Antidiskriminierung: Empörung reicht nicht!

Kommentar

Angesichts der aktuellen Debatten um institutionellen Rassismus wirft Sebastian Walter, Sprecher für Antidiskriminierungs- und Queerpolitik von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Berliner Abgeordnetenhaus, einen Blick auf die Errungenschaften im Bereich der Antidiskriminierungspolitik der letzten Jahre, das neue Landesantidiskriminierungsgesetz samt der massiven Widerstände dagegen und spricht sich für eine intersektionale, machtkritische und antirassistische Antidiskriminierungspolitik aus.

Die rassistischen Morde von Hanau und die Ermordung von George Floyd haben auch das politische Berlin in den letzten Wochen und Monaten erschüttert und weit in die Mehrheitsgesellschaft hinein Reaktionen der Wut und Empörung ausgelöst. So sehr diese Solidarität und Anteilnahme wichtig ist, so zeigt die bisherige Erfahrung aber auch, dass diese Reaktionen im politischen Alltag nur selten zu einer nachhaltigen Diskussion über die (strukturellen) Ursachen von Rassismus, Diskriminierung und Ausgrenzung, geschweige denn zu politischen Konsequenzen führen. Um es daher klar in Richtung Politik zu sagen: Empörung reicht schon lange nicht mehr aus!

Auch in Berlin sind die Widerstände noch immer enorm, wenn es darum geht, Rassismus und Diskriminierung – gerade gegenüber Institutionen und staatlichen Einrichtungen – zu problematisieren. Als ich im vergangenen Jahr öffentlich Vorschläge zur Bekämpfung von „Racial Profiling“ machte, sah sich der Pressesprecher der Berliner Polizei reflexhaft dazu genötigt, zu sagen, dass Berliner Polizist*innen grundsätzlich kein Racial Profiling praktizieren würden. Diese problematische und falsche Aussage verdeutlicht, dass wir noch weit davon entfernt sind, eine offene, kritische und lösungsorientierte Debatte über Rassismus und Diskriminierung zu führen – und dies geht zulasten der Betroffenen.

Die Reaktion des Polizeisprechers ist keine Ausnahme. Eine weitere wohlbekannte Abwehrstrategie im politischen Raum ist es, rassistische Übergriffe als „Einzelfälle“ zu bagatellisieren und damit eine strukturelle Auseinandersetzung mit Rassismus und seinen Folgen zu verhindern. Rassistische Einstellungen werden zudem an den rechten Rand delegiert, um sie nicht als gesamtgesellschaftliche Problemstellung fassen zu müssen.

Dabei wäre es ein wichtiger und notwendiger erster Schritt, anzuerkennen, dass Rassismus und Diskriminierung alltäglich sind und in allen gesellschaftlichen Bereichen vorkommen – sei es im Gesundheits- oder Bildungswesen, auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt, in den Polizei- und Sicherheitsbehörden. Und nicht selten sind es eben gerade staatliche Behörden und Akteur*innen, von denen Diskriminierung ausgeht. Das ist durch eine hinreichende Anzahl von Studien belegt – nicht zuletzt auch durch die Ergebnisse des „Berlin Monitors“, den wir als rot-rot-grüne Koalition zur Erhebung von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und von Diskriminierungserfahrungen auf Berliner Landesebene in Auftrag gegeben haben. Ein zweiter Schritt ist, weg von der Empörung über Einzelfälle zu kommen und einen professionellen Diskurs über strukturellen Rassismus und institutionelle Diskriminierung zu führen, adäquate Strategien zu entwickeln und Maßnahmen konsequent zu implementieren. Dabei können wir auf die Expertisen und Konzepte von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen und NGOs aus dem Antidiskriminierungsbereich zurückgreifen, die schon seit vielen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten wegweisende Arbeit leisten.

Antidiskriminierungspolitik institutionell verankern

Wir sind in Berlin als BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in dieser Legislaturperiode angetreten, den Bereich der Antidiskriminierungspolitik aufzuwerten und in das Zentrum der politischen Arbeit zu stellen. Seit Ende 2016 konnten wir dabei erste wichtige Schritte gehen. In Berlin gibt es bundesweit erstmals einen Senator, der das Politikfeld Antidiskriminierung mit einer eigenen Ministeriumsabteilung institutionell verantwortet und dies auch im Titel führt. Das ist keine Kosmetik, sondern Ausdruck einer klaren Zielsetzung: Die institutionelle Politik steht in der Pflicht – wir sehen uns als Grüne und als Koalition in der Pflicht – dem strukturellen Rassismus gezielt entgegenzutreten, den Schutz vor Diskriminierung für alle vulnerablen Gruppen zu erhöhen und eine Kultur der Wertschätzung von Vielfalt zu fördern. Dafür braucht es gesetzliche Regelungen, ausreichend Haushaltsmittel sowie starke zivilgesellschaftliche Strukturen.

Viele Maßnahmen und Initiativen konnten wir – zusätzlich zu den bereits bestehenden und mit großer Expertise ausgestatten Projekten – zwischenzeitlich auf den Weg bringen. Mit als erstes haben wir eine Fachstelle gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt eingerichtet. Wir konnten eine Förderung für Antidiskriminierungs- und Empowermentarbeit im Bereich anti-Schwarzen Rassismus erstmals im Haushalt verankern, die von Each One Teach One e.V. realisiert wird. Die Koalition hat einen Maßnahmenplan zur Umsetzung der „UN-Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft“ in Berlin beschlossen, der in einem aufwendigen Beteiligungsprozess von Diversifying Matters - Generation ADEFRA erarbeitet wurde und zurzeit mit den Senatsverwaltungen abgestimmt wird. Zudem hat R2G den Senat mit der Entwicklung eines gesamtstädtischen Aufarbeitungs- und Erinnerungskonzept zum Umgang mit der kolonialen Vergangenheit Berlins beauftragt. Uns ist es zudem gelungen, ein Diskriminierungsverbot im Schulgesetz zu verankern und eine Fachstelle für intersektionale Bildung zu initiieren. Das Landesprogramm gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wird derzeit evaluiert, um es neu auszurichten. Die Ausarbeitung eines senats- und verwaltungsübergreifenden Diversity-Landesprogramms ist aktuell in Arbeit.

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Sebastian Walter ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender und Sprecher für Antidiskriminierungs- und Queerpolitik von Bündnis 90/Die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus

Diese Auflistung unserer Maßnahmen könnte weiter ergänzt werden, entscheidender ist aber: wir sehen uns mit allem noch immer erst am Anfang. Und uns ist klar:

Zivilgesellschaftliche Strukturen sind im Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung unerlässlich. Marginalisierte Gruppen und von Diskriminierung betroffene Menschen benötigen Ansprechpartner*innen, die in ihrem Sinne parteiisch agieren. Ein starker Staat unterstützt diese Selbstorganisations-, Beratungs-, Dokumentations- und Empowerment-Strukturen, da er weiß, dass sie zentral sind, um das in der Verfassung verankerte Gleichbehandlungsgebot Realität werden zu lassen.

Wir nehmen diesen Auftrag sehr ernst und werden bis zum Ende der Wahlperiode die Haushaltsmittel für die zivilgesellschaftlichen Projekte und Initiativen allein im Zuständigkeitsbereich der Landesantidiskriminierungsstelle verdreifacht haben. Das ist im laufenden Doppelhaushalt 2020/2021 ein Zuwachs von rund 6 Millionen Euro für Antidiskriminierungs- und Empowermentarbeit!

Der Aufwuchs geschieht selbstverständlich nicht beliebig, sondern sehr gezielt, um bestehende Strukturen zu sichern und auszubauen, auf neue Bedarfe zu reagieren, aber auch um Leerstellen oder Disproportionalitäten in der bestehenden Förderung zu schließen. Aus meiner Sicht gehörte dazu die Adressierung von anti-Schwarzem Rassismus, aber auch von antimuslimischem Rassismus, Gadjé-Rassismus und im Besonderen von intersektionalen Ansätzen. Wichtig ist uns zudem, verlässlich zu sein. Als Land Berlin sind wir daher auch eingesprungen, um Projekte des Förderprogramms „Demokratie leben!“ zu retten, die aufgrund der von Bundesministerin Franziska Giffey nicht nachvollziehbaren Kürzungen und Änderungen der Fördersystematik in ihrer Existenz bedroht waren.

Das Landesantidiskriminierungsgesetz

Das am 4. Juni 2020 beschlossene und am 21. Juni 2020 in Kraft getretene „Landesantidiskriminierungsgesetz“ (LADG) ist für uns Grüne das wichtigste antidiskriminierungspolitische Vorhaben in dieser Wahlperiode. Wir erhöhen damit den rechtlichen Diskriminierungsschutz für alle Berliner*innen. Der Geltungsbereich des LADG erstreckt sich auf den Bereich des öffentlich-rechtlichen Handelns des Landes Berlin und damit auf alle Behörden, Ämter, Körperschaften, aber auch auf staatliche Einrichtungen wie Schule, Polizei, Feuerwehr oder Universitäten. Damit schließen wir eine bundesrechtliche Schutzlücke. Das „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz“ (AGG) gilt nämlich nur für Dienst- und Beschäftigungsverhältnisse sowie den Zivilrechtsverkehr. Mit dem LADG wird anerkannt, dass auch der Staat mit seiner Verwaltung und seinen Behörden ein potentiell diskriminierender Akteur ist. Dass er eine Schutzpflicht gegenüber seinen Bürger*innen hat. Und wir ermutigen von Diskriminierung Betroffene, ihre Rechte einzufordern und sich zu wehren.

Das LADG beschränkt sich aber nicht allein darauf, sondern es entwickelt Antidiskriminierungsrecht – auch im Hinblick auf das AGG – innovativ weiter: Beispielsweise haben wir den Merkmalskatalog, wonach Diskriminierung zukünftig verboten sein wird, deutlich erweitert. Dieser umfasst nun auch die Diskriminierung aufgrund einer rassistischen oder antisemitischen Zuschreibung, einer chronischen Erkrankung, des Lebensalters, der Sprache oder des sozialen Status.

Weitere Neuerungen stellen die Prozessstandschaft und ein Verbandsklagerecht dar. Damit werden Menschen, die Diskriminierung erfahren, auf zwei Ebenen entlastet: Erstens, indem ihnen leichter ein rechtlicher Beistand im Falle von Diskriminierung ermöglicht wird, was besonders in traumatisierenden Fällen von großer Bedeutung ist. Und zweitens, indem qualifizierte Verbände nun die Möglichkeit erhalten, gegen diskriminierende Vorschriften, Regelungen und Praktiken im Verwaltungshandeln tätig zu werden – und somit strukturelle Diskriminierungsmuster gezielt offenlegen und deren Abbau einfordern können.

Das LADG hat auch zum Ziel, eine Kultur der Wertschätzung von Vielfalt innerhalb der Berliner Verwaltung zu implementieren. Dies ist ein besonders wichtiger Aspekt des Gesetzes, denn die Berliner Verwaltung muss seiner heterogenen Stadtgesellschaft gegenüber nicht nur diskriminierungskritisch agieren, sondern sie endlich in den eigenen Reihen auf allen Ebenen abbilden, gerade auch in den Führungspositionen.

In den vergangenen Wochen gab es einen gezielten Shitstorm von Polizeigewerkschaften und Politiker*innen von CDU/CSU gegen das LADG, der vor allem auf Unwahrheiten beruhte und klar ideologisch motiviert war. Diese Entwicklung war einerseits erwartbar, aber andererseits auch ernüchternd. In einer vielfältigen Gesellschaft ist gerade der Staat dazu verpflichtet, das in der Verfassung verankerte Gleichbehandlungsgebot gegenüber allen Menschen sicherzustellen. Es ist beschämend, wie stark die Abwehrkräfte gegen einen effizienten Diskriminierungsschutz wirken und mit welcher Vehemenz weiße Privilegien verteidigt werden – während zeitgleich Schwarze Communities in Berlin auf die Straße gehen, um nach der Ermordung von George Floyd gegen Rassismus und Polizeigewalt zu protestieren.

Das LADG aber ist ein Meilenstein im Diskriminierungsrecht. Es wird für Rechtssicherheit sorgen. Es wird das Vertrauen in die Arbeit des Staates, seiner Behörden und auch in die Arbeit der Polizei erhöhen. Von Berlin geht gerade ein Signal aus, dem sich hoffentlich viele andere Bundesländer anschließen werden.

Zukunftsperspektiven: Neue Wege in der Antidiskriminierungspolitik

Die bisherigen Anstrengungen sind für uns nur eine Zwischenetappe. Sie bilden die Grundlage für eine nachhaltige, progressive Antidiskriminierungspolitik in Berlin, die wir Grüne weiter ausbauen und in der gesamten Breite der Stadtgesellschaft nachhaltig verankern wollen. Sie kann nur intersektional, machtkritisch, konsequent antirassistisch sein und muss zugleich nach solidarischen Bündnissen suchen. Nur so wird es gelingen, die Gleichbehandlung aller Berliner*innen zu verwirklichen sowie Rassismus und Diskriminierung – gerade auch in der weißen Mehrheitsgesellschaft – zurückzudrängen.

Hierfür ist es auch erforderlich, das Präventions-, Beratungs- und Empowermentangebot in Berlin systematisch weiterzuentwickeln und auf bislang wenig beachtete Diskriminierungs- und Ausschlussmechanismen (in ihrer Verschränktheit) auszuweiten. Sei es beispielsweise der Umgang mit sozialer Ausgrenzung und Klassismus, die notwendige Kritik an dem vermehrten Einsatz von angeblich „diskriminierungsfreien“ Algorithmen und Künstlicher Intelligenz oder die überfällige Betrachtung der (psycho)sozialen Auswirkungen von Diskriminierung auf marginalisierte und vulnerable Gruppen. Darüber hinaus lohnt es sich, den horizontalen Antidiskriminierungsansatz in der Beratung und Projektentwicklung weiter auszubauen und neue Handlungsfelder intersektional und machkritisch zu erschließen, in denen es besonders häufig zu Diskriminierung kommt, so zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt oder im Gesundheitssystem.

Die Regierungserfahrung der letzten Jahre hat gezeigt, dass vieles möglich ist, wenn der politische Wille da ist. Sie hat aber auch gezeigt, dass es selbst in einer linken Koalition aus SPD, Die Linke und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht ohne Widerstände gelingt, eine emanzipatorische Antidiskriminierungspolitik voranzutreiben. Die progressiven Stimmen müssen noch mehr werden! Sie sind auch dafür notwendig, um die Strukturen und finanziellen Ressourcen langfristig auch dann sicherzustellen, falls die Spielräume im Berliner Landeshaushalt wieder kleiner werden sollten, etwa in Folge von Corona. Für uns kann ich sagen: wir werden kämpfen!

Die Covid-19-Pandemie hat in den letzten Wochen Alltags- wie strukturellen Rassismus offengelegt und potenziert. Und nein, nicht die Polizei hat ein Rassismusproblem, die gesamte weiße Mehrheitsgesellschaft hat es. Die ideologische Abwehrschlacht um das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz hat das paradigmatisch bestätigt, genauso wie die kollektive weiße Verweigerung, über Rassismus in der Polizei und über rassistische Polizeigewalt sprechen zu wollen. Daher muss endlich Schluss mit der Lüge sein, Rassismus und Diskriminierung seien ausschließlich ein Problem am rechten Rand. Der Kampf gegen Ausgrenzung beginnt eben nicht erst dann, wenn Menschen wie in Hanau oder Minneapolis umgebracht werden. Er beginnt in der sogenannten „Mitte der Gesellschaft“. Jede*r einzelne trägt Verantwortung!