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Über Genderzensur und den Feminismusbegriff in Russland - Interview mit Olga Woronina

Das Weiße Haus in Moskau
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Das Weiße Haus in Moskau

Gibt es in Russland eine Genderzensur?

Ja, aber als verstecktes Phänomen, auf der Ebene unterbewusster traditioneller Einstellungen bei jenen, die in den Medien arbeiten, sowohl auf der Leitungsebene als auch als bei gewöhnlichen Journalisten. Es lässt sich mit Bestimmtheit sagen, dass die Möglichkeiten für Frauen, in den Medien ihren Meinungen und sozialen Interessen Ausdruck zu verleihen, äußerst eingeschränkt sind. Selbst Journalistinnen sprechen und schreiben meist „nicht mit eigener Stimme“ und reproduzieren das klischeehafte Bild des „schwachen Geschlechts“, das nur an eine glückliche Heirat/Ehe und Shoppen denkt. Es ist klar, dass vor diesem Hintergrund Artikel und Berichte über die Diskriminierung der Frau in der Politik oder auf dem Arbeitsmarkt nicht gebraucht werden. In jenen seltenen Fällen, wo eine beruflich erfolgreiche Frau interviewt wird, kann es dann geschehen, dass diese – um die öffentliche Meinung zu bedienen – betont, dass sie überhaupt keine Feministin sei, dass es sich einfach so ergeben hat, dass sie schlichtweg Glück gehabt habe, und dass sie natürlich ihrem Mann die Hemden bügelt und Kuchen für die Kinder backt.

Warum distanzieren sich aktive und erfolgreiche Frauen öffentlich vom Feminismus?

Weil in Russland ein höchst unansehnliches Bild vom Feminismus geschaffen wurde. Besonders intensiv hat es sich Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre herausgebildet. Mit der Perestroika setzte in den Medien ein kritischer Pathos ein, der nicht gegen die Gesellschaft gerichtet war, die die Frauen diskriminiert, sondern gegen die Frauen selbst, indem ihnen, neben anderen ‚Sünden’, vorgeworfen wurde, ihre „natürliche Bestimmung“ vergessen zu haben. Gleichzeitig entstand ein Bild vom Feminismus als einer militant gegen Männer eingestellten Bewegung, die von Frauen gebildet wird, die im Privatleben nicht erfolgreich, nicht schön und aller Wahrscheinlichkeit nach lesbisch sind.... Das ist das karikaturhafte Bild der krummbeinigen Blaustrümpfe. Und die Frauen wollen nicht mit diesem Bild assoziiert werden.

  • Warum hat sich dieses karikaturhafte Bild des Feminismus so hartnäckig gehalten?

Weil parallel mit der Meinungsfreiheit das entstand, was wir als Genderzensur bezeichnen. Meinungsfreiheit wurde bereits während der Perestroika lediglich als eine Meinungsfreiheit für Journalisten verstanden, und nicht als eine für die ganze Gesellschaft. Daher können wir heute in Bezug auf Frauen als Gendergruppe von einer Verletzung der Meinungsfreiheit zur Artikulierung ihrer Interessen sprechen (In Klammern füge ich hinzu, dass auch viele andere soziale und ethnische Gruppen keine Meinungsfreiheit zur Artikulierung ihrer Interessen genießen). Während zu Politik, Wirtschaft und Geschichte in den Medien unvoreingenommene Beurteilungen und vielfältige Ansichten erscheinen, wurde die Diskussion zu Fragen der Frauenrechte und der Gleichstellung, ja zu Menschenrechtsfragen insgesamt geschlossen.

Es lässt sich also sagen, dass der Genderdiskurs in den Medien im gleichen Zuge beendet wurde, mit dem die Abwicklung der öffentlichen Diskussion zu Menschenrechtsfragen stattfand?

Ich würde das Problem nicht nur hierin sehen. Praktisch alle russischen Menschenrechtler sind der Ansicht, dass die Diskriminierung der Frau wegen ihres Geschlechts etwas an den Haaren herbeigezogen ist. Die Menschenrechtler ignorieren schlichtweg das komplexe, jedoch keineswegs unlösbare Problem der Vermengung allgemeiner und spezifischer Rechte der Frau, wie es in den Dokumenten der Vereinten Nationen beschrieben wird. Genderdiskriminierung ist ein systemhaftes soziales Phänomen, und sie kann nur durch den Einsatz der gesamten Gesellschaft überwunden werden.





Übersetzung:

Hartmut Schröder

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