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Der 8. März in Russland: Vom Marxismus zum Sexismus

Jelena Maximowa ist Aktivistin der Initiativgruppe Für Feminismus
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Jelena Maximowa

1910 schlug die deutsche Sozialdemokratin Clara Zetkin auf der Zweiten Internationalen Konferenz Sozialistischer Frauen in Dänemark vor, einen alljährlichen Tag der Solidarität mit arbeitenden Frauen in aller Welt im Kampf für gleiche wirtschaftliche und politische Rechte einzuführen. Sie rief dazu auf, die Öffentlichkeit durch Versammlungen und Demonstrationen darauf aufmerksam zu machen. Der erste Internationale Frauentag wurde für den 19. März 1911 festgelegt. (1)
 
In Russland wurde der Frauentag erstmals 1913 in Moskau und St. Petersburg begangen. 1914 fand er auch in Saratow, Samara, Iwano-Wosnessensk und Kiew statt. Zu dieser Zeit erschien auch die erste Ausgabe der Zeitschrift Rabotniza („Arbeiterin“), deren Gründung auf eine Initiative der Fraktion der Bolschewiki in der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDAP) zurückging. Auf der ersten Seite der Rabotniza war zu lesen: „Die Zeitschrift verfolgt das Ziel, die Interessen der Frauenarbeiterbewegung allseits zu verteidigen.“ (2) Aus diesem Grunde – und weil sie bis heute erscheint – wurde die Rabotniza als Quelle für diese Geschichte des Internationalen Frauentags 8. März in Russland gewählt.
1914 war also der 8. März der Kampftag der Arbeiterinnen, (3) um gemeinsam mit den Arbeitern für die Klasseninteressen zu einzutreten. (4) Die nächste Rabotniza-Ausgabe zum 8. März erschien erst wieder im Jahr 1923 (5) – nun bereits in einem Land, das eine soziale Revolution erlebt hatte, einem Land, das neu aufgebaut wurde, und in dem es, wie es schien, keinerlei Unterdrückung geben konnte. So lauteten die Parolen zum Tag der Arbeiterinnen wie folgt: „Selbstdisziplin, Selbsttätigkeit und aktive Beteiligung der Frauen am wirtschaftlichen Leben des Landes“ (6).

Bis 1930 wurde auf den Seiten der Zeitschrift dazu aufgerufen, andere Arbeiterinnen und Bäuerinnen in die Sowjets (Räte) zu holen und sich selbst aktiv an deren Arbeit zu beteiligen, (7) das Analphabetentum bei Frauen zu bekämpfen, (8) das Alltagsleben neu zu gestalten (Einrichtungen für Kinder, Volkskantinen, Wäschereien usw. auszubauen) und die Lenkung der Produktion zu erlernen. (9) Auf den 8. März hatte man sich vorzubereiten: Es waren „Kultur- und Alltagsmärsche der Arbeiterinnen“ in die Fabriken, Schulen, Geburtshäuser, Kantinen usw. zu organisieren. Ziel war es, den zweckmäßigen Einsatz der Mittel festzustellen (10), die Zahl der Analphabetinnen zu ermitteln und diese dann in die Likpunkty (11) zu schicken. Ebenso sollte erfasst werden, wieviel Arbeiterinnen über das Jahr hinweg für einen qualifizierten Arbeitsplatz nominiert worden waren, und „wieviel praktisches zur Befreiung der Arbeiterinnen von den Lasten durch Familie und Haushalt unternommen wurde“(12).

Somit war der 8. März in den 20er Jahren eine Demonstration dessen, dass jede Frau zu einer ‚Hausherrin’(13) des Landes werden und den Staat verwalten kann.

In der Rabotniza Nr. 7 des Jahrgangs 1930 ist zu lesen: „Die millionenstarken Massen der Frauen in der UdSSR sind herangewachsen und haben einen derart bedeutenden Platz für den Aufbau des Sozialismus eingenommen, dass ihr weiteres Wachstum nur durch die ganze Partei geleitet werden kann“. (14) Nun gilt, dass die Grundpfeiler der Ungleichheit endgültig zerbrochen werden, dass die Frauen von „häuslicher, abstumpfender, unproduktiver Arbeit“ befreit werden, und dass in der Sowjetunion eine völlig neue Art Frau entsteht, eine Frau, die all ihre Kräfte nun nicht mehr dem Kampf für die Gleichberechtigung widmet, sondern dem Kampf für den Fünfjahresplan.(15)

„Der Feiertag ist erfolgreich“, wenn alle Arbeiterinnen, jede einzelne, am sozialistischen Wettbewerb teilnehmen. Hierher rühren dann die Aufrufe, am Internationalen kommunistischen Frauentag für den „Sturm auf die Technik“ mobil zu machen und Trägheit und Blockierung zu bekämpfen, die Frauen daran hinderten, Technik zu beherrschen, (16) Aufrufe, die Stachanow-Bewegung unter den Arbeiterinnen und Kolchosebäuerinnen voranzutreiben, und Aufrufe an Arbeiterinnen, die Dienstleistungen in Kultur und Alltag, den Bau und die Ausrüstung von Kindergärten, Kantinen und Wäschereien unter ihre Volkskontrolle zu nehmen. (17) Pilotinnen, Stoßarbeiterinnen, Wissenschaftlerinnen, Kulturarbeiterinnen usw. wurden berühmt. Wenn Anfang der 30er Jahre die Vorbereitung auf den 8. März in der Rabotniza noch mit Beschreibungen wiedergegeben wurde, wieviel Kindergärten an diesem Tag eröffnet werden sollten, wieviel Vorbereitungskurse für Bäuerinnen zur Arbeit in den Sowjets stattfinden sollten usw., so wurde das in den folgenden Jahren durch eine Auflistung von Errungenschaften abgelöst, eine Aufzählung all dessen was die Revolution den Frauen gebracht hat. Der 8. März ist nun nicht mehr der Kampftag für die Gleichberechtigung sondern „eine politische Kampagne, die der Rekrutierung aller Arbeiterinnen zur Stoßarbeit in der Produktion dienen“(18) sollte,  und der Verteidigung der Heimat.

Während des Großen Vaterländischen Krieges ist der 8. März jener Tag, an dem der Aufruf „alle Reserven der Frauenarbeit zu mobilisieren“ in besonderer Weise gehört und wahrgenommen wird: „Arbeiterinnen, Ingenieurinnen und Technikerinnen! Gebt der Front Panzer, Flugzeuge und Waffen! Sanitäterinnen, Krankenschwestern und Ärztinnen! Tragt die Kämpfer und Kommandeure mit deren Waffen vom Schlachtfeld! Flakschützinnen, Scharfschützinnen und Pilotinnen! Verbessert Eure Kriegskunst unermüdlich!“(19)

In den Nachkriegsjahren ist die Frau „die Reserve der Arbeiterklasse“, (20) und am 8. März bringt sie „in unermüdlicher Arbeit“ die sowjetische Wissenschaft voran, erhöht die Arbeitsproduktivität und erzieht die Kinder.(21)

1960 wird der 50. Jahrestag des Internationalen Frauentags begangen. Zur Februarausgabe der Rabotniza erscheint eine Beilage, in der „Zahlen und Fakten“ aufgeführt werden, die Ergebnisse des Kampfes der Frauen für ihre politischen und wirtschaftlichen Rechte im Lande der Sowjets. Dieser Beilage zufolge haben die Frauen in den 50 Jahren sehr viel erreicht. Hier einige Überschriften, die diese Errungenschaften kennzeichnen: „700.000 Deputierte“, „Aktive Erbauerin des Sozialismus“, „Arbeit ist kreatives Schaffen“, „Zu den Gipfeln von Wissenschaft und Kultur“. Die Beilage endet dann mit dem Aufruf einer Internationalen Frauenkonferenz für Abrüstung, (22) „die Anstrengungen im Kampf für Abrüstung zu bündeln“(23). Während der 8. März zuvor noch ein Tag gewesen war, an dem die Erfolge der Frauen beim Aufbau des Sozialismus vorgezeigt wurden, ein Tag der Solidarität mit Arbeiterinnen in anderen Ländern im revolutionären Kampf, so wurde er nun zu einem Tag der internationalen Solidarität im Kampf für Frieden und eine glückliche Zukunft der Kinder.

Diese Haltung zum Frauentag blieb in den 70er und 80er Jahren unverändert.

„Dieser Tag hat etwas falsches“ (24) wird der 8. März während der Perestroika (25) beschrieben. An die Stelle von Gratulationen tritt nun ein Nachdenken darüber, ob es tatsächlich zu tiefgreifenden Veränderungen in der Haltung der Gesellschaft gegenüber Frauen gekommen war. Der 8. März wird jedoch weiterhin als Kampftag gedacht, und so ergeht auch inmitten der Gedanken um die erniedrigenden Seiten der Mutterschaft, um die zweitrangige Stellung der Frauen und um Gewalt in der Familie der Aufruf, dies alles zu ändern: „Wir wurden die Hausherrinnen des Landes genannt. Jetzt lasst es uns auch in der Tat werden!“(26)
Mit Beginn der 1990er Jahre verschwinden praktisch nicht nur die Glückwünsche zum Feiertag von den Seiten der Rabotniza, sondern es wird der 8. März sehr oft überhaupt nicht mehr erwähnt; und wenn, dann im Kontext von „Liebe Männer, schenkt den Frauen Blumen!“(27)
Der Tag, der einst die Quintessenz des Kampfes für die Gleichberechtigung der Frauen bedeutete, wurde zunächst zum Kampf der Frauen für Erfolge in der Arbeit zum Nutzen der Heimat transformiert, dann zum Kampf für Frieden in der Welt und eine glückliche Zukunft für die Kinder, und schließlich geriet er in unserer Zeit zu einem Tag, der die Quintessenz des Sexismus markiert.

 

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Endnoten:

1. Das für die verschiedenen Länder einheitliche Datum des 8. März wurde erst im Jahr 1914 eingeführt.
2. Rabotnica. 1914; Nr. 1.
3. Aus marxistischer Sicht hatten Frauen keine spezifischen, von der Klasse als Ganzes losgelösten Interessen, weswegen die Marxisten dem Begriff „Feministinnen“ höchst ablehnend gegenüberstanden, und dieser von ihnen wenn, dann nur im Sinne von „Vertreterinnen der bürgerlichen Klasse“ verwendet wurde.
4. V. Vedineva. Značenie ženskogo dnja [„Die Bedeutung des Frauentages“]. Rabotnica. 1914, Nr. 1.
5. Wegen des Ersten Weltkrieges und des Bürgerkrieges, der 1918 in Russland ausbrach, war das Erscheinen der Rabotniza eingestellt worden.
6. Kalendar’ Meždunarodnogo dnja rabotnic [„Kalender des Internationalen Arbeiterinnentags“]. Rabotnica. 1930, Nr. 7.
7.  A. Artjuchina. Kak dolžny rabotnicy gotovit’sja k 8 marta [„Wie sich Arbeiterinnen auf den 8. März vorbereiten sollen“]. Rabotnica. 1927, Nr. 3.
8. F. Njurina. 8-oe marta – proletarskij prazdnik [„Der 8. März ist ein proletarischer Feiertag“]. Rabotnica. 1928, Nr. 9.
9. A. Artjuchina. V nastuplenie na ostatki prošlogo [„Vormarsch gegen die Überreste der Vergangenheit“]. Rabotnica. 1929. Nr. 8.
10. A. Artjuchina. Kak gotovit’sja k 8 marta [„Wie man sich auf den 8. März vorbereiten soll“]. Rabotnica. 1929, Nr. 6.
11. Likpunkty – „Stellen zur Beseitigung des Analphabetentums“, die eine Grundbildung vermittelten.
12. Den’ rabotnicy [„Tag der Arbeiterin“]. Rabotnica. 1926, Nr. 4.
13. Russ.: „chosjajka“. Anm. d. Übers.
14. A. Artjuchina. Vos’moe marta 1930 goda [„Der achte März 1930“]. Rabotnica. 1930, Nr. 7.
15.  M. Šaburova. Razvernem podgotovku k 8 marta [„Die Vorbereitungen zum 8. März entfalten“]. Rabotnica. 1931, Nr. 8.
16. A. Artjuchina. 8 marta mobilizuemsja na šturm techniki [„Am 8. März machen wir für den Sturm auf die Technik mobil“]. Rabotnica. 1931, Nr. 9-10.
17. 8 marta – vsenarodnyj prazdnik [„Der 8. März ist ein Feiertag des ganzen Volkes“]. Rabotnica. 1939, Nr. 6.
18. A. Artjuchina. Vos’moe marta 1930 goda [„Der achte März 1930“]. Rabotnica. 1930, Nr. 7.
19. O Meždunarodnom ženskom dne – 8 marta. Postanovlenie CK VKP(b) [„Über den Internationalen Frauentag. Beschluss des ZK der Kommunistischen Partei (Bolschewiki) – VKP(b)“]. Rabotnica. 1944, Nr. 3.
20. K. Kirsanova. Partija Lenina-Stalina – vdochnovitel’ i organizator osvoboždenija ženščin [„Die Partei Lenins und Stalins ist der Inspirator und Organisator der Befreiung der Frauen“]. Rabotnica. 1947, Nr. 2.
21. O Meždunarodnom ženskom dne – 8 marta. Postanovlenie CK VKP(b) [„Über den Internationalen Frauentag. Beschluss des ZK der Kommunistischen Partei (Bolschewiki) – VKP(b)“]. Rabotnica. 1946, Nr. 3.
22. Die Konferenz der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit fand 1959 in Schweden mit Teilnehmerinnen aus 26 Ländern statt.
23. Dejstvovat’ vmeste! [„Gemeinsam handeln!“]. Rabotnica. 1960, Nr. 2, Beilage.
24. I. Žuravskaja. Razgovor 9 marta [„Gespräch am 9. März“]. Rabotnica. 1988, Nr. 3.
25. Perestroika – allgemeine Bezeichnung aller wirtschaftlichen und politischen Veränderungen, die von 1986-1991 in der UdSSR stattfanden.
26. Z. Krylova. Nel’zja ostanovit’sja! [„Nicht anhalten!“]. Rabotnica. 1989, Nr. 3.
27. Z. Krylova. Darite ženščinam cvety [„Schenkt den Frauen Blumen“]. Rabotnica. 1999, Nr. 3.

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Jelena Maximowa wurde in Moskau geboren, absolvierte die Historisch-philosophische Fakultät der Universität der Russischen Akademie für Bildung und arbeitete als Lektorin und Führerin im Staatlichen Museum für orientale Kunst. Sie ist Feministin, hat eine Vorliebe für Archäologie und Fotografie und beteiligt sich an Umweltprotesten. Aktivistin der Initiativgruppe Für Feminismus.

 

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