Fünf Fakten über Ehrenmorde

Feministischer Zwischenruf

Es gibt Begriffe im feministischen Diskurs, deren bloße Erwähnung schon reicht, um Konflikte auszulösen. „Sexarbeit“ ist so einer. „Non-binär“ darf ebenso nicht fehlen. Und auch der Begriff „Ehrenmord“ gehört auf diese Liste. Seit Jahren schon streiten sich Akteur*innen inner- und außerhalb der feministischen Diskurse, welches Gewicht einer Kritik des Phänomens beikommen soll und darf. Wollen jene, die Fälle von „Ehrenmord“ thematisieren nicht eigentlich vom deutschen sexistischen Normalzustand ablenken? Verteilen die, die ausgerechnet gegenüber einer der schlimmsten Formen männlicher Gewalt die Augen verschließen, nicht eine Art Kultur-Rabatt? Die gegenseitigen Vorwürfe reichen von Rassismus bis Islam-Appeasement. Dabei scheitert die Verständigung oft schon am grundlegenden Wissen. Hier sind fünf Fakten über „Ehrenmorde“.

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Ehrenmorde sind kein islamischen Phänomen

1. Ehrenmorde sind keine Familiendramen mit Migrationshintergrund

Wenn Medien über Ehrenmorde berichten, dann eint die Fälle oft nur eines: Der Täter hat Wurzeln im islamischen Ausland. Da geht es um Eltern, die im Schlaf ihre Kinder ermorden; Männer, die im Streit die Ehefrau erschlagen und gekränkte Expartner, die aus Rache die Verflossene erstechen und den Liebhaber gleich mit. Es sind Fälle, die unter nicht-migrantischen Deutschen genauso nur mit weit weniger Medieninteresse unter der Überschrift „Familiendrama“ oder „Beziehungstat“ abgehandelt werden.

Dennoch ist „Ehrenmord“ nicht nur ein medialer Kampfbegriff, um Migranten zu stigmatisieren. Er bezeichnet ein reales Phänomen, das sich klar von „Eifersuchtsdramen“ oder der „Blutrache“ abgrenzen lässt. Die wichtigste Unterscheidung: Anders als bei den meisten „Familiendramen“ resultiert die Tat nicht aus dem individuellen gekränkten Stolz des Täters, sondern zielt auf die Wiederherstellung der „Ehre“ einer ganzen Gemeinschaft, meistens seiner Familie. Nicht nur das Motiv zielt auf ein Kollektiv, auch Legitimation und Beauftragung geschieht im Familienkreis.

Die Hamburger Kultursoziologin Ursula Mihçiyazgan definiert Ehrenmorde als „Tötungsdelikte, die als Tatmotiv die Wiederherstellung der Familienehre haben, die infolge des als unehrenhaft beurteilten Verhaltens des Opfers verletzt wurde.“ Der Täter kann, aber muss aber nicht einen besonderen Bezug zum Opfer haben. Dass Brüder, Väter oder Ehemänner morden, ist zwar die Regel, aber auch entfernte Cousins oder bezahlte Mörder sind üblich. Eines hat der Ehrenmord aber dennoch mit „Familiendramen“ gemein: Die Opfer sind meistens Frauen.

2. Die meisten Täter sind Muslime

Legt man diese Definition zugrunde, dann sind Ehrenmorde in Deutschland tatsächlich ein nahezu ausschließlich migrantisches Phänomen. Mehr-Generationen-Deutsche, die Gewalttaten begehen, um damit die „Ehre“ ihrer Familie wiederherzustellen, gar im Auftrag ihrer Familie morden, gibt es so gut wie keine. Oder andersherum: Fast alle „Ehrenmorde“ in Deutschland gehen aus das Konto von Migranten.

Die seriösesten Zahlen zu Ausmaß, Hintergründen und rechtlicher Aufarbeitung von Ehrenmorden in Deutschland stammen von dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht. Im Auftrag des Bundesinnenministeriums haben die Forscher für den Zeitraum 1996 bis 2005 auf Basis von Prozessakten und Medienberichten 78 Taten zusammengetragen. Die Tätercharakteristika entsprachen der öffentlichen Wahrnehmung: 93 Prozent (113 von 122) der Täter waren männlich, 92 Prozent wurden außerhalb Deutschlands geboren, 91 Prozent besaßen keine deutsche Staatsangehörigkeit. Die meisten Täter (63 Prozent) stammten aus der Türkei, gefolgt von arabischen Ländern (14 Prozent). Täter ohne Migrationshintergrund fanden die Forscher nur einen einzigen: eine jesidische Familie hatte einen Deutschen als Auftragskiller engagiert.

Fabian Goldmann ist freier Journalist, Politik- und Islamwissenschaftler. Seine Themenschwerpunkte sind u.a. Islamophobie und die Kritik an patriarchalen Männlichkeiten.

3. Ehrenmorde sind kein islamischen Phänomen

Auch wenn es auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint: Das Phänomen auf den Islam zu reduzieren, führt am Problem vorbei. Gewalttaten gegenüber Menschen mit dem Ziel die Familienehre wiederherzustellen gibt es nicht nur im islamischen Raum, sondern auch in Süditalien, Brasilien oder Indien. Was Gesellschaften eint, in denen Ehrenmorde verbreitet sind, ist nicht ihre Religion. Neben stark patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen und einem herausgehobenen Stand der Familie im sozialen Gefüge, kommen weitere Faktoren begünstigend dazu: Die allergrößte Zahl der Ehrenmorde geschieht in ländlichen Gebieten und bäuerlichen Gesellschaften. Das liegt nicht nur am konservativen Werteverständnis, sondern auch am Fehlen staatlicher Gewalt in solchen abgelegenen Gebieten, welche das Entstehen von eigenen Rechtssystem begünstigt. In Ost-Anatolien, wo Ehrenmorde besonders verbreitet sind, steht Ehre für soziales Prestige, sie ist das Kapital einer Familie. Die Beseitigung einer Ehrverletzung sichert das soziale Gefüge innerhalb der Gemeinschaft. Dass dabei „islamisch“ eine nicht übermäßig relevante Variable ist, zeigt gerade der Blick in den Osten der Türkei. Denn nicht nur übertrifft der von Vieh- und Landwirtschaft geprägte Region alle andere „islamischen“ Regionen bei der Zahl der begangenen Ehrenmorde bei Weitem. Unter den ost-anatolischen Tätern finden sich nicht nur türkische und kurdische Muslime, sondern genauso Jesiden und syrisch-orthodoxe Aramäer. Auch historisch lässt sich die These vom islamischen Phänomen Ehrenmord nicht halten. Der Ehrenmord ist weitaus älter als der Islam selbst. Im islamischen Recht finden sich keinerlei Bestimmungen, die Ehrenmorde vorsehen oder legitimieren. Viele islamische Theologen sind sogar der Meinung, dass die Verbreitung des rechtlichen Ordnungssystems Islam eher dazu beigetragen habe, das vorislamische Phänomen des Ehrenmordes einzudämmen.

4. Deutsche Gerichte geben keinen kulturellen Rabatt für Ehrenmörder.

Immer mal wieder tauchen in den Medien Meldungen auf, wonach mit Verweis auf den kulturellen Hintergrund des Täters geringere Strafen für „Ehrenmörder“ verhängen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass dies in der Vergangenheit in Einzelfällen geschehen ist, die Regel ist es aber nicht. Im Gegenteil: Ehrenmorde werden statistisch härter bestraft als vergleichbare Tötungsdelikte. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung von Julia Kasselt. Die Kriminologin hat in ihrer Dissertation 63 Fälle von Ehrenmorden und 91 Fälle von klassischen Beziehungstaten untersucht. Ihr Ergebnis: Ehrenmörder erhielten signifikant höhere Freiheitsstrafen, auch lebenslange Freiheitsstrafen wurden häufiger verhängt. Außerdem stellte Kasselt einen Trend zu höheren Strafen fest. Ein Grund dafür: Im Februar 2002 urteilte der Bundesgerichtshof, dass Ehrenmorde als Mord aus niedrigem Beweggrund zu bewerten seien. Gegenüber vergleichbaren Tötungsdelikt gibt es also meist keinen Rabatt für Ehrenmorde, sondern einen Strafaufschlag.

5. Die allermeisten Gewalttaten gegenüber Frauen haben nichts mit Ehrenmorden zu tun

In noch einem Bereich gibt es einen Aufschlag für Ehrenmorde: beim öffentlichen Interesse. Während so ziemlich jeder der statistisch rund acht „Ehrenmorde“ jährlich Schlagzeilen macht, inklusive der vielen klassischen Beziehungstaten, die fälschlicherweise als Ehrenmorde bezeichnet werden, findet die Masse der Gewalttaten gegenüber Frauen nur wenig Beachtung.  Das Motiv der Wiederherstellung der Familienehre ist selbst unter türkischen Gewalttätern ein absolutes Minderheitenphänomen. Auch Muslime haben „Beziehungsdramen“, auch nicht-muslimische Männer reagieren auf individuelle Ehrverletzungen mit tödlicher Gewalt. Toxische Vorstellungen von Männlichkeit, Ehre und Stolz sind herkunftsübergreifend der Hauptgrund dafür, warum Männer   zu Gewalttätern werden. Laut einer gemeinsamen Veröffentlichung des Familienministeriums und des BKA wurden im Jahr 2015 104.000 Frauen in Deutschland Opfer von Gewalt in der Partnerschaft. Davon wurden 11.400 das Opfer schwerer Körperverletzung, 331 wurden Opfer von Mord oder Totschlag. Ihnen sollte gleichermaßen unsere Aufmerksamkeit gelten, egal ob ihrem Tod ein „Ehrenmord“ oder ein „Familiendrama“ vorausging.