Heide Oestreich fragt sich, was der wichtigste Maßnahmenkatalog des gerade zu Ende gegangenen Londoner Weltgipfels gegen sexualisierte Gewalt in Konflikten für einen Gebrauchswert hat.
Angelina Jolie macht's möglich: Die Verabschiedung des Internationalen Protokolls gegen sexuelle Gewalt in Konfliktregionen in London wurde in allen Medien verbreitet. Das ist schön – und auch ein kleines bisschen absurd. Denn es handelt sich nicht um ein grundstürzendes Dokument. Sondern um eine Art praktische Anleitung, wie sexuelle Gewalt in Kriegssituationen am besten zu dokumentieren und zu verfolgen ist. Die Grundlagen dafür existieren längst, es sind vor allem die UN-Resolution 1820, die sexuelle Gewalt als Kriegsverbrechen klassifiziert und UN-Resolution 1325, die unter anderem Maßnahmen zum Schutz von Frauen vor Kriegsverbrechen vorschreibt. Die sind aber schon 2008 bzw. 2000 ohne Angelina Jolie verabschiedet worden, und gerade Resolution 1820 weitgehend ohne Öffentlichkeit.
Dass nun ein eher pragmatisch-praktisch daherkommendes Dokument eine solche Aufmerksamkeit erfährt, ist deshalb ein bisschen merkwürdig – aber auch überaus hilfreich. Denn in seinem Schlepptau wurde breit berichtet über die 150 Millionen Frauen und 70 Millionen Männer, die nach Schätzungen der UNO jährlich sexuellen Attacken ausgesetzt sind. Erfahrungen aus den Jugoslawien-Kriegen, aus dem Kongo wurden rekapituliert und damit das Tabu, das immer noch über Vergewaltigungen gerade in Kriegen liegt, etwas mehr gelüftet. Deshalb war diese Konferenz ein Coup: Sie hat geschafft, was der UNO damals, als sie die Resolutionen auf den Weg brachte, nicht erreicht hat.
Und das ist bitter nötig. Noch immer kapieren Hilfsorganisationen nicht, dass Frauen in Flüchtlingslagern geschützt sein müssen. Noch immer ist die sexuelle Gewalt für viele Armeeangehörige eine Kriegswaffe unter anderen – und kein Kriegsverbrechen. Eine Kriegswaffe, die gegen Zivilist*innen eingesetzt wird. Haben manche Frauen in den letzten Jahrzehnten gelernt, darüber zu sprechen, - den misshandelten Männern steht das Outing in der Regel noch bevor. Vergewaltigungen aus der Tabuzone zu holen und zum allgemeinen Politikum machen, das ist immer noch ein großes Stück Arbeit. Das sieht man nicht zuletzt auch bei uns – in Deutschland. Mehr als 10 Jahre hat es gedauert, bis die deutsche Regierung einen Aktionsplan zur Resolution 1325 verabschiedete.
Und auch hierzulande gibt es die weltweit verbreitete Straflosigkeit bei Vergewaltigung: 99 von 100 Fällen bleiben nach Schätzungen ungeahndet. Die allermeisten werden nicht angezeigt. Denn ein Vergewaltigungsprozess ist eine Tortur. Und angezeigte sexualisierte Gewalttaten ziehen noch längst keine Verurteilung nach sich. Stattdessen wird geschaut, ob das Opfer auch laut genug geschrien hat. Es wird gefragt, ob die Frau nicht selbst Schuld hat, wenn sie mit einem gewalttätigen Partner zusammenlebt. Oder, ob die Frau nicht hätte ausprobieren müssen, ob die Türen auch wirklich abgeschlossen waren.
Auch Deutschland hat eine Konvention unterzeichnet, die sogenannte Istanbul-Konvention des Europarats gegen Gewalt gegen Frauen. Darin heißt es, dass nicht einvernehmliche Sexualakte zu bestrafen sind. Davon ist die Justiz auch hierzulande noch weit entfernt. Hier muss mit Gewalt gedroht werden oder eine „schutzlose Lage“ entstanden sein, damit der Vergewaltigungsparagraf greift. Ein „Nein“ reicht nicht.
Diese Taten sind nicht mit den oft massenhaften Vergewaltigungen als Kriegswaffe zu vergleichen. Aber in einem Punkt besteht eben doch eine Ähnlichkeit: Der Mann meint, über den Körper der Frau (oder des symbolisch zur Frau gemachten Mannes) verfügen zu können und versucht so, Herrschaft zu erlangen. Mit Waffe oder ohne. Und die Welt lernt erst sehr langsam, dass das nicht bedauernswert, aber unvermeidlich ist, ein Kollateralschaden der Männlichkeit an sich.
Deshalb ist dieses Protokoll so wichtig: Die verwundeten Frauen und Männer kommen aus diesem undifferenzierten Opferstatus nämlich nicht heraus, wenn ihnen Unvermeidliches widerfährt. Sondern erst, wenn diese Taten als Verbrechen gesehen, dokumentiert und verfolgt werden. Dann erst kann sich der Blick auch auf die richten, auf die es ankommt: Die Täter. Und ihre verquere Vorstellung von dem, was ein Mann ist.