Was bringt ein Wort?

Der Soziologie begegnete ich zum ersten Mal mit 16 Jahren. Unser Lehrer zitierte eine Stelle aus dem Buch von Pierre Bourdieu zur gesellschaftlichen Mobilität (bzw. dem Mangel daran). Es ging dabei um die verschwindend geringe Zahl an Fabrikarbeiterkindern, die selbst nicht auch Fabrikarbeiter* innen werden würden. Damals hatte ich noch nicht gelernt, über den Tellerrand des Exzeptionalismus zu blicken, und erklärte dem Lehrer umgehend, der Vater meiner Mutter sei Fabrikarbeiter, sie aber wäre Lehrerin geworden. Er könne also seinen sozialen Determinismus stecken lassen. Es dauerte mehrere Unterrichtsstunden, aber schließlich begriff ich, worauf mein Lehrer (und Bourdieu) hinauswollten. Sie waren alte weiße Männer und rein auf das Klassensystem fixiert, und doch haben sie mich gelehrt, mithilfe der Sozialwissenschaften zu verstehen, was in meinem Leben vor sich ging. Und noch etwas hat Bourdieu für mich getan – er ist Urheber eines Zitats, das erst später in meinem Leben seine ganze Bedeutung entfalten sollte: „Worte sind wichtig“.

Als mein Englisch endlich gut genug war, um das magische Reich der Schwarzen feministischen Theorie zu betreten, entdeckte ich dank Audre Lorde, dass wir, um „das Haus des Herren abzureißen“, fähig sein müssen, (neben anderen Werkzeugen) unsere Sprache neu zu prägen oder sogar neu zu erfinden. Worte sind wichtig, wenn du am Rand stehst und ständig von anderen definiert wirst, durch eine Geschichte von erzwungener Migration und kultureller Enteignung, von Gewalt. Prägt also eine Person ein neues Wort oder Konzept, die deine Erfahrungen perfekt beschreiben, macht das diese endlich für dich verständlich, auch wenn es vorher schwierig war, über die Folgen der eigenen Identität hinauszublicken. Wenn dir jemand ein neues Verständnis der Welt und deiner selbst schenkt, wirst du nie vergessen, wie du dich dank ihrer gefühlt hast (wie Maya Angelou sagte). Und so denke ich beim Schreiben über „Intersektionalität“ unweigerlich zurück an die Wissenschaftler*innen und Künstler*innen, die mein Leben verändert haben.

Dieses neue Wort, diesen neuen Begriff von Kimberlé Crenshaw zu empfangen, war ein prägender Moment in meinem Leben, ebenso wie die Begegnungen mit „Heteronormativität“, „Kreolisierung“ und „Ableismus“. Ich fühlte mich stark dadurch, ich hatte das Gefühl, meine Erfahrungen seien real und könnten auf ermächtigende Weise angegangen werden. Ich fühlte mich so wie beim Ansehen von Filmen von Sembene Ousmane, Dee Rees oder Agnès Varda. Und als Regisseurin, die mit der Macht der Leinwand Empathie, Bewusstsein und ein Gefühl von Zugehörigkeit schafft, wollte auch ich schon immer Filme machen, bei denen die Menschen – und besonders Schwarze Frauen* – etwas fühlen. Was also konnte ich tun? Ich konnte meine eigene Sprache schaffen und einem größtmöglichen Publikum zugänglich machen. So beschloss ich, dass mein erster Dokumentarfilm einer sein sollte, den ich als Teenager hätte sehen müssen, den es aber damals noch nicht gab.

Anfangs hatte ich die Vorstellung, dass Speak Up (Frankreich 2017) mit der Zusammenstellung verschiedener Einzelschicksale Zusammengehörigkeit schaffen sollte, damit junge Schwarze Frauen* sich weniger isoliert fühlen. Ich wollte, dass sie sich ermächtigt fühlen durch die Geschichten anderer Schwarzer Frauen* über Diskriminierung und Resilienz. Um diese Geschichte zu erzählen, werden Dramaturgie und der Fragebogen, auf den sich der Film stützt, quasi auf einer intersektionalen Leinwand ausgebreitet; dabei fällt das Wort „Intersektionalität“ kein einziges Mal. Ich möchte, dass das Publikum Intersektionalität durch Anschauung versteht: indem es 24 Schwarzen Frauen* zuhört, die Rassismus, Sexismus, Klassendiskriminierung, Herabsetzung, Religion, sexuelle Orientierung, Mutterschaft und Diskriminierung am Arbeitsplatz oder bei der Wahl der Schule ansprechen und von den Folgen dieser vielschichtigen Diskriminierungen in Frankreich und Belgien berichten.

Speak Up dreht sich auch um ein Thema, das mich bei französischen Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen immer schon geärgert hat: die Vorstellung, dass sich jede Person am Kampf beteiligen kann, wo doch in Wirklichkeit die meisten Menschen – gerade in Schwarzen Gemeinschaften – alle Hände voll zu tun haben, um zu überleben und gar nicht die Zeit oder die Mittel finden, sich zu organisieren – oder sich überhaupt bewusst zu machen, was in ihrem Leben schiefläuft. Ich hatte es satt, dass das Konzept von „Intersektionalität“, geschaffen zur Erklärung konkreter Fälle sich überschneidender Diskriminierungen, nicht für diejenigen verständlich gemacht wurde, die es am meisten brauchen. Für mich ist das Kino die beste Art, uns zu erinnern, dass die Existenz an sich schon eine Form von Widerstand ist und das Schweigen zu brechen ein eigenständiger subversiver Akt. Als Indie-Regisseurin will ich die Geschichten und heutigen Wirklichkeiten derjenigen Menschen erzählen, dokumentieren und festhalten, für die beziehungsweise über die normalerweise andere sprechen, und zugleich meine eigene afrodiasporische Ästhetik schaffen.

Das Kino war und ist immer wieder der Geburtsort einer neuen visuellen Sprache. Filme zu machen ist für mich ein Weg, den Begriff der Universalität vom Schwarzen, feministischen Standpunkt aus zurückzuerobern. Als Guerilla- Filmemacherin habe ich die höchste kreative Freiheit (und die meisten Magengeschwüre wegen der stressigen Eigenfinanzierung). Dank dieser Freiheit konnte ich mich über die Ästhetik behaupten: Ich war frei, das Genre des expertenlastigen Dokumentarfilms an seine Grenzen zu bringen (mit einem zweistündigen Film ohne Musik und Interviews in extremen Nahaufnahmen). Ich war frei, dokumentarisches Filmen nicht nur als mündliche Geschichte und Archivarbeit zu verstehen, sondern als Gelegenheit zum Schaffen einer neuen visuellen Sprache. Dank Kimberlé Crenshaw und der konzeptuellen Innovation und sprachlichen Kreativität anderer Wissenschaftler*innen und Künstler*innen konnte ich Kraft und Inspiration sammeln, um mir selbst völlige kreative Freiheit zu erlauben.

Was also bringt ein Wort?

Ein Wort kann der erste Schritt sein zur Emanzipation, es kann unendliche Möglichkeiten eröffnen, um das Erzählen zurückzuerobern, und es kann andere ermutigen, in deine Fußstapfen zu treten.