Unerkannte Nachbar:innen (II)

Zwischen Rassismus und Empowerment – Antworten aus der Realität auf Fragen zu einem Ressentiment und Gewalt: Arbeit, Stadt und Wohnen

2. Arbeit und Ausbildung

Ein Montag am frühen Abend in einer X-beliebigen Stadt in Deutschland: Viele Mandant:innen warten auf einen Termin beim Notar. Einige sind müde, andere aufgeregt wegen der zu beglaubigenden Dokumente. Die Tür öffnet und der Notar bitte zum Termin. Er ist Rom.

Rom:nja und Sint:ezze arbeiten als Busfahrer:innen, Lehrer:innen, Bauarbeiter:innen, Ärzt:innen. Sie sind also in vielfältigen Berufen tätig. Sie arbeiten dabei oft unter miserablen Arbeitsbedingungen und arbeitsrechtlich prekär. Arbeitsmigrant:innen nehmen weite Wege von zuhause und große Distanz zu ihren Familien in Kauf.

Dennoch hält sich das antiromaistische Stereotyp hartnäckig, Rom:nja und Sint:ezze würden nicht arbeiten, sie seien hingegen faul und kriminell. »Sinti und Roma neigen zur Kriminalität«, diese Aussage findet in der Leipziger Autoritarismus-Studie reichlich Zustimmung.

Dieses Vorurteil ist alt und weit verbreitet. Es würde geraubt und geklaut – bis dahin, dass das Betteln, eines der unlukrativsten Geschäfte der Welt, mafiös organisiert sei. Medien schaffen Bilder von Clans und Mafiabanden.

Viele Medien verwenden den Begriff »Armutszuwanderer« als (teilweise abfällige) Bezeichnung für Menschen aus Südosteuropa auch als Synonym für Rom:nja, die im Zuge der EU-Freizügigkeit nach Deutschland kommen (vgl. neue deutsche medienmacher*innen). Die große Mehrheit der Menschen, die seit 2007 aus den neuen EU-Beitrittsländern eingewandert sind, geht jedoch einer Arbeit nach oder studiert. Es handelt sich daher überwiegend um eine – für Deutschland profitable – Arbeitszuwanderung. Auch problematisch: Bei »Armutsmigration« schwingt die Sorge mit, Deutschland sei von einer Einwanderung in die Sozialsysteme betroffen.

Rom:nja, welche in den letzten Jahren aus Rumänien oder Bulgarien nach Deutschland gezogen sind, profitierten von der EU-internen Freizügigkeit. Unter ihnen sind Fachkräfte, Kleinunternehmer:innen und Ungelernte. Rom:nja arbeiten hier unter prekärsten Bedingungen. Spektakulär sind die wegen Corona bekannt gewordenen Verhältnisse in Schlachtereien (vgl. Soric, 2020). Neben den gesundheitlich katastrophalen Verhältnissen sind die arbeitsrechtlichen nicht besser. Aus der Beratungsarbeit des Vereins Romano Sumnal in Leipzig ist bekannt: Viele müssen mit befristeten Verträgen arbeiten. Leiharbeit ist ein großes Thema. Die Kommunen verdrängen die skandalösen Verhältnisse in Arbeit und Wohnen.

»Sie versteht mich nicht« (Auszubildender über seine Berufsschullehrerin)

Ein Freitagvormittag in einer X-beliebigen Schule in Deutschland: Viele Schüler:innen einer 11. Klasse nahmen am »Jugend forscht« Wettbewerb teil. Einige unter ihnen sind Rom:nja. Einige haben profunde Ergebnisse abgeliefert, einige lassen zu wünschen übrig, zwei haben den Wettbewerb gewonnen und die Physik-Lehrerin, die Romni ist, verkündet den Preis.

»Sinti und Roma als bildungsferne, gar bildungsablehnende oder nicht bildbare Menschen – dieser Blick der Mehrheit zieht sich durch die Jahrhunderte hindurch und wurde immer wieder neu ausgelotet, wobei der Fixpunkt nie die Idee der Selbstermächtigung durch Bildung für die Angehörigen der Minderheit war, sondern die Frage ihrer gesellschaftlichen Assimilation bzw. Integration durch Erziehung. Dabei waren Roma und Sinti als fremd und anders markierte Menschen im europäischen Raum nie gleichberechtigt einbezogen in diese Diskussionen, sondern vielmehr gewaltvollen Maßnahmen ausgesetzt, wie die Einweisung in Arbeitshäuser oder die Wegnahme ihrer Kinder und deren Zwangsbildung in staatlichen Institutionen. In der Zeit des Nationalsozialismus fand dann die staatlich sanktionierte Exklusion von Sinti und Roma aus dem Schulsystem statt, bis hin zu der Tatsache, dass die Kinder direkt aus der Schule heraus abgeholt und in die Todeslager deportiert wurden.« (Schuch, 2015, S. 38; vgl. auch Wippermann, 1997, S. 96ff.)

Diese Schilderung von Dr. Jane Weiß (damals Schuch) reflektiert nicht nur das Ressentiment und den Zwang der Mehrheitsgesellschaft, sondern macht implizit klar, dass Roma und Sinti nicht als Gestalter:innen ihrer eigenen Bildungsrahmen und Inhalte erkannt wurden und werden.

Romano Sumnal bei einem Fachtag zu Antiromaismus

Die Bildungssituationen von Rom:nja und Sint:ezze sind sehr unterschiedliche. Wir wollen eine der vielen Erzählungen und Realitäten in den Mittelpunkt stellen, die der Jugendlichen von Romano Sumnal. Romano Sumnal ist eine Rom:nja-Selbstorganisierung in Leipzig. Petra Čagalj Sejdi vom Verein berichtet:

»Die meisten aktiven Jugendlichen in unserem Verein sind zwischen 16 und 21. Sie sind im Alter von 10 bis 13 Jahren nach Deutschland gekommen und wurden hier zuerst in eine DaZ-Klasse (Deutsch als Zweitsprache) eingeschult. In der Regel sollte der Aufenthalt in einer DaZ-Klasse nicht länger als ein Jahr andauern, fast alle unserer Jugendlichen berichten aber davon, dass sie eineinhalb bis zwei Jahre in den Klassen bleiben mussten, ohne genau zu wissen, warum. Es wurde dabei wenig Rücksicht auf die Fähigkeiten genommen, die diese bereits mitbrachten. Vielmehr wurde in den Vordergrund gerückt, was sie nach Maßstab der sächsischen Schulen nicht konnten. Die meisten von ihnen sprechen zu Hause mehrere Sprachen. Sie können eine neue Sprache schnell sprechen und verstehen. Diese Fähigkeit wurde in den Schulen meist nicht bemerkt, ausgebaut oder positiv in die Bildungsbiografie integriert. Vielmehr wurde es von einigen Lehrer_innen als Nachteil angesehen, der ihnen das Deutschlernen angeblich erschweren würde.« (Čagalj Sejdi, 2019)

Viel zu selten werden die einzelnen Schüler:innen mit ihren Talenten und Potentialen gesehen. Eine auf die Schülerin angepasste Förderung findet nicht statt. Das Vorurteil der Bildungsunwilligkeit verstellt den Blick auf das Individium; so werden die Schüler:innen mehr gehindert als gefördert – und das Vorurteil immer wieder vermeintlich bewiesen.

»Die meisten unserer Jugendlichen haben die Schule beendet und waren oder sind auf Ausbildungsplatzsuche. Hierbei hat sich für alle schnell bemerkbar gemacht, dass es sich als kontraprodukitv erweist, in der Bewerbung anzugeben, dass man Rom oder Romni ist. Alle Bewerbungen, die diese Information beinhalteten, waren erfolglos. Aber auch die Tatsache, aus einem sicheren Herkunftsland wie Serbien oder Mazedonien zu kommen, erwies sich als Hindernis. Potenzielle Arbeitgeber_innen gaben an, zwar interessiert zu sein, fühlten sich aber verunsichert, ob der/die Auszubildende einen Aufenthalt über die Dauer der Ausbildung erhalten könne und lehnten die Bewerber_innen unter Vorgabe dieses Grundes ab. Bisher konnten nur vier unsere Projektteilnehmer_innen einen Ausbildungsplatz finden. Alle anderen sind zum Teil bereits im zweiten Jahr erfolglos auf der Suche. Einzige Ausnahme ist die Ausbildung zu Pflegehelfer_innen.« (ebd.)

Die Situation ohne Ausbildungsplatz unterstützt zwei Stereotype und wird so Self­ful­fil­ling Pro­phe­cy: Zum einen bestätigt sie die Annahme, dass Rom:nja nur ungelernter Arbeit nachgingen – das ist tasächlich die Realität ohne Ausbildung. Zum anderen drängt der Antiromaismus Roma aus dem Arbeitsmarkt und rechtfertigt das mit der Unterstellung, Rom:nja würden nicht arbeiten wollen.

Diese Probleme zeigen beispielhaft, wie junge Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Minderheit der Rom:nja und aufgrund ihrer Staatsangehörigkeiten und der Asylgesetzgebung systematisch ins Aus gedrängt werden.

Die bekannteste Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sint:ezze und Rom:nja kommt zu folgendem Schluss:

»Das Ergebnis der Bildungsstudie ergibt im Gesamtbild einen unzureichenden Zugang zum Bildungssystem und zeigt Gründe für das Scheitern von Bildungsprozessen auf. Die Studie weist auf intergenerationelle Traumatisierung, gegenwärtige Diskriminierung und fehlende Teilhabechancen hin. Diese Studie zeigte auch, dass nicht nur bei der Identifizierung von bildungsrelevanten Faktoren im Lebensalltag es der Beteiligung der Minderheit bedarf.«

3. Kontrollen sind mein Alltag – Stadt und öffentlicher Raum

Ein Samstagvormittag in einer X-beliebigen Stadt in Deutschland: Viele Passant:innen kreuzen sich bepackt mit Einkaufstüten verschiedener Boutiquen und Kaufhäuser. Einige unter ihnen sind Rom:nja. Einige kaufen sportliche Mode, andere teure Haute Couture. Einige günstig, andere Bio und wieder andere teuerste Kosmetik.

Was bringt also Menschen dazu, auf die These »Sinti und Roma sollten aus den Innenstädten verbannt werden« zustimmend zu antworten? Was haben die Befragten gegen die Anwesenheit von Rom:nja und Sint:ezze in der Innenstadt?

Wenn es um Rom:nja und den öffentlichen Raum geht, wird nur das immer gleiche Bild bedient: Betteln und Musizieren. Das sind die Leitthemen lokaler Medien; die Berichterstattung verstärkt die Stereotype ins Unermessliche. Selten sind Sint:ezze und Rom:nja eine Erzählung wert, wenn sie nicht als das gezeigt werden können, was die Mehrheitsgesellschaft sehen möchte (vgl. auch End, 2014). Es gibt keine Reportagen über Rom:nja als Architekt:innen, Aktivist:innen, Stadträt:innen, spießige Kleingärtner:innen oder Polizist:innen.

Neben den vielen anderen Lebensrealitäten existieren durchaus bettelnde Rom:nja in den Innenstädten der Metropolen. Sie sind mehrheitlich aus Ungarn, der Slowakei und anderen EU-Staaten, in denen sie kein Auskommen haben, diskriminiert oder verfolgt werden.

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In vielen Städten sind Bettelverbote erlassen worden. So werden die Ärmsten kriminalisiert und an die Ränder der Städte getrieben. Diese Bettelverbote werden oft durch die Lokalmedien verstärkt. Die Kommentare unter der Berichterstattung sind häufig menschenverachtend und zeugen von einem tief verwurzelten Rassismus gegenüber der europäischen Minderheit der Rom:nja (vgl. Koller, 2016). Das Recht auf Zentralität und Teilhabe im öffentlichen Raum soll ihnen verwehrt werden.

Die Familien, die in der Hoffnung auf Arbeit und Auskommen nach Deutschland gekommen sind, befinden sich in einer Zwickmühle. Ohne Arbeit keine Wohnung, ohne Meldeadresse keine Kita und Schule (vgl. Holinski & Krahl, 2019). Viele der in den Städten bettelnden Menschen verdienten ihr Geld erst legal auf Baustellen oder in der Gastronomie. Oft wurden Einzelne um ihre Löhne betrogen. Manchen bleibt nichts anderes übrig als auf Grund ihrer Armut und Perspektivlosigkeit zu betteln.

Polizei denkt immer, »die Ausländer« waren es

Der öffentliche Raum ist nicht nur von Bettelverboten reglementiert. Ordnungsamt und Polizei treten als Hüter der Ordnung auf und in der Gefahrenprävention. Racial Profiling konfrontiert Rom:nja und Sint:ezze mit überproportionalen Kontrollen im städtischen Raum. Jugendliche des Selbstvertretungsvereins Romano Sumnal berichten, sie würden öfter in Leipzig-Grünau kontrolliert. Nicht weil sie Rom:nja wären, sondern weil sie unter das Stigma Ausländer/Migranten fallen. Die vermeintliche Kriminalität in Vierteln wird in besonderer Weise migrantisch aussehenden jungen Männergruppen zugeschlagen. Das führt dazu, dass junge Roma sich nicht in gleicher Weise frei bewegen können wie andere Jugendgruppen.

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Selbstorganisierung schafft Souveränität und Alltagswissen im Umgang mit Kontrollen. »Die Jugendliche können sich inzwischen selbst schützen gegenüber der Polizei, sie verhalten sich natürlich, haben keine Angst. Wenn die Polizei merkt, dass Jugendliche Angst haben, versuchen sie noch mehr Druck auszuüben«, wird bei Romano Sumnal berichtet. »Die Polizei sieht in Roma potenzielle Gesetzesbrecher. Der Tonfall ist harsch. Wenn sich die Betroffenen wehren, wird ihnen das zum Vorwurf gemacht.« Die Jugendlichen erleben eine Vorverurteilung wegen ihres Aussehens. Das stiftet keine Sicherheit. Durch Selbstorganisierung soll der Teufelskreis der Fremd- und Selbstablehnung durchbrochen werden.

4. Unerkannte Nachbar:innen

Vom Betteln kommt man schnell zum Thema Obdachlosigkeit. Die Mehrheit der Rom:nja ist jedoch nicht von Obdachlosigkeit betroffen. Die deutschen Sint:ezze und Rom:nja leben in allen Arten von Quartieren. Sie sind in guten Gegenden bis zur einfach Mietwohnung zu finden. Auch die seit den 1970er Jahren nach Deutschland migrierten Roma leben in allen Stadtvierteln verteilt. Die Nachbarschaft vermutet, da sie ihrem Bild der Roma nicht entsprechen, häufig südeuropäische Nachbarn. Diese Nachbarschaften sind konfliktfrei und von konventionellem Umgang miteinander geprägt.

»Neunzig Prozent meiner Nachbarn wissen nicht, dass ich Rom bin«, so die einhellige Einschätzung vieler Roma. »Meine Tante lebt seit 45 Jahren in Stuttgart, viele wissen nicht dass sie Romni ist. Zum einen ist sie als Yugoslawin gekommen und zum anderen will sie keine Vorbehalte gegen sich erleben.« Neben diesen unsichtbaren Nachbar:innen, die nicht gesehen werden, weil sie nicht sein können, arbeiten viele Rom:nja in der Gebäudereinigung und Instandhaltung und sind somit Teil der Wohnungswirtschaft.

Viele Arbeitsmigrant:innen aus Südosteuropa sind in der Fleisch- und Lebensmittelindustrie tätig. Ihre Wohnsituation wird oft durch den Arbeitgeber gestiftet. Diese Arbeitnehmer:innen werden gemeinsam in randständigen Gebieten angesiedelt oder in temporären Siedlungen, etwa in der Landwirtschaft auf freiem Feld. Im Jahr 2020 sind Betriebe bekannt geworden, die völlig überfüllte Übergangswohnheime anbieten und zum dreifachen Preis Lebensmittel auf den Höfen verkaufen. Oft sind die Mieten für die Unterkünfte und deren Qualität überproportional hoch. Ein großer Teil des Lohns fließt wieder in die zur Verfügung gestellten Unterkünfte. Durch die doppelte Abhängigkeit von den Arbeitgeber:innen – für Arbeitsplatz und Aufenthalt – ist es schwierig, sich gegen die widrigen Arbeits- und Wohnbedingungen zu wehren.

Viele sich im Asyl befindenden Rom:nja leben in Asylunterkünften. Sie sind abgeschnitten vom Recht der freien Wohnortwahl.

Leben und Wohnen sind also je nach Status in der deutschen Gesellschaft sehr unterschiedlich. Das Ressentiment gegenüber Rom:nja und Sint:ezze vermutet Roma jedoch nicht als Individualmieter:innen sondern halluziniert verwahrloste, laute und großgemeinschaftliche Wohnverhältnisse. In der Leipziger Autoritarismus-Studie stimmt eine Vielzahl an Befragten der Aussage zu: »Ich hätte Probleme damit, wenn sich Sinti und Roma in meiner Gegend aufhalten.« Die Bilderproduktion aus Europa verstärkt dieses jahrhundertealte Ressentiment. Der spektakuläre Abriss von Armutsarchitekturen in Frankreich beispielsweise dominiert die dominanzgesellschaftliche Assoziation vom Wohnen von Rom:nja. Rom:nja würden mehrheitlich in Wohnwagen auf dem freien Feld ohne Wasseranschluss und rund ums Lagerfeuer wohnen.

Die Wohnsituation von Rom:nja ist jedoch divers. Viele Arbeitsmigrant:innen und Asylsuchende sind strukturell auf Sammelunterkünfte angewiesen, die ein individuelles und nachbarschaftliches Wohnen verunmöglichen.

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