In bereits fünf russischen Regionen gibt es lokale Gesetze, die „Propaganda für Homosexualität, Bisexualität und Transsexualität“ unter Strafe stellen. Die jüngste war, nach Rjasan, Jaroslawl, Archangelsk und St. Petersburg, die Großstadt Krasnodar in Südrussland am Schwarzen Meer. Dort liegt auch Sotschi, der Austragungsort der Olympischen Winterspiele 2014. In weiteren Regionen und auch im Parlament, der Staatsduma, sind ähnliche Gesetze in Vorbereitung. Begründet werden all diese Gesetzesregelungen mit dem Schutz von Minderjährigen. Doch das ist pure Heuchelei, wie schon ein kurzer Blick nach St. Petersburg zeigt. Im dortigen Gesetz (und erst recht im öffentlichen Diskurs) wird Kindesmissbrauch mit Homosexualität, Bisexualität und Transsexualität auf eine Stufe gestellt. Der Staat spielt hier erfolgreich damit, dass umgangssprachlich bis heute im Russischen „Päderast“ das gebräuchlichste Schimpfwort für Schwule ist. Diese Vermischung ist nicht zufällig, sondern gewollt. Die Gesetze sind Teil eines umfassenden gesellschaftspolitischen Rollbacks, der in letzter Zeit als Teil von Putins Strategie gegen die wachsende Opposition erheblich an Fahrt gewinnt.
Nun war das Leben für Schwule, Lesben, Transgender oder Intersexuelle, die sich nicht mit einem Dasein in der Abgeschlossenheit privater Räume und verschwiegener Clubs zufrieden geben wollen, in Russland auch bisher nicht einfach. Das zeigte sich bisher am deutlichsten und sichtbarsten an den alljährlichen Auseinandersetzungen um Gay-Paraden in Moskau, St. Petersburg und seit Kurzem auch anderen Städten. Die Behörden lehnten es auch schon vor der nun anrollenden diskriminierenden Gesetzeswelle meist ab, die jährlichen Gay-Paraden zu genehmigen. Selbst der Trick, sie als reine Demonstrationen gegen die Diskriminierung von Schwulen und Lesben anzumelden, scheiterte meist. Immer wieder wurden Demonstrant_innen von radikalen orthodoxen Christen oder russischen Nationalisten verprügelt, ohne dass die Polizei einschritt. Vielen dürfte noch die blutende Nase von Volker Beck, dem politischen Geschäftsführer der Grünen Bundestagsfraktion, in Erinnerung sein, der 2006 in Moskau von Gegendemonstranten angegriffen wurde. Die zahlreich anwesenden Polizisten taten nichts. Becks Versuche, den namentlich bekannten Schläger vor einem russischen Gericht zur Rechenschaft zu ziehen, endeten erfolglos.
Die Hetze erreicht eine neue Qualität
Doch mit den nun überall im Lande verabschiedeten diskriminierenden Gesetzen bekommt die Hatz auf nicht der heterosexuellen Geschlechter- und Beziehungsnorm entsprechenden Liebende und Lebende eine neue Qualität. Warum das gerade jetzt passiert, hat laut Polina Sawtschenko von der St. Petersburger LGBTI-Organisation „Wychod“, Partnerin der Heinrich-Böll-Stiftung, vor allem zwei Gründe. Zum einen handele es sich um einen Backlash auf die trotz aller bestehender Widerstände zunehmende Sichtbarkeit von sexuellen Minderheiten im öffentlichen und auch im Alltagsleben des Landes. Immer mehr Schwule und Lesben lebten vor allem in den beiden Megapolen Moskau und St. Petersburg, aber auch in anderen Millionenstädten immer offener und selbstbewusster so ihr Leben, wie sie es als richtig empfänden.
Zum anderen passten die neuen Gesetze zur politischen Entwicklung, auf mehr Offenheit in der Gesellschaft und mehr individuellen und zivilgesellschaftlichen Mut in erster Linie autoritär mit Verboten und Strafen zu reagieren. Putin und sein Regime verliert zunehmend an Popularität und versucht in diesem Bereich mit populistischen Maßnahmen zu punkten. Homophobie ist in der russischen Gesellschaft - selbst unter sich liberal verstehenden Menschen - immer noch tief verwurzelt. In Umfragen geben regelmäßig mehr als 70 Prozent der Befragten an, Homosexualität sei ein „schädliches Verhalten“ oder eine Krankheit. Mehr als 80 Prozent finden es richtig, Gay-Paraden zu verbieten und 85 Prozent lehnen gleichgeschlechtliche Ehen grundsätzlich ab. Ein Thema also - so dürfte der Kremlschluss gelautet haben - das propagandistisch leicht auszunutzen ist.
Fundamentalismus und patriarchale Strukturen
Zum Machterhalt verbindet sich das Putin-Regime zudem mit dem, was ich die „obskuren Ränder“ der russischen Gesellschaft nennen würde. Das sind Menschen und Gruppen, die das sogenannte „gesunde Volksempfinden“ auch, oft sogar bevorzugt mit Gewalt durchsetzen wollen. Dazu gehören weite Kreise der russisch-orthodoxen Kirche, vor allem im Klerus, aber auch radikalisierte Laien, denen Homosexualität im direkten Sinn des Wortes als „Todsünde“ gilt. Hier bestehen auch direkte Verbindungen zu radikalen Nationalist_innen, vor allem aber zu Fundamentalist_innen anderer Religionsgemeinschaften, vor allem Vertreter_innen muslimischen, aber auch jüdichen Glaubens. Der Abstand zwischen dem religiösen und dem profanen Teil der russischen Gesellschaft ist weit größer als in den meisten mittel- oder westeuropäischen Ländern. Am ehesten lässt sich die Situation wohl mit den USA, vielleicht auch noch mit Polen vergleichen. Das zeigt sich auch daran, dass die Strafverfolgung der Punkrockerinnen von Pussy Riot wegen ihres Punk-Gebets in der Moskauer Christerlöserkirche auch innerhalb der orthodoxen Kirche Kritik hervorruft, die Verfolgung von Schwulen und Lesben aber kaum.
Die weit verbreitete Schwulenfeindlichkeit (wie in fast allen patriarchalen Gesellschaften rufen Lesben weit weniger Ablehnung hervor, während MtF-Transgender weitgehend als besonders effeminierte Schwule aufgefasst und FtM-Transgender oder Intersexuelle im öffentlichen Diskurs überhaupt nicht vorkommen), stützt sich aber auch auf ein in Russland weithin dominierendes, vorwiegend vormodernes Bild von Geschlechterrollen. Trotz der weitgehenden Integration von Frauen in den Produktionsprozess in der Sowjetunion dominieren in weiten Teilen der Bevölkerung im Reproduktionsbereich bis heute patriarchale Einstellungen.
Wie wirken sich die neuen Gesetze in der Praxis aus? Nach Beobachtung von Polina Sawtschenko haben Angriffe auf LGBTI-Aktivistinnen und Aktivisten seither zugenommen. Gleichzeitig gebe es aber auch deutlich mehr Schwule, Lesben oder Transgender, die bereit seien, sich öffentlich zu engagieren und bei Übergriffen zur Polizei zu gehen oder vor Gericht. Wegen „Schwulenpropaganda“ ist bisher kaum jemand verurteilt worden. Diejenigen, die schon eine (wenn auch geringe) Geldstrafe zahlen mussten, hatten es, wie die Demonstrant_innen in St. Petersburg mit ihrem Plakat „Schwul- und Lesbischsein ist eine wissenschaftliche Tatsache“, sozusagen darauf angelegt. Ein weiterer Versuch von LGBTI-Gruppen, gegen die Gesetze vorzugehen, ist es, mit Hilfe von Menschenrechtler_innen und Anwält_innen bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu gelangen. Von russischen Gerichten erhofft sich derweil kaum jemand Unterstützung.
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Jens Siegert ist Leiter des Moskau-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung. Er kommentiert auf unserem Russland-Blog regelmäßig aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen in Russland.
2012