Nur einen Augenblick länger als sonst überlegt Guo Jianmei, bevor sie antwortet. Auf die Frage, aus welchen Beweggründen sie den Kampf für die Rechte der Frauen in China aufgenommen hat, gibt es für die 49-jährige Anwältin keine einfache Antwort, reicht ein Satz nicht aus. Nicht, dass sie vor dieser Frage zurückscheut, ganz im Gegenteil. Man merkt, wie wichtig es Guo Jianmei ist, die ganze Geschichte zu erzählen, wie der Kampf für Frauenrechte zu ihrem Lebensinhalt wurde. Zu erklären, welche Rolle die wissenschaftliche Auseinandersetzung, aber eben auch die eigenen Erfahrungen und ihre Familiengeschichte dabei gespielt haben. „In meiner Familie galten Männer seit jeher als überlegen. Meine Großmutter starb mit nicht einmal 40 Jahren. Sie verhungerte, während sie Brot verkaufte. Dabei war noch etwas Brot übrig. Doch aus Angst verprügelt zu werden, hat sie nicht davon gegessen“, erzählt Guo Jianmei. Auch wenn es um persönliche Dinge geht, spricht sie laut und mit fester Stimme. „Nicht nur in meiner Familie, auch in meinem Heimatort galten Männer als etwas Besseres“, sagt sie.
Aus ihrer alten Heimat in der zentralchinesischen Provinz Henan bricht Guo Jianmei aus. Im Alter von 18 Jahren beginnt sie ein Jurastudium an der Peking Universität, das sie 1983 abschließt - in einer Phase, in der sich China noch von der Herrschaft Mao Zedongs erholt und sein Nachfolger Deng Xiaoping seine Öffnungs- und Reformpolitik vorantreibt. Nach ihrem Studium bekommt Guo Jianmei eine Stelle im Justizministerium in Peking, arbeitet als Redakteurin für ein Magazin des chinesischen Anwaltverbandes und auch für den nationalen Frauenverband, ein einflussreiches Massenorgan der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh). Dort erarbeitet sie sich ein umfangreiches Wissen im Bereich Frauenrecht, hilft später, die Gesetzgebung voranzutreiben. Doch ihr Wissen beschränkt sich nicht nur auf das akademische Feld. „Ich bin in dieser Zeit durchs Land gereist, habe bestimmt 18 Provinzen besucht, um mir einen Überblick über die Lage der Frauen im Land zu verschaffen“, sagt Guo Jianmei. Sie möchte deutlich machen, dass sie Missstände und die Diskriminierung chinesischer Frauen mit eigenen Augen gesehen hat.
Dabei ist der Gleichberechtigungsgedanke im kommunistischen China in jeder Verfassung seit 1949 verankert, die reine Gesetzeslage heute durchaus fortschrittlich. Im Frauenrechtsschutzgesetz von 1992 werden alle gesetzlichen Rechte der Frauen zusammengefasst. Zuletzt wurde es 2005 um Verbote der sexuellen Belästigung und der häuslichen Gewalt ergänzt. Die Entwicklung der Frauenrechte in China allein nach der Gesetzeslage zu beurteilen, damit mache man es sich laut Guo Jianmei aber zu einfach. „Es stimmt, dass unser Rechtssystem beim Familienrecht, bei der Ehegesetzgebung und beim Arbeitsrecht für Frauen besser wird“, sagt die Juristin. Allerdings gäbe es bei der Umsetzung in der Rechtsprechung noch gravierende Mängel. „Das Gesetz in China ist eine schlafende Schönheit. Würde nur die Hälfte aller vorhandenen Gesetze angewandt, wäre vieles in China besser“, so Guo.
Für die chinesische Anwältin wird das Jahr 1995 zum Wendepunkt in ihrem Leben. Zu dieser Zeit nimmt sie an der internationalen Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationenin Peking teil. Dank der Konferenz kommen viele Chinesen erstmals mit ausländischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in Kontakt. Nach dem Austausch mit Frauen aus aller Welt steht für Guo Jianmei fest, dass sie ihre eigene NGO gründen möchte. Noch im selben Jahr kündigt sie ihre sicheren Regierungsjobs und hebt ein Studien- und Beratungszentrum für Frauen in Peking aus der Taufe, das mittlerweile eine der aktivsten NGOs des Landes ist. Guo Jianmei selbst ist zu einer der bekanntesten Bürgerrechtsanwältinnen in China geworden. Auch international erhält ihre Arbeit viel Anerkennung. 2007 überreichte ihr Hillary Clinton den „Global Women’s Leadership Award“. Seit über 15 Jahren kämpft ihr Zentrum nun für die Rechte chinesischer Frauen. Dazu gehört der Einsatz für ein besseres Rechtssystem genauso wie die konkrete Hilfe für Frauen, damit diese ihre Rechte gegenüber den Behörden durchsetzen können. Etwa 80 000 Rechtsberatungsfälle hat das Zentrum bisher schriftlich, telefonisch oder in persönlichen Treffen bearbeitet. Circa 3 000 Fälle hat der Verein vor verschiedenen Gerichten im ganzen Land kostenlos verhandelt, Frauen verteidigt, die sich ansonsten keinen Rechtsbeistand hätten leisten können. Das Beratungszentrum hat zahlreiche Hotlines geschaltet, die über Zeitschriften und das Internet beworben werden. Etwa 20 Anrufe gehen jeden Tag ein. Rund die Hälfte der Anrufer benötigt rechtliche Unterstützung. „Manchmal kommen Frauen auch direkt in unser Büro. Uns fehlen allerdings die Mittel, um jeden Fall zu bearbeiten. Wir können nur wenige auswählen”, erklärt Guo Jianmei.
Einige dieser Fälle sorgen für Aufsehen, werden auch von der chinesischen Presse aufgegriffen. So wie das Schicksal der jungen Frau Li aus der südöstlichen Provinz Anhui, die als Bittstellerin nach Peking kam und dort vergewaltigt wurde. Immer wieder reisen Chinesen in die Hauptstadt, um sich bei der Zentralregierung über Korruption und Willkür in ihren Heimatprovinzen zu beschweren. Dieses Petitionssystem hat Tradition und reicht bis in das Kaiserreich zurück. Doch die Provinzbehörden versuchen oft zu verhindern, dass die Regierung in Peking von den Beschwerden erfährt, weil diese zu schlechten Noten innerhalb des Bewertungssystems der KPCh führen. Deshalb fangen Beamte aus den Provinzen Bittsteller häufig direkt vor der zentralen Petitionsstelle in Peking ab, noch bevor sie ihr Anliegen vorbringen können. Gegen ihren Willen und häufig mit Gewalt werden Petitionäre in illegalen, so genannten schwarzen Gefängnissen eingesperrt. Per Bus werden sie dann später zurück in ihre Heimat gebracht, wo ihnen weitere Bestrafung droht. In einem dieser „schwarzen Gefängnisse“ in einem Vorort von Peking wurde die 21-jährige Li Ruirui von einem Sicherheitsmann vergewaltigt. Guo Jianmeis Zentrum hat den Fall vor Gericht gebracht und in erster Distanz gewonnen. Nun verhandeln sie noch über ein höheres Schmerzensgeld. Dieser Erfolg ist bedeutsam, denn bisher versuchen Behörden die Existenz dieser Abschiebegefängnisse zu leugnen.
Trotz oder gerade wegen solcher Erfolge ist die Arbeit des Beratungszentrums in der letzten Zeit schwieriger geworden. Im vergangenen Jahr kündigte die Pekinger Universität, die seit Gründung des Zentrums als Träger fungiert hatte, die Kooperation mit Guo Jianmeis Rechtsberatungszentrum auf. Als Grund vermutet die Anwältin „Druck von oben“. Die Fälle, die das Beratungszentrum verhandelt, seien der Regierung vermutlich zu brisant. Doch nicht nur auf das Studien- und Beratungszentrum für Frauen wächst der Druck, auch andere NGOs haben mit den Behörden zu kämpfen. Kooperationen mit Universitäten wurden beendet, die Regeln für die Annahme von ausländischen Spendengeldern verschärft. Mit diesen Maßnahmen wird die Arbeit von NGOs massiv behindert. Denn diese müssen in China theoretisch an eine Behörde angebunden sein. In der Praxis wird eine solche Registrierung aber fast nie erlaubt. Daher registrieren sich die meisten NGOs als Unternehmen. Das bedeutet aber, dass sie Spendengelder als Einnahmen versteuern müssen. So wird ihr Handlungsspielraum deutlich eingeschränkt. Im schlimmsten Fall nutzen Behörden diesen unklaren Status der NGOs, um sie mit fragwürdigen Steuerhinterziehungsvorwürfen zu überziehen, und sie handlungsunfähig zu machen oder ganz zu schließen.
Guo Jianmei lässt sich durch die Schikanen der Behörden nicht von ihrer Arbeit abbringen. Das Engagement von Bürgerrechtlern hält sie für wichtiger denn je. Für sie offenbart gerade der wirtschaftliche Aufstieg Chinas gesellschaftliche Ungerechtigkeiten. „Es gibt einfach noch viele Menschen, die zu wenig vom Aufschwung profitieren“, sagt die Anwältin. Besonders die Einkommensunterschiede zwischen Stadt- und Landbevölkerung seien gravierend. Ungerechtigkeiten und Korruption würden immer deutlicher zu Tage treten. Die Bevölkerung will das nicht mehr akzeptieren – denn diese wird sich laut Guo Jianmei ihrer Rechte immer bewusster. Für den Kampf gegen die Diskriminierung von Frauen hat Chinas ökonomischer Aufstieg mehr als eine Seite. Zum Einen arbeiten immer mehr Frauen in den Großstädten in Führungspositionen von Unternehmen, erlangen insgesamt eine größere finanzielle Unabhängigkeit und haben immer bessere Bildungschancen. So ist an zahlreichen Universitäten Chinas die Zahl an weiblichen Studienanfängern im vergangenen Jahr das erste Mal höher gewesen als die von Männern. Gleichzeitig bringt der Aufschwung aber auch Probleme. „In den Metropolen steigt besonders die Zahl sexueller Belästigungen am Arbeitsplatz“, sagt Guo Jianmei.
Vor allem auf dem Land haben Frauen noch mit Vorurteilen und Diskriminierungen zu kämpfen, die häufig auch finanzielle Folgen haben –, wie zum Beispiel bei der Enteignung von Grundstücken. Im Zuge der Urbanisierung benötigt die chinesische Regierung immer mehr Flächen für Bauvorhaben. Dafür werden ganze Dörfer abgerissen. Obwohl Land im Kollektivbesitz der Dorfgemeinschaft ist, werden Frauen von den lokalen Verantwortlichen oft um ihre Entschädigung gebracht. Gerade Frauen, die in ein anderes Dorf geheiratet haben, geschiedene Frauen oder Witwen werden bei der Verteilung der Entschädigungssummer einfach nicht berücksichtigt. Guo Jianmeis Rechtsberatungszentrum nimmt sich solcher Landrechtsfälle an.
Wenn Männer als Wanderarbeiter in die Großstädte ziehen, bleiben Frauen mit ihren Kindern allein im Dorf zurück und werden Opfer von Belästigungen und Übergriffen. Richter und Polizeibeamte sind meist Männer, die nicht auf den Umgang mit solchen Fällen vorbereitet wurden und die Situation für die Opfer noch schlimmer machen“, berichtet Guo Jianmei. Ihre Organisation bietet Trainingskurse für Polizei und Justizbehörden in den ländlichen Regionen an, wie man in Fällen von Vergewaltigung und häuslicher Gewalt vorgehen sollte. „Dabei beobachten wir, wie Polizisten oder Richter zum ersten Mal verstehen welche Rolle sie selber spielen. Davor haben die meisten Männer darüber nie nachgedacht.“
„Häufig gelten Frauen in China immer noch als schwach - selbst jetzt im 21. Jahrhundert, sagt die Anwältin. Dies zu ändern hat sie sich zur Aufgabe gemacht. „Man wird in diese Arbeit hineingezogen und geht in ihr auf, bis man einfach nichts anderes mehr machen kann und möchte“, sagt Guo Jianmei. Und vielleicht ist dies dann doch die eine kurze Antwort, der eine Satz, der beschreibt, wie der Kampf für die Rechte von Frauen ihr Leben geworden ist.
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Das Buero der HBS in China arbeitet seit 2007 mit der Organisation von Guo Jianmei zusammen. Ein gemeinsames Programm widmete sich der Einhaltung von Gender Richtlinien bei Projekten, die von Weltbank und Asiatischer Entwicklungsbank in China finanziert werden. Zur Zeit arbeiten wir an einem Programm, um AnwältInnen in Chinas Westprovinzen weiterzubilden, insbesondere im Hinblick auf die Rechtsdurchsetzung für Frauen.
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