Tuntige Ästhetik – Performativer Widerstand

Die Tunte als Gegenentwurf zu Geschlechterordnungen und als Ästhethisierung des Hässlichen diskutiert Muriel Aichberger.

Die Tunte ist ein politisches Symbol

Die Schöne oder das Biest? - Kann eine Tunte ästhetisch sein?

Als ich vor drei Jahren meinen Freunden von meinem Vorhaben erzählte, eine tuntige Ästhetik zu erarbeiten, reichten die Reaktionen von anerkennendem Staunen bis zu einem überraschten: „Wait, what?“ Offensichtlich steht für viele die Vorstellung von Tuntigkeit, also von femininem, tuckigem, hysterischem, „schwulem“ Gehabe dem entgegen, was sie als ästhetisch empfinden. Von manchen wurde auch eingewandt, dass es unmöglich sei, von einer Ästhetik der Tunte zu sprechen, da es doch DIE Tunte gar nicht gäbe.

Und tatsächlich: Die Tunte hat viele Gesichter: Sie ist ein femininer tuckiger Typ in unserer Lieblingskneipe, ebenso wie Akteurin der politischen Schwulenbewegung in den 70er Jahren. Sie ist professionelle Drag Queen, Film- oder Bühnenfigur und stöckelt so manches Mal – meist kreischend, mit geknickten Händchen und ausladenden Gesten – durch unseren Alltag. Sie zieht Bewunderung und Verehrung genauso wie Spott, Häme und Hass auf sich. Sie mag als schwuler Mann, als ‚Transvestit‘ oder als Freak gesehen werden, sie mag schwul, hetero-, bi-, pan- oder asexuell sein. Die Tunte ist so vielfältig, dass es schwierig scheint überhaupt festzumachen, was sie genau ausmacht.

Und doch lohnt es sich ihre Ästhetik zu ergründen. Nichts ruht, wie Adorno schreibt, „auf so ungesicherten Voraussetzungen wie die Ästhetik.“[1] Und so ist auch tuntige Ästhetik vielfältig und gerade nicht absolut und abschließend bestimmbar, sondern unscharf. Sie kann nur als mannigfaltiger Erscheinungsmodus verstanden werden, der sich dem Versuch, ihn exakt und abschließend abzugrenzen, immer wieder entzieht. Bei dem, was im tuntischen Sinne ästhetisch sein oder werden kann, handelt es sich nicht um ein abgeschlossenes, normatives Wertesystem, sondern um eine offene, ideelle Grundlage, die im historischen Emanzipationskampf tuntiger Männer* begründet ist. Daher verwende ich 'tuntig', 'Tuntigkeit' und 'Tunte' hier im breitest möglichen Sinne. Alle im weitesten Sinne effeminierten Performances, das heißt solche die nach außen als abweichende feminisierte Geschlechterperformances gedeutet werden können, sind im Sinne dieses Beitrags als potenziell tuntig zu verstehen, auch wenn Selbstbezeichnungen abweichen mögen.[2]

„Keiner unterscheiden kann, ob de'n Weib bist oder 'n Mann“ - Männlichkeit, Weiblichkeit und das Tuntige

Die Vermischung von Männlichkeit und Weiblichkeit ist ein zentrales, wenn nicht das zentralste Element tuntiger Ästhetik. Oft wird im Zusammenhang mit Tunten die Kritik laut, dass sie Frauen nachäfften und lächerlich machten. Insbesondere einige feministische Positionen[3] wittern oft eher Frauenfeindlichkeit und Abwertung des Weiblichen hinter Tuntigkeit. Dabei ist dieser Vorwurf genau genommen nicht richtig, denn er fußt - wie ich zeigen werde - auf einer ganz bestimmten Vorannahme.

Um diese Vorannahme zu verstehen ist ein Blick auf die Funktionsweise der Wahrnehmung und Darstellung von Geschlecht notwendig. Relevant ist, dass Geschlecht einerseits von einer Person dargestellt und andererseits von Betrachter*innen zugeschrieben wird. Dadurch entsteht ein komplexes Zusammenspiel beider Positionen, das heißt darstellende und betrachtende Position beeinflussen und verändern sich wechselseitig. Wichtig ist das, weil wir daran sehen, dass eine Person zwar bewusste Entscheidungen bezüglich ihrer Kleidung, oder ihres Make-Up fällen kann, dass dies aber noch keinen zwangsläufigen Einfluss auf die Wahrnehmung der Betrachter*innen haben muss.

Wir nehmen meist an, dass sich eine Person mit einem weiblichen Körper auch als Frau fühlt und sich feminin verhält. Das muss aber nicht zwangsläufig der Fall sein. Um dem auf den Grund zu gehen, betrachten wir den Begriff Geschlecht etwas feiner: Geschlecht gliedert sich heute aus darstellender Sicht in (1) Das körperliche Geschlecht (weiblich/männlich)[4], (2) das soziale Geschlecht (Frau/Mann) und (3) den Ausdruck des Geschlechts (feminin/maskulin). Auf der Seite der Betrachter*innen gibt es ebenfalls drei Ebenen auf denen Geschlecht wahrgenommen wird: (1) Kosmetisch, also auf Ebene der Dinge die an- und abgelegt werden können. Etwa Kleidung, Make-Up, Haarlänge (2) Kinästhetisch: Auf der Ebene der Anatomie, etwa die Körperform betreffend sowie auf Ebene der Somatik, etwa den Gang, die Bewegungen, die Stimmlage etc. betreffend. (3) Habituell: Also auf der Ebene, der Verhaltensweisen, des Begehrens und der Sprache. In unserer Gesellschaft werden alle diese Darstellungs- und Rezeptionsmöglichkeiten jeweils deckungsgleich angenommen und einem von zwei Geschlechtern zugeordnet.

Tuntige Ästhetik betrifft nun vereinfacht gesagt alles, bei dem die Deckungsgleichheit dieser Faktoren, bewusst aufgegeben wird. Sie verkörpert damit die Möglichkeit, sich über die gesellschaftlichen Geschlechts-Konventionen hinwegzusetzen und entlarvt diese Konventionen, die ja zum größten Teil noch als "natürlich", das heißt unabänderbar und unhinterfragbar, verstanden werden, als Konstruktionen – diese sind zwar wirkmächtig, aber eben nicht absolut. Dies kann in unterschiedlichen Graden erfolgen, erscheint aber den Betrachter*innen in jedem Falle unnormal. Folge sind Irritation, Ärger, Schock oder Belustigung. Was tatsächlich passiert, ist also keine Nachahmung, Veräppelung oder Abwertung von Weiblichkeit, sondern nichts Anderes als, dass ein Mann sich feminin kleidet und handelt. In manchen Fällen geschieht dies freilich subtiler in anderen plumper, trotzdem verhält er sich lediglich so, wie es die Gesellschaft im besten oder im schlimmsten Fall von Frauen erwartet. Die Vorführung und Untergrabung der abwertenden geschlechtlichen Ordnung wird so als Abwertung des Geschlechts selbst missverstanden.

„Der Widerspenstigen Zähmung“ - Das Schöne, das Hässliche und die Komik

Tuntige Performances stellen sich dem Primat von Natürlichkeit, Wahrheit und Echtheit entgegen. Wenn sie sich gegenüber gesellschaftlichen Normen im ursprünglichen Wortsinne diabolisch (vertauschend) verhalten, können sie unmöglich klassisch schön werden. Konsequenz war, dass die Tunte lange Zeit nur als psychisch kranker Bösewicht, Kinds-Verführer und Mörder, oder als tragische, zum Unglück verurteilte, an Körper oder Seele kranke Figur in den Geschichten und Filmen der Mainstream-Gesellschaft auftauchte. Tuntige Ästhetik, die auf den ersten Blick nur abstoßend erscheint, braucht um zu tuntiger 'Schönheit' zu werden einen Twist.

Dieser Twist ist einfach und schnell erklärt: Wo die gängige Idee von Schönheit sie in Opposition zu Hässlichem sieht, begreift die Tunte Hässlichkeit als negative Schönheit. Das mag auf den ersten Blick wie ein rhetorischer Winkelzug erscheinen. Praktisch heißt es aber, dass alles Hässliche, da es nun auf der Achse des Schönen liegt, zu seiner eigenen, besonderen Schönheit gelangen kann. Es ist von ihr nicht mehr ausgeschlossen. Tuntige Schönheit ist nicht die Schönheit der Vollkommenheit, sondern eine Schönheit trotz (oder vielleicht auch durch) Unvollkommenheit. Diese Unvollkommenheit liegt in der Inkongruenz der Geschlechter-Darstellungen begründet und ist damit untrennbar mit der Tunte verbunden.

Selbst wenn eine Tunte also in all ihrem Glamour und einer atemberaubenden Grandezza auftritt, so ist ihre Schönheit aus der Sicht klassischer, philosophischer Ästhetik maximal eine Schönheit der gezähmten Hässlichkeit. Schönheit im Sinne tuntiger Ästhetik ist komplexer, vielschichtiger, schwieriger, als Schönheit im Sinne des kant'schen interesselosen Wohlgefallens[5]. Ohne Interesse würdigt man sie keines zweiten Blickes und dann erscheint die Tunte schräg, abstoßend und absurd, wie eine Zwölf-Ton-Symphonie oder ein experimentelles Theaterstück. Dada auf zwei Beinen in einem schrecklich schäbigen Fummel. Tuntige Ästhetik ist eine widerspenstige Ästhetik, die zu ergründen eines zweiten Blickes bedarf. Deshalb ist tuntige Schönheit oft mit einer Strategie verbunden: der Komik.

Der Bruch von Normen kann durch Überzeichnung komisch werden, denn er ent_täuscht, er überrascht uns. Das Lachen verwandelt den Schock über den Bruch mit Anstand und Schönheit in Vergnügen. Die Ent_Täuschung bekommt etwas Unterhaltsames, die Übertretung der Norm wird lustig. Tunten brechen aber nicht einfach nur plump die Norm, indem sie sich als Frau verkleiden, sondern reichern dies durch Überzeichnung und Überhöhung an. Die Komik dient hier sowohl als Vehikel, wie auch als Strategie um die Vermischung von Femininem und Maskulinem darstellbar zu machen.[6] Indem sie den Bruch mit der Normalität abfedert, macht Komik die tuntige Ästhetik zugänglich und schränkt sie zugleich auch etwas ein.

Männlich, weiblich, alles

drag it! Geschlecht umreißen – Ordnungen durchkreuzen – Drag erleben. Unter diesen Perspektiven fragt das Dossier ‚drag it!‘ danach was Performance-Praxis gegenwärtig bedeutet.
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Tuntige Ästhetik als politisch-ästhetische Synthese

Tuntige Ästhetik ist eine Ästhetik der Zwischentöne. Laute, kreischige Zwischentöne jenseits der behaupteten Eindeutigkeit von Geschlecht und Begehren, jenseits des „guten Geschmacks“ und der Perfektion. Wenn sie Aspekte von Weiblichkeit klischeehaft nachahmt und übersteigert, gibt sie diese nicht bloß als Teil der Geschlechterordnung der Lächerlichkeit preis, sondern zeigt gleichzeitig die Absurdität der Klischees und verweist auf eine zutiefst in der Gesellschaft verwurzelte Misogynie, einen Hass auf Femininität, nicht nur an Frauen. Frauen werden aber durch die natürlich gesetzte Verbindung zwischen Frau-Sein, Weiblichkeit und den Eigenschaften, die negativer Feminität zugeschrieben werden, zu Geiseln dieser Norm. Plappern, kreischen, hysterisch sein, dazu schwach und oft auch nicht besonders intelligent. Diese Rollenbilder, die sich zwangsläufig aus der antipodischen Position von Femininität zur idealisierten Maskulinität ergeben, übersteigert die Tunte bis zur Unerträglichkeit. Genau darin liegt die Verstörung tuntiger Ästhetik und zugleich ihr politisches Potential.

Solange Tuntigkeit dabei auf der Bühne verbleibt und deutlich als (Schau-)Spiel markiert ist, ist sie für viele noch weit genug weg, um erträglich zu sein. Dies gilt umso mehr, wenn sie in Humor gehüllt daherkommt. Tritt sie aber von der Bühne in den Alltag, so hinterfragt sie plötzlich vollen Ernstes Konventionen und Stereotype. Schock und Irritation können nicht mehr weggelacht und beklatscht werden. Sie meint es ernst und wird zur Bedrohung. Die Demarkationslinie verläuft am Bühnenrand. Es ist eine Linie an der gesellschaftlichen Grenze zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit, Schönheit und Hässlichkeit, Wahrheit und Täuschung, Norm und Abweichung.

Die tuntige Ästhetik hebt das Abseitige aus seinem Schattendasein und stellt es gleichwertig neben das klassische Schöne, das nach Perfektion strebt. So wie die Avantgarden des 20. Jahrhunderts das Hässliche zum negativen Schönen erklärten und es damit zum Stilmittel einer neuen Kunst entwickelten, stellt die Tunte Unnormales, Unanständiges, Verdrängtes und Verhasstes lustvoll zur Schau. Sie zeigt damit, dass die Norm ihre Ausschließlichkeit und eine automatische Verknüpfung von Geschlecht und Begehren mit bestimmten Eigenschaften, das eigentliche künstlich Produzierte sind. Sie zeigt zugleich, dass es eine Alternative zu dieser Norm gibt: Die Emanzipation vom Diktat der einen Schönheit, vom Diktat der Perfektion hin zu einem gleichwertigen und emanzipierten Nebeneinander aller Formen der Erscheinung.

 

 

[1] Adorno, Theodor W. (1989): Ästhetische Theorie, Frankfurt/Main. S. 493.

[2] Für eine genauere Abgrenzung müssten wir mehre Achsen betrachten, was die Kürze des Textes nicht im Detail erlaubt. Tuntige Performances können zum Beispiel bewusst und unbewusst tuntig sein. Sie können beabsichtigt oder unbeabsichtigt politischen Inhalt transportieren. Performances können tuntige Ästhetik transportieren, oder diese kann ihnen von außen zugeschrieben werden. (Was insbesondere bei trans* Personen problematische Folgen haben kann.) Selbstverständlich können Frauen tuntige Performances im Sinne der Übersteigerung weiblicher Attribute verwirklichen. (vgl. Aichberger, Muriel: Tuntige Ästhetik Performativer Widerstand. Magisterarbeit, LMU-München, 2015)

[3] So wird Drag in Artikeln mit Cultural appropriation gleichgesetzt vgl.: Murphy, Meghan: Why has drag escaped the critique from feminists and the LGBTQ-Community, 2014. (http://www.feministcurrent.com/2014/04/25/why-has-drag-escaped-critique-from-feminists-and-the-lgbtq-community/, Letzter Aufruf: 12.01.2018), es existieren aber auch wissenschaftliche Arbeiten zu dieser Frage. vgl.: Nixon Kevin D.: Are Drag Queens Sexist? Female Impersonation and the Sociocultural Construction of Normative Femininity, MA Thesis, University of Waterloo, 2009.

[4] Hier muss auch noch einmal unterschieden werden zwischen dem anatomischen Geschlecht (Geschlechtsorgane), der Ausprägung der Drüsen, Hormone und Gonaden und der chormosomalen und genetischen Disposition.

[5] Kant, Immanuel (1790): Kritik der Urteilskraft. Erster Teil. Kritik der ästhetischen Urteilskraft. §§ 1-9.

[6] Insbesondere entsteht die Komik tuntiger Ästhetik durch den Bruch von femininen und maskulinen Klischees. So werden Tunten* oft insbesondere dadurch komisch, dass sie besonders dominant oder derb - also eher maskulin konotiert - auftreten. Dies ist natürlich unabhängig vom Geschlecht der Darstellenden.