erfolgten Trennung beider Bereiche sowie die Infragestellung der Privilegien weiß und heterosexuell stand hierbei im Zentrum der Veranstaltung.

Mithilfe der Initiative Schwarze Deutsche (ISD), dem Verband binationale Familien und Partnerschaften, des Bundesweiten Netzwerk Männlichkeiten, Migration und Mehrfachzugehörigkeit sowie dem Gunda Werner Institut (GWI) der Heinrich-Böll-Stiftung konnten sehr unterschiedliche Zugänge gewonnen und thematische Schwerpunkte gesetzt werden. So wurden im Workshop-Format unterschiedliche Kontexte beleuchtet: Rassismus in Schulbüchern, in Jugendämtern, in der transkulturellen Jungenarbeit, als versteckte Haltung von Sozialarbeiter_innen, in rechtspopulistischen wie rechtsextremen Bewegungen, in Flüchtlingsunterkünften sowie als prägendes Element für die Identitätsausbildung von People of Color und Schwarzen Jungen.

Der Auftakt der Veranstaltung – Ein warmes Gefühl im Bauch

Kurz vor knapp laufe ich zügig in das Hauptgebäude der Heinrich-Böll-Stiftung. Die Tagung findet im großen Veranstaltungssaal statt. Ich nehme Platz, atme einmal tief durch und schaue mich um: erstaunlich viele Männer*.1 Die Mehrheit wird sich womöglich bereits viel mit kritischer Männlichkeitsforschung und feministischen Inhalten beschäftigt haben. Dieser Gedanke macht mir ein sehr warmes Gefühl im Bauch. Die Veranstaltung beginnt. Die genannten Vereine stellen sich vor und benennen kurz ihre Motivation für die Auseinandersetzung mit dem Thema der Tagung. Die Verknüpfung von kritischer Männlichkeitsforschung und Rassismus wurde sowohl in der Forschung wie in der (pädagogischen und politischen) Praxis deutlich vernachlässigt. In diesem Punkt sind sich alle einig. Dementsprechend soll „diese Tagung hoffentlich kein Strohfeuer bleiben“, so einer der Redner*. Es folgt eine szenische Darstellung von Alltagsrassismen in Form einer Satire.

Der weiße „spielt“ den Nicht-weißen: Die erste politische Intervention

Zunächst wird durch einen klassischen Prolog der Kontext etabliert. Das Theaterstückt, so scheint es, spielt mehr oder weniger im heutigen Deutschland. Der Protagonist Mehmet2 betritt die Bühne. Mehmet hält kurz inne, überlegt und etabliert dann, dass er* sich kurzfristig um entschieden hätte. Mehmet ist nicht bereit den „Migranten zu spielen“. An seiner Stelle soll sein Kollege Karl die Rolle übernehmen. Warum? Er ist weiß, und nicht wie Mehmet Person of Color. Wie gewinnbringend! Einen Weißen die Erfahrungswelt eines Nicht-Weißen durchleben zu lassen, exemplarisch, auf der Bühne, vor Publikum, für alle. Über diese überraschende Wende, freue ich mich sehr.

Im Folgenden wird ein Monolog vorgetragen, der uns veranschaulichen soll wie es sich anfühlt und was es konkret bedeutet als nicht-weiße Person in jenem Kontext aufzuwachsen. Mehmet fungiert dabei als Regisseur, motiviert, unterstützt und korrigiert das sogenannte Spiel von Karl. Es werden diverse Beispiele für stereotype Vorverurteilungen dargestellt. So wird vom Vorwurf berichtet, etwas gestohlen zu haben; das während der Pubertät besonders auf einen geachtet wird, aus Angst vor möglichen sexuellen Übergriffen der (nicht-weißen) Jungs gegenüber den (deutschen) Mädchen; die Kompetenzen und Werte der Eltern werden abgewertet; die eigene Sprache ist keine „relevante Fremdsprache“ und der Versuch der (nicht-weißen) Eltern sich anzupassen, endet in einer ungesunden Selbstverleugnung: Angleichung statt Partizipation. Ein schöner Themenaufriss, niedrigschwelliger als ein Eröffnungsvortrag, unmittelbar und mitunter sogar lustig. Nur dass die Spielenden ihre Texte von Karteikarten abgelesen haben hat dem Ganzen etwas die Glaubwürdigkeit genommen.

Mitdenken, anregen und entscheiden

Während des Theaterspiels wurden acht charakteristische Schlagwörter gut sichtbar auf große Pinnwandtafeln befestigt. Der anschließende Arbeitsauftrag lautet: Stellt euch zu den Wörtern, diskutiert sie und schreibt eure Gedanken dazu. Schön wie wir gleich mit einbezogen werden. Das aktiviert den eigenen Kopf und setzt den Einstieg nahtlos fort.

Im Anschluss beginnt die Workshopphase. Viel zu viel Auswahl, mein Kopf brummt: ich entscheide mich für „National Patriarchal“. Wir schauen uns einschlägige Bilder nationalistisch-rassistischer Bewegungen an und untersuchen sie auf ihre Charakteristika. Gegen Ende versuchen wir die Ergebnisse entlang der durch die Veranstalter_innen aufgestellten Leitfragen zusammenzufassen. Wie so oft wird sich dabei in akademischen Formulierungen und hochkomplexen Erklärungsansätzen überschlagen. Es wird theoretisch wild abstrahiert um bloß nicht ausschließend zu sein. Das mag zwar gut gemeint sein, doch es fehlt der Praxisbezug.

Wir alle sind gegen Ende sehr erschöpft und trotzdem bereichert um neue Gedankenansätze.

Weg vom weißen, akademischen Diskurs:
Die zweite politische Intervention

Am Ende sollen Ergebnisse und Eindrücke geteilt und zusammen getragen werden. Die dafür angedachte Methode heißt Fish-Bowl. Sämtliche Stühle im Saal sind in kreisform angeordnet. Das Zentrum bildet ein Stuhlkreis, in dem zunächst die Moderation Platz nimmt. Sie erläutert den angedachten Ablauf: Zunächst können erste Eindrücke, Wahrnehmungen und Gefühle zu den Workshops geteilt werden. Im Anschluss soll sich über Ergebnisse im Hinblick auf die Leitfragen der Tagung ausgetauscht und zuletzt eine Art Ausblick formuliert werden.

Die erste Runde wird eröffnet, jemand kritisiert die akademische Sprache und sieht darin das Problem, das Diskutierte auf die praktische Handlungsebene zu übersetzen. Eine lange Pause entsteht. Nur langsam kommt der Austausch voran. Eine weitere Person setzt sich in den Kreis und erklärt, dass er* dazu gekommen sei, weil ein People of Color beim Thema Rassismus sichtbar sein sollte. Des Weiteren fügt er* hinzu, dass bei ihnen eher kritisch und sehr kontrovers diskutiert wurde. Auch sei bei ihm* der Eindruck entstanden, dass mit Betroffenheit aufgrund von Zeitdruck nicht ausreichend sensibel umgegangen werden konnte. Trotzdem war er* positiv überrascht, dass sich seine* Angst vor Rechtfertigungsforderungen beziehungsweise vor einer Leugnung von Rassismus nicht bestätig hat. Einer der Workshopleiter* berichtet von einer sehr angenehmen Erfahrung. Er sagt, es sei eine sehr offene und fehlertolerante Atmosphäre gewesen, in der voneinander profitiert werden konnte. Darüber hinaus benennt er* die Notwendigkeit der Sensibilisierung für Rassismus in sämtlichen Institutionen. Dabei nimmt er Bezug auf rassistisch motivierte Inobhutnahmen von Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund durch die Jugendämter.

Der nächste Einwurf kommt zunächst sehr akademisch daher: wir müssen stets beides im Blick haben, die Subjektposition und die Strukturebene. Dann wird es konkreter: …und nicht immer nur mit dem Finger zeigen und sagen: diese Struktur oder dieser Mensch ist rassistisch. Mehr oder weniger kurz darauf meldet sich jemand zu Wort, der vorbereitend sagt, dass es jetzt unangenehm werden könnte.

Vehement und nachdrücklich vermittelt er seinem Vorredner*, dass es anmaßend sei eine derartige Position zu behaupten. Denn: wenn etwas rassistisch ist, dann gehört das als solches benannt. Ich höre deutlich raus, dass damit eine Praxis gemeint ist, die einen durchaus emanzipatorischen Effekt erzielen kann: benenne, was dich kaputt macht und schrei zurück wenn du dich dann besser fühlst. Lass dir nicht alles gefallen. Für mich hat er* klar das Recht dazu sich so zu verhalten, denn er ist betroffen, er ist nicht-weiß. Der Saal ist still.

Falsche Rücksicht auf die Aggressor_innen

Eine Spannung liegt im Raum. Der Vorredner* reagiert irritiert, sagt, er habe das nicht verstanden. Aus dem Publikum sagt jemand: schade.

Ein Workshopleiter*, ebenfalls nicht-weiß, ergreift das Wort und erklärt weiter:

People of Color haben durch rassistische Strukturen, denen sie ausgesetzt sind, zwangsläufig ein anderes Selbstverständnis als Weiße. Zwischen beiden Perspektiven klafft eine sehr große Lücke. Wenn ich jemanden treffe, der_die nicht-weiß ist, dann teilen wir sofort einen Konsens, eine tiefe Verbindung,  durch den gemeinsamen Erfahrungshorizont. Da brauchst du dich nicht erklären, wir teilen das gleiche Schicksal. Da gibt es dann kein „aber warum empfindest du das als so schlimm?“ oder dergleichen.

Manchmal sind es nur sehr kleine, sogenannte Mikroaggressionen, die jedoch durch ihre Häufigkeit und ständigen Wiederholung sehr schmerzhaft sein können. Der Versuch jemandem, der weiß ist genau das zu erklären, zu erklären was diesen Schmerz ausmacht und was er für mich bedeutet, ist sehr schwer. Meist habe ich es dann oft mit zwei Reaktionen zu tun. Entweder klappt mein Gegenüber in sich zusammen, hält es nicht aus oder das was ich versuche zu sagen wird vehement abgewehrt. Letzteres bedeutet, dass meine Erfahrungswelt geleugnet, relativiert oder mir die Verantwortung zugeschoben wird. Also muss ich diesen Schmerz kontrollieren und strategisch abwägen: wie viel von meinem Schmerz verträgt mein Gegenüber? Denn ich mache wiederholt die Erfahrung, dass es für Weiße sehr schwer zu sein scheint diesen Schmerz auszuhalten und anzuerkennen. Und diesen Schmerz spüre ich alltäglich, mal mehr, mal weniger. Und ich will mein Gegenüber auch nicht verschrecken. Ich muss ja irgendwo auch dankbar sein, wenn sich jemand für meine Erfahrungswelt interessiert. Aber ich appelliere an euch, so schwer es auch sein mag: lasst den Schmerz zu, haltet es aus. Empfindet nur für diesen einen Moment, was Rassismuserfahrene mitunter jeden Tag durchleben.

Weiße Abwehr – ich will doch nur helfen

Wir sind alle sehr berührt. Jemand spricht genau das aus und bedankt sich. Ich bin auch sehr dankbar: für diesen radikalen Realitätsbezug, fernab von jedwedem weiß-akademischen abstraktem Geschwätz à la es ist so kompliziert. Hier geht es um Gefühle. Genauer gesagt um ein sehr konkret fassbares Gefühl des Ausgeschlossen-Seins. Es geht um die Lebensrealität von Nicht-Weißen im heutigen Deutschland. Und obwohl das Gesagte sehr gut portioniert, der Schmerz strategisch gut platziert wurde, fühlt sich gegen Ende jemand ausgeschlossen. Ausgerechnet eine weiße Person muss dann doch noch sagen, dass sie Nicht-Weiße gerne unterstützen würde und nun das Gefühl habe, ihr würde das versagt werden. Zu allem Überfluss wird darauf ausführlich eingegangen bis die Zeit vorüber ist und der Austausch sowie die Veranstaltung abgeschlossen wird. Schade. Einmal ging es nicht um dich liebes Weiß-Sein und doch hast du es wieder einmal geschafft, dich in den Vordergrund zu drängen.

Fazit

Auch wenn es mehr um die Basics zu Rassismus als um die Verschränkung von Männlichkeiten und Rassismus ging, so kam es doch zu einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit Rassismus. Ich denke, dass die Mehrheit der Anwesenden es für einen Moment geschafft hat, diesen Schmerz auszuhalten, anzuerkennen und ein Stück weit nachzuempfinden. Die zuvor beschriebene Lücke zwischen Weißen und Nicht-Weißen mag vielleicht für diesen einen Moment ein wenig geschrumpft sein. In jedem Fall hat mich der oben angeführte Redebeitrag nachhaltig geprägt.

Es war ein guter Anfang, aber eben erst der Anfang.

 

1Die Sternchen-Markierung wird in diesem Text dafür verwendet darauf aufmerksam zu machen, dass es mehrere Männlichkeitsentwürfe gibt. Männlichkeit lässt sich demnach nicht auf einen Entwurf reduzieren. Männliche Verhaltensweisen, Praxen und Symbole bleiben in sexistisch geprägten Gesellschaftsstrukturen wie Deutschland dem weiblichen Pendant gegenüber jedoch stets privilegiert.

2Die Namen wurden frei erfunden