Vorstudie zur Lebenssituation von Inter*Personen im globalen Süden und Osten
Vorwort aus der Studie
Intergeschlechtliche Personen sind Menschen, die sich im Hinblick auf ihr chromosomales, gonadales oder anatomisches Geschlecht nicht in die medizinische Norm sogenannter „männlicher“ und „weiblicher“ Körper einordnen lassen. Inter*Menschen werden nach wie vor pathologisiert, sie gelten als „krank“ oder „abnorm“. In der westlichen Welt wird ihnen häufig schon im Säuglingsalter durch operative Eingriffe das männliche oder weibliche Geschlecht zugewiesen. Eine medizinische Notwendigkeit besteht jedoch nicht, denn meist sind intergeschlechtliche Menschen völlig gesund. Die medizinischen Behandlungen finden – gerade wenn sie in jungen Jahren vorgenommen werden – meist ohne Zustimmung der Inter*Menschen statt. Häufig leiden diese später schwer an den psychischen und physischen Folgen der ärztlichen Eingriffe. Die Ausbildung einer eigenen geschlechtlichen Identität, die sich zwischen dem gesellschaftlich dominierenden bipolaren Geschlechtermodell männlich/weiblich verorten kann, bleibt ihnen so meist versagt.
Rechtliche Hürden stellen sich für Inter*Menschen in vielen Ländern beim Eintrag des Geschlechts in die dringend benötigte Geburtsurkunde. Dies muss wenige Wochen nach der Geburt erfolgen. Nur mit ihr kann in Deutschland zum Beispiel Elterngeld beantragt, Krankenversicherungsschutz gewährt, die gesonderte Vaterschaft anerkannt und ein Betreuungsplatz reserviert werden. Der Druck auf die Eltern, dem Kind früh ein „eindeutiges“ Geschlecht operativ zuweisen zu lassen, ist hoch.
Inter*Menschen sind weltweit gesellschaftlich kaum sichtbar, denn Intergeschlechtlichkeit ist nach wie vor stark tabuisiert. Aus Angst vor Stigmatisierung und sozialer Ausgrenzung bekennen sich viele Inter* nicht öffentlich zu ihrer Geschlechtlichkeit. Ist sie in seltenen Fällen bekannt, sind sie nicht nur verbaler und struktureller Diskriminierung ausgesetzt. Sie erfahren auch physische Gewalt und lebensbedrohliche Situationen. In Uganda sind intergeschlechtliche Säuglinge stark gefährdet, da der Mutter bei Entdeckung der Intergeschlechtlichkeit der Ausschluss aus der Gemeinschaft droht. Es gibt starke Hinweise darauf, dass Mütter ihre intergeschlechtlichen Babys töten, damit sie nicht verstoßen werden.
Mit der hier vorliegenden Studie zur Diskriminierungssituation von Inter*Menschen in zwölf ausgewählten Ländern möchte die Heinrich-Böll-Stiftung auf diese Menschenrechtsverletzungen gegen intergeschlechtliche Menschen aufmerksam machen. Der Menschenrechtsschutz für Menschen nonkonformer sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität ist in den letzten Jahren international wesentlich stärker in den Blick gerückt und hat mitunter zu echten Verbesserungen geführt. Profitiert haben davon meist Schwule und Lesben, zum Teil auch Trans*Menschen. Die Diskriminierung von Inter*Personen bleibt bis zum heutigen Zeitpunkt weitestgehend unsichtbar.
Aktuelle Menschenrechtsinstrumente und an LSBTI gerichtete Programme verfolgen unter Verwendung des Begriffes Geschlechtsidentität eine einbeziehende Strategie. Die tatsächliche konzeptionelle Umsetzung, zum Beispiel in der konkreten Projektarbeit, ist jedoch noch sehr unterschiedlich. Meist herrscht die rein rhetorische Einbeziehung in das Konzept der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität (SOGI) vor, ohne dass die Lebenslagen von Trans* und Inter*Personen inhaltlich reflektiert und adressiert werden. Selbst wenn Geschlechtsidentität inhaltlich definiert wird, finden sich dann vor allem die Bedürfnisse von Trans* wieder. Inter*, ihre Anliegen und ihre körperliche und geschlechtliche Vielfalt sind selbst im Geschlechtsidentitätskonzept randständig bis unsichtbar – eine konzeptionelle Leerstelle, die sich auch im Ausbleiben von Fördermitteln widerspiegelt.
Dieser Leerstelle möchte die Heinrich-Böll-Stiftung mit dieser Studie entgegenwirken. Sie benennt die größtenteils noch unsichtbare Diskriminierung von intergeschlechtlichen Menschen und bringt sie somit in die Öffentlichkeit. Wir bieten hier einen ersten Überblick über die Lebenssituation intergeschlechtlicher Menschen aus zwölf ausgewählten Ländern aus unterschiedlichen Regionen der Welt. Die Studie liefert Anknüpfungspunkte für Strategien zur Verbesserung der Menschenrechtssituation intergeschlechtlicher Menschen und gibt Empfehlungen, wie Akteur_innen in diesem Bereich Maßnahmen entwickeln können, um der geschlechtlichen Vielfalt zu Sichtbarkeit zu verhelfen und so den Menschenrechtsschutz zu erhöhen.
Ein wichtiges Anliegen war und ist es, Inter* selbst ihre Situation beschreiben und ihre Bedarfe formulieren zu lassen. Die Herausforderungen, mit denen wir bei der Erhebung der hier vorgestellten Daten umgehen mussten, haben nochmals bekräftigt, wie versteckt, riskant und prekär Inter*Personen zum Teil leben (müssen) und wie nur wenige ihre Intergeschlechtlichkeit offenlegen. Wir danken deshalb zum einen Dr. Dan Christian Ghattas ganz herzlich für sein ausdauerndes Engagement bei der Datenerhebung und beim Verfassen der Studie. Darüber hinaus gilt unser ganz besonderer Dank allen beteiligten Inter*Aktivist_innen, die ihre Erfahrungen mit uns geteilt haben und die Studie somit im Ergebnis so wertvoll machen. Wir hoffen sehr, dass die so gewonnenen Erkenntnisse von internationalen Akteur_innen, die zu Menschenrechten, LSBTI-Rechten, Gesundheit, Bildung und anderen Themen arbeiten, aufgegriffen werden. Sie sollen anregen, gemeinsam mit Inter*Menschen deren Situation zu verbessern. Wir betrachten die vorliegende Publikation als Vorstudie, die nun durch konkrete Kontextanalysen einzelner Länder vertieft werden kann. Sie liefert aber auch ohne weiterführende Forschung schon jetzt eine gute Hilfestellung für den Einstieg in die praktische Projektarbeit.
Berlin, im Juli 2013
Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung
Jana Mittag, Referentin für Demokratieförderung und Menschenrechte, Heinrich-Böll-Stiftung
Menschenrechte zwischen den Geschlechtern
Herausgeber_in: Heinrich-Böll-Stiftung
Autor: Dan Christian Ghattas
Titel: Menschenrechte zwischen den Geschlechtern - Vorstudie zur Lebenssituation von Inter*Personen im globalen Süden und Osten
Reihe: Schriften zur Demokratie, Band 34
Seiten: 68
ISBN: 978-3-86928-107-0
Erscheinungsdatum: Oktober 2013
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