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„Ein kleines Zäpfchen, ein bisschen Salbe“. Der Beschneidungsschmerz wird bagatellisiert.

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Der Gesetzesentwurf zur Beschneidung löst weiterhin Kontroversen aus.

Dürfen nichtjüdische Deutsche Juden etwas von Körperverletzung erzählen? Eine Mehrheit der deutschen Politiker_innen hat diese Frage verneint. Und das ist nachvollziehbar. Jemandem, dessen Familie von den deutschen Nazis gejagt und ermordet wurde, zu erklären, er verletze ein Menschenrecht, wenn er ein Stückchen Haut seines Sohnes opfere - diese Relation ist monströs. Es braucht nicht das sorgenvolle Tremolieren der jüdischen Gemeinde, die ihre Existenz in Deutschland zum zweiten Mal gefährdet sieht, wenn man sie ihres alten Ritus beraube - es reicht, schlicht des Holocaust als historischen Ereignisses zu gedenken.



Die Reaktion der Politik ist also nur allzu verständlich. Es ist eben nicht nur eine politische Reaktion, sie ist auch menschlich. Und doch gibt es eine andere Seite. Das Ritual verletzt ein Kind. Und über dieses Kind wird im Moment so hinweggegangen, als walte heute noch die schwarze Pädagogik. Als wäre die körperliche Unversehrtheit des Kindes kein Wert an sich, sondern dürfe nach Gusto der Eltern eingeschränkt werden.

Bei all dem ist besonders auffällig, dass sich nur wenige in den kleinen Jungen einfühlen, dem ohne medizinischen Grund eine Verletzung an empfindlichster Stelle beigebracht wird. Das könnte etwas mit unbewußten patriarchalen Mustern zu tun haben: Jungs heulen nicht. Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Je tapferer der Junge, desto stolzer der Papa. Mit anderen Worten: Der Schmerz wird geleugnet, er wird ignoriert, bestenfalls bagatellisiert. Verniedlicht: Ein bisschen Salbe oder ein kleines Zäpfchen sollen angeblich ausreichen, ihn zu betäuben. Wo keiner über Schmerz redet, kann auch keiner sein. Das Kind ist also mit seiner Verwundung sehr allein auf der Welt.

Das macht den Gesetzentwurf eben auch unerträglich. Er mag gut gemeint sein, er ist kinderrechtlich ein Fiasko. Da sollen Beschneider "nach den Regeln der ärztlichen Kunst" vorgehen. Aber Beschneider, die keine Ärzte sind, dürfen nunmal keine Spritze zur Lokalanästhesie geben. Da darf nicht beschnitten werden, wenn das "Wohl des Kindes" gefährdet ist. Sehr wohl wird einem Kind kaum sein, wenn es verletzt wird und mehrere Tage oder Wochen Schmerzen hat - und sich eventuell noch Komplikationen einstellen. Das Justizministerium hat exakt das Problem in Gesetzesform gegossen - und nicht die Lösung.

Es hilft nichts, wir müssen über dieses Ritual reden - auch wenn es Teil der jüdischen Kultur ist. Wir müssen darüber reden, dass hier ein patriarchaler Gott ein Opfer von einem Jungen verlangt, ihn symbolisch

kastriert und ihm so sein Gesetz einbrennt. Wenn dieses Ritual die jüdische Gemeinschaft zusammenschweißt, dann bedeutet das auch, dass es eine Gemeinschaft von Männern ist - Frauen kommen ja nicht vor. Das Ritual nimmt dem Jungen ein sensibles Teil seines Körpers und macht ihn im wahrsten Sinne des Wortes härter. Wer fühlt mit diesem Jungen?

Viele Eltern, lautet die Antwort. Eltern, die ihre Söhne einfach nicht beschneiden lassen, ohne großes Aufhebens darum zu machen. Die ein Ersatzritual finden. Warten, bis das Kind allein entscheiden kann. Ja, obwohl die Beschneidung ein uralter Brauch ist, kann man sie verändern. Besser gesagt: WEIL die Beschneidung ein uralter Brauch ist, aus Zeiten in denen es noch keine Kinderrechte gab, muss man sie verändern. Sie ist eine schädliche traditionelle Praktik.

Die deutsche Politik wird sich entscheiden müssen. Ihre bisherige Haltung ist politisch und menschlich verständlich. Doch das reicht hier einfach nicht aus. Sie muss auch mutig sein. Und das heißt, seine eigens verabschiedeten Kinderrechte ernst nehmen.