Ayeda Alavie und Martin Pflanzer am 17.11.16 in Buch in der Au

An einem Wintermorgen

Die allerletzten Brotscheiben des Herbstes
wurden vom Wind verweht

Der Himmel war blau und lila durch die Schläge der Kälte
Der Sonnenaufgang versteckte sich mit roten Wangen

hinter den Bergen

Der Wind zitterte
Die Wolken husteten

Und die Dachrinnen niesten

Scheinbar war der Himmel erkältet

Standbild aus dem Crowdfunding Video
Teaser Bild Untertitel
Standbild aus dem Crowdfunding Video

Gerade hat Ayeda Alavie ihr Publikum noch vorgewarnt: Sie wird sicherlich zu leise lesen, und wahrscheinlich auch nicht gut. Da hängen ihr die Besucher von Buch in der Au schon an den Lippen und erleben, wie die Münchner Iranerin mit Gheysar Aminpour auf Deutsch und auf Persisch einen mehr als verschnupften Wintermorgen erstehen lässt - an einem Novemberabend im bis zum letzten Stuhl besetzten Buch in der Au.

Die beiden iranischen Dichter Gheysar Aminpour (1959 bis 2007) und Biok Maleki, die Ayeda an diesem Abend noch in mehreren Gedichten würdigt, waren Redakteure bei der iranischen Jugendzeitschrift des Rundfunks, Soroush Nojavan. Dort arbeitete Ayeda schon als Teenager. Die literarisch anspruchsvolle und auflagenstarke Zeitschrift war nicht nur für Jugendliche, sondern hatte diese auch als Autoren und Reporter. Als Ayeda dreizehn war, beteiligte sie sich an einem der regelmäßigen Wettbewerbe der Zeitschrift, einem Reportagewettbewerb für zwölf- bis  achtzehnjährige. Sie gewann den Wettbewerb in Teheran und konnte sogleich ihre Karriere als jugendliche Reporterin des Sorush Nojavan beginnen. Gleichzeitig schrieb sie Geschichten und Gedichte, angeleitet oder zumindest redigiert von renommierten persischen Dichtern. Journalismus, Gedichte und Geschichten, eine Kombi, die für Ayedas Multibegabung spricht, die für den Iran aber nicht völlig ungewöhnlich ist, wird klar, als Ayeda ein wenig mehr über persische Literatur spricht. „Persische Literatur ist im Grunde gleichzusetzen mit persischer Dichtung“, sagt sie. „Jeder im Iran hat schon mal etwas gedichtet.“ Martin Lickleder ergänzt, 70 Prozent der iranischen Blogs würden zur Veröffentlichung von Gedichten genutzt. Ayeda kommt nicht umhin, einen in grünes Leinen eingebundenen Wälzer hochzuheben: Hafes (ca .1350 bis 1390, bekannter persischer Dichter und Mystiker). Sie sagt, jeder Automechaniker in Iran kann Hafes zitieren und Hafes begleitet Ayeda auch bei ihrem Leben in Deutschland.

Bei der Jugendzeitschrift lernte Ayeda schreiben und dichten und ihr journalistisches Handwerk. Gleichzeitig war sie ihr Sprungbrett zum angegliederten Radiosender „Radio Teheran“. Schon als zwanzigjährige verdiente sie dort als angesehene Redakteurin ihren Lebensunterhalt. Irgendwann allerdings war es ihr nicht mehr möglich, in ihrer Heimat zu bleiben.

Schon in Iran und schon in jungen Jahren kommt Ayeda in Kontakt mit deutscher Literatur. Heinrich Bölls Roman „Und sagte kein einziges Wort“ hat sie allein fünfmal gelesen, und zwar in einer vom Englischen ins Persische übersetzten Fassung - in Iran existieren bis heute kaum Direktübersetzungen aus dem Deutschen ins Persische. „Und sagte kein einziges Wort“ war dann auch das erste Buch, dass Ayeda nach ihrer Ankunft in Deutschland vollständig las, auch wenn sie dabei längst nicht jedes Wort verstand. „,Beichten‘, das schöne Wort ,Beichten‘ habe ich zum ersten Mal in diesem Buch gelesen“ sagt sie, und nicht zum ersten Mal an diesem Abend lächelt sie, obwohl oder vielleicht auch gerade weil sie gleich etwas Trauriges berichten wird. In Deutschland habe sie viele liebe Leute kennen gelernt, sagt Ayeda. Allerdings: Das Ankommen in Deutschlandfällt ihr erst mal schwer, was vielleicht ein wenig auch daran liegt, dass sie Deutschland noch nicht mal ansatzweise als ihre zukünftige Heimat sehen kann. Das geht einher mit der Erkenntnis: alles, was Ayeda in Iran gemacht und dargestellt hat zählt in Deutschland nicht mehr. Sie ist ihrer Heimat beraubt und ihrer Sprache und damit ihrer wichtigsten Ausdrucksform und ihrer Arbeit. „Ich war eine Autorin und Journalistin, ich konnte mir die Angebote aussuchen, überlegen, welche ich annehme und welche ich ablehne“ erklärt sie. Zwei Jahre nach ihrer Ankunft fängt sie wieder zu schreiben an, auf Deutsch. In der Erzählung „Öl und Essig“, die Ayeda, wie auch alle übrigen Gedichte und Geschichten an diesem Abend, im Stehen und mit fester Stimme vorträgt - verwebt sie Erlebnisse aus ihren Ankunftsjahren mit Erinnerungen an ihre Familie. Handlungsort ist eine Hamburger Pension:

Der Korridor mit den geschlossenen Zimmertüren hat einen dunklen, kellerähnlichen Atem, mit dem er mich umarmt, sobald er mich durch seine Tür und in sich hinein geschluckt hat. In seinen riesigen Fischbauch, in dem ich die vermissten Stücke meines Lebens entdecke. Mein Leben samt Vater mit seinen leeren, nassen Zigarettenschachteln. Samt unserem Hof, der nach frisch gewaschener Bettwäsche riecht. Samt unserem Keller, der sich seit dem Krieg in einen Zufluchtsort verwandelt hat.
Jeden Tag tauche ich unter dunkles Moos und fließe in diesem Korridor. Jeden Tag beneide ich den in Essig eingelegten Blumenkohl und die Auberginen, die den Sandkörnern der Zeit trotzen, während die Blumen unserer Bettwäsche blasser werden und Großmutters Haut mehr Flecken bekommt. Jeden Tag fließe ich von Zimmer zu Zimmer und klopfe. Mein Herz klopft. Bei jedem Klopfen denke ich, dass ich die Gäste störe. Sachte muss man einen Schlafenden aufwecken, nicht plötzlich, sagte die Großmutter immer. Denn die Seele weilt nicht beim schlafenden Körper. Bis sie wieder da ist, dauert es eine Weile. Ich denke an die unzähligen Seelen, die weg geflossen sind: In Tränen. In Schweiß. In blutigen, öligen Flüssen. Ich sehe in den Raucheretagengästen flüchtige, vor Kälte und Gefahr in den quietschenden Betten Zuflucht suchende Passagiere, die in dieser Großstadt keine Familie haben. Wie ich. Wie ein Schwamm schleiche ich vor die geschlossenen Türen und klopfe so leise wie möglich. Viele antworten nicht. Sie sind schon längst abgereist, mit ihrem Reisegepäck, das meistens aus Discounter-Plastiktüten besteht: Mal umweltfreundliche, mal unfreundliche.

Ayeda hatte viele Jobs nach ihrer Ankunft in Deutschland, hat unter anderem in einer Pension geputzt, als Kellnerin gearbeitet und als Büglerin. „Büglerin war der schönste Job, ich habe ihn genossen“, sagt sie. Auch weniger schöne Jobs übersteht sie - auch, weil sie durch die strenge Schule der Jugendzeitschrift gegangen ist: „Wenn du über etwas schreiben willst, dann erlebe es!“ haben ihr ihre Redakteure beigebracht und Ayeda versteht all das, was ihr in den ersten Jahren in Deutschland widerfährt, als beschreibenswerte Erfahrung. Sie schreibt über die Arbeit in der Pension, sie schreibt übers Bügeln, sie schreibt über Leute, die ihr begegnen.

Einer ihrer Jobs in München, Kinderbetreuung bei einer sehr lieben Familie, führt sie indirekt zu einem ganz anderen Thema, fällt ihr ein, während sie neben Lickleder am Lesetisch sitzt und durch die Schaufenster der Buchhandlung auf die Humboldtstraße blickt. Mit den Kindern sei sie fast täglich die Humboldtstraße entlang spaziert. Hier in der Buchhandlung habe sie Bücher für sie gekauft. „Und ständig sind wir zum Südfriedhof gegangen.“ Die Menschen sehen diesen Friedhof als Park, sie küssen sich dort beispielsweise. In Iran wäre das nicht möglich, dort sind die Häuser neben Friedhöfen billig. Ayeda schätzt den Südfriedhof inzwischen, neben ihm leben will sie nicht. „Ich müsste wahrscheinlich jeden Tag an den Tod denken und würde die Seelen fühlen.“

2009, nach den iranischen Präsidentschaftswahlen, wird Ayeda in zwei Stunden eine dichte sechs Seiten lange Erzählung schreiben. In „Persimone“ schildert sie, was sie denkt und empfindet, als sie sich durch all die YouTube-Videos klickt, welche die Proteste in Iran dokumentieren, die

 jeder von euch ohne Drehbuch und Regie, ohne Licht und Kran ohne Produzent und Kostüm und mit eigenem Handy gefilmt hat. Sie schreibt auch über Neda, ein Mädchen, das vor Gottes Augen erschossen wird. Mein Vater kann nicht mehr bluten. Neda kann nicht mehr bluten. Ihr blutet aber immer noch. Es flutet in mir. Eine salzige, brennende Flut. Das Bild von einer Frau, die die Stiefel eines Soldaten küsst, ist das letzte Bild, das ich in letzten Sekunden sehe. Das Bild kenne ich. Meine Großmutter küsste auch die Schuhe von Männern, die unser Haus ohne Meldung regelmäßig durchsuchten.

Wochen nachdem die Erzählung geschrieben ist, erfährt Ayeda von einem Fürther Literaturwettbewerb. Sie bewirbt sich und erhält - bei 500 Einsendungen - den zweiten Platz, eine Veröffentlichung in einer Anthologie ( Hrg: Frohberger Axel: Texte zum Antho? - Logisch! - Literaturpreis 2010. axel dielmann- Verlag). Die Anthologie erscheint 2010. Ayeda wird nach Fürth eingeladen, um an einer Lesung teilzunehmen. Sie liest und fühlt sich - elf Jahre nach ihrer Ankunft in Deutschland - zum ersten Mal wieder in ihrem eigenen Metier. Sie schreibt weiter an Erzählungen und Gedichten und arbeitet auch als literarische Übersetzerin. Zu ihren Übersetzungen zählen Michael Endes „Wunschpunsch“ und Christine Nöstlingers „Maikäfer flieg“. „Maikäfer flieg“ wird 2015 ausgezeichnet - mit fünf „Fliegenden Schildkröten“, die in Iran für Bücher und Übersetzungen vergeben werden, die man nach Meinung der Jury gelesen haben muss.

Auch von der bedeutenden Kinderbuchautorin Azra Jozdani liest Ayeda im „Buch in der Au“ ein Gedicht, auf Persisch und auf Deutsch.

Geruch

Wenn meine Trauer sich überall im Haus verbreitet
sitzt du in einer Ecke

mit all deinem kleinen Spielzeug
Teddybären, Puppen, bunte Murmeln
Und riechst meine Trauer
Und atmest meine Trauer ein und schickst sie in deine lieben Lungen
Und sagst nichts

Meine Trauer wird mit dem Geschirr gewaschen
Sie schläft auf den Kopfkissen

Sie liegt auf dem Staub der Tische
Und tanzt auf den Musiknoten
Und du sitzt in einer Ecke
Mit deinen kleinen Spielsachen
Rot und rosa Luftballons, bunte Bleistifte

Meine Trauer tropft von den nassen Fingerspitzen
Und von den schaumvollen Handschuhen
Und versteckt sich zwischen den
zusammengefalteten Klamotten
und Bettwäsche, die nach Körper riecht

Und du riechst
wie ein kleines Tier,

das sich in einer Ecke versteckt
mit zwei glänzenden schwarzen Augen
in einem kleinen Brautkleid
und einer kleinen lachenden Puppe in deiner Umarmung

Der zweite, wesentlich kürzere Teil des Abends widmet sich der Gründung des Hagebutte Verlags. Azra Jozdanis Gedichtband „Zwischen Zwei Migränen“ in deutscher und persischer Sprache soll zu den ersten Veröffentlichungen gehören. „Hagebutte ist einfach ein schönes Wort“ sagt Martin Pflanzer und schließt dann auch gleich mit der Entstehungsgeschichte des Verlags an. Die ursprüngliche Idee war es, eine Zeitschrift herauszugeben, die dem literarischen Austausch dient.

Das Procedere: Texte aus allen Sprachen werden ins Deutsche übersetzt und aus dem Deutschen in alle Sprachen.

Der Gedanke dahinter: Literatur als Sprachrohr, das einen Austausch auf ganz anderer Ebene ermöglicht als beispielsweise Journalismus.

Die Realisierung: hoch kompliziert.

Im Herbst 2015 entscheidet er sich deshalb für ein kaum weniger ehrgeiziges Projekt. Einen Verlag, der u.a. persischsprachige Literatur (also Literatur nicht nur aus dem Iran, sondern auch Tadschikistan und Afghanistan) auf Deutsch und deutschsprachige Literatur auf Persisch präsentiert und dabei besonders großen Wert auf Kinder- und Jugendliteratur legt. Unter dem Dach eines solchen Verlags, der durch erste Publikationen etabliert ist, sollen dann auch Projekte mit und für Kinder und Jugendliche aus allen Sprachräumen stattfinden, v.a. auch für Geflüchtete. Dadurch soll ein literarischer und intensiver Austausch zwischen den Kulturen ermöglicht werden.

Gründe für solch einen Verlag gibt es viele: Der Markt für diese Literatur existiert, der entsprechende Verlag noch nicht. Der Verlag wird also gegründet, die Homepage existiert bereits  die Möglichkeit, ihm via Crowdfunding an den Start zu helfen auch.
Auch wenn die Luft immer dünner wird und das Gespräch zwischen Ayeda Alavie und Martin Lickleder objektiv betrachtet länger und länger andauert - und das ohne Pause - folgt das Publikum bis zuletzt hochkonzentriert den Ausführungen der Beiden. Aus denen wird vor allem eins klar: Ayeda Alavie ist eine Autorin, Übersetzerin und Illustratorin, die ihr eigenes Schreiben und ihre zukünftige Arbeit auch als eine „Liebeserklärung an die deutsche Sprache“ sieht; die leuchtende Augen bekommt, wenn sie beschreibt, wie wunderbar sich die deutsche Sprache „biegen“ lässt. Eine Frau, die etwas reißt und dabei nicht vorgeben muss stark zu sein, sondern sich und anderen ihre Schwäche eingesteht, vor allem ihre Schwäche für die Literatur.