Seehofers Täuschungsmanöver

Feministischer Zwischenruf

Wenn ein Innenminister nicht die Bevölkerung, sondern die Polizei schützen möchte. Ein feministischer Zwischenruf.

Horst Seehofer erhebt den Zeigefinger

Die internationalen BlackLivesMatter Proteste wenden sich gegen die vielfach tödliche Gewalt gegen Schwarze Menschen. Anti-Schwarzer Rassismus wird vor allem auf der strukturellen Ebene durch staatliche Institutionen wie die Polizei ins Licht der Aufmerksamkeit geholt. Längst wird nicht mehr nur in den USA protestiert. Auch in Deutschland ist die Bewegung mit zahlreichen Teilnehmer*innen und Forderungen auf die Straßen und in die (mediale) Öffentlichkeit gegangen. 

Aktuell wird eine intensive Debatte über die Abschaffung der Polizei geführt, oder vielmehr sie sollte geführt werden. Doch Innenminister Horst Seehofer hat dafür gesorgt, dass längst überfällige unabhängige Studien oder Aktionspläne – also Maßnahmen, die verlässliche Daten zum Ausmaß der Gewalt liefern und Gegenmaßnahmen erlauben – wieder mal nicht eingefordert werden. Stattdessen droht er via Bild-Zeitung damit, Anzeige gegen die Journalist*in Hengameh Yaghoobifarah zu erstatten. Damit bringt er die Pressefreiheit in Gefahr. Menschen mit marginalisierten Positionierungen im Medienbetrieb müssen sich erneut fragen, was sie wie sagen oder schreiben dürfen, ohne die weiße Mehrheitsgesellschaft in Rage zu bringen.

"All cops are berufsunfähig"

Was ist passiert? Hengameh Yaghoobifarah fragt sich in einer taz-Kolumne „All cops are berufsunfähig“, ob Ex-Polizist*innen in einer Zeit, in der es zwar den Kapitalismus noch gibt, aber keine Polizei mehr, am besten nur noch auf einer Mülldeponie arbeiten sollten. Ihre Antwort auf die spekulative Frage ist radikal negativ: „Spontan fällt mir nur eine geeignete Option ein: die Mülldeponie. Nicht als Müllmenschen mit Schlüsseln zu Häusern, sondern auf der Halde, wo sie wirklich nur von Abfall umgeben sind. Unter ihresgleichen fühlen sie sich bestimmt auch selber am wohlsten.“ 

Die daraufhin zum Teil gewaltvoll geführte Debatte dreht sich nun nicht länger um rassistische Strukturen, die es auch in der Polizei gibt. Statt dessen wird der Autor*in vielfach unterstellt, sie würde die Polizei gern auf der Müllhalde entsorgen, eine Lesart, der ich nicht folge, insofern als es ihr nicht um die Entsorgung als Müll geht, sondern um ein potentielles Einsatzgebiet von Polizei am Ort der Müllhalde. Über Entsorgung hingegen haben ganz andere gesprochen. Richtig: Alexander Gauland. Wir erinnern uns sicher alle noch an den aufgelösten und mit Anzeige drohenden Horst Seehofer, nachdem Gauland die  Integrationsbeauftragte Özoguz "in Anatolien entsorgen" wollte. Ja? Nein! Damals schwieg Seehofer. Jetzt hingegen holt er richtig aus und bringt die Kolumne Yaghoobifarahs mit den Ausschreitungen in Stuttgart in einen Zusammenhang. Er lastet Yaghoobifarah geistige Brandstiftung an. Etwas, was dem Polizeisprecher in Stuttgart nicht in den Sinn kam. 

Es ist noch nicht lange her, da trat in Berlin das Landesantidiskriminierungsgesetz in Kraft. Schon hier schnellte der Puls des Innenministers höher. Denn neben vielen anderen wichtigen Errungenschaften dieses Gesetzes müssen Polizist*innen ab sofort beweisen, dass sie nicht, zum Beispiel rassistisch, diskriminiert haben. Bisher mussten Opfer polizeilicher rassistischer Diskriminierung, wie es etwa Racial Profiling darstellt, diesen Nachweis erbringen.

Wer darf sprechen?

Insbesondere in Pressekreisen, aber nicht nur da, dreht sich die Debatte nun zunehmend um die Frage, wer das Recht hat zu sprechen und vielleicht auch in welchem Ton, mit welchen Stilmitteln, aber vor allem, wieviel „subjektive“ (Diskriminierungs-)Erfahrung darf in journalistische Texte einfließen? Wo muss Identität/Subjektivität Objektivität weichen? Kann sie das überhaupt?
Als Schwarze Feministin habe ich von klugen Denkerinnen gelernt, dass es einen politischen und theoretischen Standpunkt braucht, um auf strukturelle Missstände und Herrschaftsstrukturen aufmerksam zu machen. Dieser Standpunkt speist sich natürlich aus den eigenen gelebten Erfahrungen, die in unsere Körper eingeschrieben werden. Es ist aber nicht dieser unterschiedliche Standpunkt, der uns vor allem von all jenen trennt, die Identitätspolitik reflexhaft mit Opferhaltung gleichsetzen. Was uns trennt, ist die fehlende Einsicht, diese Unterschiede anzuerkennen und zwar als Unterschiede zwischen Gleichberechtigten, wie es schon die Lyrikerin, Wissenschaftlerin und Aktivistin Audre Lorde gefordert hat. Aber klar, unterschiedliche Positionierungen anzuerkennen, hieße dann eben auch gelegentlich, eigene Privilegien zu hinterfragen, Räume zu teilen, statt sie zu Kampffeldern zu deklarieren, und vor allem weißes Herrschaftswissen nicht vor Kritik zu schützen. Das hieße anzuerkennen, dass ein „objektives“ Schreiben, vor allem von Kolumnen, nur schwerlich möglich ist, weil wir die Welt oder, um es etwas kleiner anzusiedeln, die Gesellschaft aus unserer Situierung erfahren und gestalten. Diese Erfahrungen sind unterschiedlich. Die Frage also, ob die Polizei neutral allen Menschen den gleichen Schutz zukommen lässt, wird je nach Erfahrungen unterschiedlich beantwortet werden. Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass alle Menschen das gleiche Vertrauen in diese Institution haben und das hat Geschichte. Mit der Sklaverei und der Kolonialzeit ist historisch angelegt, wer sich vor der Polizei existenziell bedroht fühlen muss und wer nicht.  

Fehlendes Vertrauen in die Polizei

Die fehlerhaften und lückenhaften Ermittlungen zum NSU oder die von der taz aufgedeckten rechtsextremen Netzwerke innerhalb der Bundeswehr zeigen tiefgreifende Missstände auf. Sie weckten bei vielen Zweifel bis hin zu einem Misstrauen, so beschreibt die Zeit-Kolumnistin Mely Kiyak aktuell, dass das Misstrauen so groß ist, dass viele in der Polizei es für nötig halten, von ihrem Fehlverhalten und der „zweifelhaften Einstellung gegenüber Minderheiten“ abzulenken. Ein Mittel des Täuschungsmanövers: Anzeigen gegen eine Journalistin – sei es durch die Polizeigewerkschaft(en) oder eben mit direkter Hilfe des deutschen Innenministers, dem obersten Dienstherr der Polizei. 

Presse- und Meinungsfreiheit geht uns alle an

Längst geht es nicht mehr darum, welche Erfahrungen für journalistische Artikel taugen. Jetzt geht es um die Presse- und Meinungsfreiheit, eine der Grundfesten unserer Demokratie. Die Aufregung nimmt deutlich zu. Denn, plötzlich, so möchte man sagen, geht es alle Journalist*innen an, auch die von der taz, die ihrer Kolleg*in in den Rücken fielen. Aber vergessen wir nicht, an wem dieses Exempel hier gerade statuiert wird: An einer queeren Person of Color, die sich das Recht herausgenommen hat, eine fundamentale Kritik an gewaltsamen Polizeistrukturen zu üben, in einer Zeit, in der wir uns die Überwindung der strukturellen rassistischen Gewalt als Gesellschaft insgesamt zur Aufgabe machen sollten. Denn, um es mit Audre Lorde zu sagen: „My silences had not protected me. Your silence will not protect you.“