Es wird Frühling, Schneeflocke!

Feministischer Zwischenruf

Gendersternchen? Sexuelle Vielfalt? Feministische Gesellschaftskritik? Für Konservative werden in der Gesellschaft solche Themen zu weit getrieben. Sie sind jedoch diejenige, die eigentlich ihre Kritikempfindlichkeit nicht reflektieren.

Schneeflocke
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Die konservative Schneeflocke sehnt sich nach ihrem konservativen Safe Space zurück

In Berlin wurde vor kurzem offenbar nur knapp ein Missbrauchsskandal ungekannten Ausmaßes verhindert. Die Opfer: Kita-Kinder. Ziel der Verschwörer: „Staatlicher Missbrauch und die Manipulation der Kinder durch die LGBT-Lobby“. So stand es zumindest in einer von 50.000 Menschen unterzeichneten Online-Petition. Deren Forderung nach einem Stopp der „Frühsexualisierung“ schloss sich auch die CDU im Berliner Abgeordnetenhaus an.

Der Grund für die Aufregung entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als ziemlich banal: In einer Broschüre des Berliner Senat konnten sich Kita-Erzieher*innen informieren, wie sie ihre Schützlinge über homosexuelle Partnerschaften aufklären können. Können, nicht müssen. Doch noch bevor auch nur eine Pädagog*in die Broschüre zu Gesicht bekam, hatten Medien, Politiker und Bürgerinitiativen schon die große Homo-Verschwörung ausgemacht.

Die Angst vor der Zwangsverschwulung unserer Kinder ist nur ein Beispiel aktueller konservativer Weltuntergangprognosen. Meinungsdiktatur! Kulturbarbarei! Gesinnungsterror! Tod der Debattenkultur! Moralische Erpressung! Sprachfaschismus! Täglich vermelden Konservative in Feuilletons, Facebook-Feeds und Talkshows den bevorstehenden Wertekollaps und Staatszerfall – herbeigeführt von „Gender-Gaga-Aktivistinnen“ und „Tugendterroristen“.

Können ein paar Studis aus Berlin-Marzahn wirklich die Kunstfreiheit bedrohen?

Letztere Bezeichnung stammt von Peter Huth, dem Chefredakteur der „Welt am Sonntag“. Er hatte damit Studentenvertreter*innen der Berliner Alice-Salomon-Hochschule charakterisiert. Die mit dem Gomringer-Gedicht an der Hauswand. Es gibt viele Gründe, warum man deren Entscheidung, das Gedicht wegen vermeintlichen Sexismus von der Hauswand zu entfernen, kritisieren kann: als überheblich, als Ausdruck fehlenden Respekts vor dem Künstler, vielleicht als Anflug typisch studentischen Größenwahns. Aber sind das wirklich die Attribute, die die Terrorherrschaft der französischen Jakobiner kennzeichneten, welche die BILD zum Vergleich heranzog?

Warum hat man bei viele Kommentaren zum Thema den Eindruck, es handle sich um eine UNESCO-Bericht aus Afghanistan oder Nigeria und nicht um einen Beitrag zu den Vorgängen an einer deutschen 3000-Leute-Uni: „Schariapolizei“ (Huth), „erschreckender Akt der Kulturbarbarei“  (Kulturstaatsministerin Monika Grütters), „Säuberung“ (Gomringer selbst)… Droht aus Marzahn-Hellersdorf wirklich der „Generalangriff auf unsere Kultur und damit auf unsere Freiheit“  (Huth)? Oder sind es nicht viel eher die Köpfe mancher Kommentatoren, in denen der intellektuelle Ausnahmezustand ausgebrochen ist?

Das Ende des konservativen Safe Spaces

Als Snowflakes bezeichnen Rechte häufig überempfindliche Student*innen, die im Zweifel mit Sprechverboten, Moralkeulen oder dem Überstreichen von Hauswänden versuchen, ihre Unis in linke „Safe Spaces“ zu verwandeln. Ich finde, diese Charakterisierung passt auch ganz gut zu vielen Konservativen, die stets nur einen pathetischen Allgemeinplatz von der nächsten Weltuntergangsvision entfernt sind. Die in jedem öffentlichen Widerspruch den Untergang der Debattenkultur ausmachen und eigentlich das Ende ihrer Diskurshoheit meinen. Kann es sein, dass wenn manche Konservative Meinungsfreiheit fordern, sie sich in Wahrheit nach der Meinungseinheit in ihrem konservativen Safe Space zurücksehnen? Zurück in eine Zeit, bevor all die Feminist*innen, Veganer*innen, Muslim*innen, geflüchteten Menschen und Homos anfingen mit ihren Forderungen nach Teilhabe zu nerven? Könnte es sein, dass diese latent panischen Konservativen die wahren Snowflakes sind?

Denn wie empfindlich muss man eigentlich sein, um in einer einzelnen ASTA-Entscheidung oder Behörden-Broschüre einen Zivilisationsbruch auszumachen, um bei den banalsten Anlässen den Untergang von Demokratie, Freiheit und Abendland herbei zu halluzinieren: Zu wenig Schweinefleisch in der Cafeteria? Zu viele Flüchtlinge in der Sauna? Steht da jetzt Südseekönig? Und dort etwa ein Gender-Sternchen?

Die einzig legitime Opfergruppe ist weiß, männlich und hetero

Möglich wird solch ein Grad an Überempfindlichkeit nur durch konsequente Realitätsverweigerung. Zwischen all dem Gejammer, wer sie islamisieren, zum Sexualverbrecher erklären und mundtot machen, kommt die konservative Schneeflocke gar nicht mehr dazu, ihre Überfremdungsparanoia mit der Wirklichkeit abzugleichen. Deshalb hier ein kurzes Status-Update zu Islamisierung, Veggie-Diktatur und Gendergaga für Deutschland im Jahr 2018. Muezzin-Rufe: 0. Schweinefleischkonsum: so hoch wie nie. Menschenrechtsorganisationen, die die Gruppe weißer heterosexueller Männer bisher als Opfer staatlicher Verfolgung anerkannt haben: keine.

Opfergehabe werfen Konservative häufig Minderheiten vor, die auf Diskriminierung aufmerksam machen - und reklamieren zugleich den einzig legitimen Opferstatus für sich selbst. Nirgends trat diese Kluft aus chronischem Selbstmitleid und völliger Empathielosigkeit gegenüber tatsächlich Diskriminierten in jüngster Zeit so krass zu Tage wie in der #MeToo-Debatte. Zum Schutz manch konservativer Schneeflocke, ist an dieser Stelle eine Triggerwarnung angebracht:

Der folgende Abschnitt kann Schilderungen enthalten, in denen Männer für sexuelle Gewalt an Frauen verantwortlich gemacht werden. Diese können vor allem bei heterosexuellen Männern unkontrollierbare Assoziationsketten darüber auslösen, warum auch Männer zu Opfern werden, ob man überhaupt noch flirten darf und welche die besten Sketche von Louis C.K. waren.

Eine #MeToo-Debatte ohne sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen

Ja, auch Männer können Opfer werden. Nein, Flirten und Vergewaltigung ist nicht dasselbe. Außerdem: Unschuldsvermutung. Wir dürfen jetzt nicht pauschal alle Männer… Und mit Matt Damon trifft auf jeden Fall den Falschen. Dass damit aus Sicht mancher überwiegend männlicher Debattenteilnehmer auch schon alles zu #MeToo gesagt wäre, zeigt den ganzen konservativen Abgrund.

Fabian Goldmann ist freier Journalist, Politik- und Islamwissenschaftler. Seine Themenschwerpunkte sind u.a. Islamophobie und die Kritik an patriarchalen Männlichkeiten.

Nur zur Erinnerung: In der Debatte geht es um sexuelle Gewalt und Machtmissbrauch gegenüber Frauen*. Jede zweite Frau* hat sexuelle Belästigung an ihrem Arbeitsplatz erlebt. Ganz real, nicht nur auf Twitter. Statistisch erlebt jede vierte Frau* in ihrem Leben Gewalt durch ihren Partner. Doch in der Welt mancher Konservativer scheinen Vergewaltigungen nur dann relevant zu werden, wenn sie als (vermeintlich) ungerechte Vorwürfe, die Karrieren von Männern zu zerstören drohen. Um die Zukunft von diesen Millionen Menschen geht es bei #MeToo, nicht nur um die von Kevin Spacey.

Über Politiker darf weiter gemeckert werden - ohne Gender-Sternchen und mit drei Ausrufezeichen!!!

Dass viele Männer (und manche Frauen) unfähig sind, in dieser Debatte einfach mal anzuerkennen, dass die Welt sich nicht (mehr) nur um sie dreht, zeigt, wo der der wahre Gesinnungsterror herrscht: im Kopf der konservativen Schneeflocke. Wer schon einmal eine Zeit lang in einem kulturell ganz anderen Teil der Welt verbracht hat, weiß wie groß der Kulturschock bei der Rückkehr sein kann. Vielleicht geht es vielen Konservativen, die es bisher gewohnt waren, dass ihr „Safe Space“ das gesamte öffentliche Leben umfasst, gerade ähnlich. Aber die gute Nachricht lautet: Es braucht nicht viel, um in der neuen Welt anzukommen: tief durchatmen, ein paar Facebook-Post weniger anklicken, anderen zuhören und schon sieht die Feministin* nur halb so männerfeindlich, die Kita nur halb so verschwult und die Welt nur halb so islamisiert aus.

Klar, manches nervt, wirkt fremd oder sogar bedrohlich da draußen. Aber sicher ist: Kein Mann wird gezwungen werden, einen anderen Mann zu heiraten. Nur wer möchte, der kann das in Zukunft tun. Auch morgen wird man noch Bratwurst essen können - breitbeinig in der U-Bahn und im Schweinedarm. Neben 14 Fleisch-Varianten gibt es nun auch eins, zwei aus Soja. Im Discounter, nicht in der Diktatur. Über Studis, Politiker und Migranten darf weiterhin gemeckert werden. Ohne Gender-Sternchen und mit drei Ausrufezeichen!!! Nur werden sie Zukunft vielleicht häufiger zurückmeckern. Ja, es kann passieren, dass der Sohn demnächst einen Kita-Kumpel namens Mohammed mit nach Hause bringt. Er kommt zum Spielen, nicht zum Islamisieren. Und möglicherweise liegen beide in ein paar Jahren knutschend im Bett. Sie machen das, weil sie sich mögen, nicht wegen der Broschüre im Kindergarten damals. 

Also, lieber Konservativer: Vielleicht ist das, was du „Kulturmarxismus“ nennst, einfach nur der Frühling – mit Sturzbächen, Pollenalarm und Gerangel auf der Grillwiese - aber vor allem: mit Platz für alle. Also entscheide dich: Entweder du hast die Eier wie eine kopftuchtragende schwule Transgender-Frau und kommst raus aus deinem Safe Space oder du schmilzt einsam vor dich hin wie ein konservative Schneeflocke