„Vielfalt“ oder diversity war in der feministischen Hoch-Zeit der 70er und 80er Jahre als Begriff und Konzept unbekannt. Der Feminismus hatte sein Augenmerk auf ein fundamentales Unrecht gelenkt, die Geschlechterverhältnisse. Er suchte nach Strukturelementen, die dieses Unrecht lenken. Der Begriff „Patriarchat“ wurde zum Überbegriff einer Eigenlogik, die sich in allen gesellschaftlichen Bereichen auffinden ließ – in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Moral, Philosophie, Technologie bis hinein in die privaten Beziehungen und den Habitus der Individuen. Die feministische Gewaltkritik sah die Ursachen zerstörerischer gesellschaftlicher Entwicklungen in der spezifischen Platzzuweisung der Geschlechter und damit im Ausschluss von Frauen aus der Gestaltung der Welt[1]. Wie jede aufflammende politische Bewegung war also auch der Feminismus in seiner Anfangszeit von Einheitsvorstellungen beflügelt und strebte nach einem strategischen und emotionalen Wir als Voraussetzung einer Diskursmacht, die mit einer Stimme spricht, gemeinsame Ziele entwickelt und öffentlich handelt. Diese Einheit des Wir war nicht als Abbildung der Wirklichkeit, sondern als Idee und politisches Postulat gedacht, und natürlich hielten reale Unterschiede und Differenzen die Frauenbewegung von Anfang an in Atem. Aber sie wurden i.a. als „Schwesternstreit“ heruntergespielt oder als „falsches Bewusstsein“ abgewehrt, jedenfalls noch nicht im Sinne der Pluralität[2], d.h. als gegebene Vielfalt und als politische Forderung theoretisiert[3].
Seither ist viel passiert. Erst wurde „Frauenforschung“ durch „Genderforschung“ ersetzt, dann gender mit Diversity ergänzt, schließlich wurden mancherorts Gender studies in Difference studies und die Büros der Frauenbeauftragten in Büros für Gender&Diversity umbenannt. Wer heute auf dem Laufenden sein will, sagt und schreibt statt „Frauen“: „gender&diversity“ oder gender diversity. Diese Veränderungen und ihr beachtlicher Etablierungserfolg in Universitäten, Hochschulen, Organisationen sind das vorläufige Ergebnis einer Entwicklung, die „Geschlecht“ als dominantem Unterdrückungsausweis relativieren will. Gender&Diversity versteht sich als neue Strategie, um den Blick auf Ungleichbehandlungen und Diskriminierungen zu erweitern, von monokausalen Ansätzen zu lösen, Hierarchisierungen zu vermeiden und so dem Verdacht zu begegnen, dass Geschlecht als „Masterkategorie“ alle anderen Unterdrückungsdeterminanten ins zweite oder dritte Glied verweise – Ethnizität, Hautfarbe, Kulturalität, soziale Lage, sexuelle Orientierung, Religion, Behinderung, Alter - und dann folgt das unvermeidliche und so weiter.
Die Geschlechterverhältnisse als zentrales, übergeordnetes, kulturübergreifendes Unterdrückungssystem zu setzen, hatte sich als eine Art Sündenfall erwiesen. Denn die Gender-Dominierung bedeutete mehr als die Fokussierung auf eine alte, aber neu skandalisierte Unterdrückungsnorm. Sie war zugleich beschwert vom Anspruch auf Alleinvertretung, und dieser wurde spätestens seit Ende der achtziger Jahre vor allem von Afroamerikanerinnen und Migrantinnen mit dem schwerwiegenden Vorwurf zurückgewiesen, dass die Vernachlässigung der Rassenfrage gegenüber der Geschlechterfrage den weißen Feminismus als Komplizen kultureller Macht und Trägerin eines ethnozentrischen Blicks entlarve.
Neue Sprachregelungen sollten den Hierarchisierungen einen Riegel vorschieben und zum Ausdruck bringen, dass die Geschlechterforschung sich des Problems bewusst ist: gender also immer im Zweier-oder Dreierpack, gender and race oder race, class, gender - oft nicht viel mehr als eine Pflichtübung. Wieso war es so schwer, Verschränkungen von Geschlecht und Rasse theoretisch und praktisch einzulösen? In den sich etablierenden women studies ging der Kampf um eine gerechte Platzierung von Geschlecht und Rasse weiterhin mit heftigsten Konflikten einher. Wendy Brown sprach von „wissenschaftspolizeilicher Disziplinierung“, mit der Studierende verschiedener Herkunft und Hautfarbe in einem Zirkel von Angst, Schuld, Vorwürfen und Rachegefühlen befangen waren. Dabei fühlten sich alle „erbärmlich“[4]. Es konnte etwas nicht stimmen. „Vielleicht ist es an der Zeit, erst mal das Vergangene zu betrachten, um … unsere Fehler anzuerkennen. Vielleicht ist dies ein Moment des Nachdenkens“[5].
Die Kontroversen um gender und race spiegelten auch Unterschiede der angelsächsischen und deutschen Geschichte. Während für US-Amerikanerinnen „Rasse“ eine alltäglich sichtbare Realität ist, galt für westdeutsche Feministinnen „Rasse“ i.a. als Un-Wort der NS-Weltanschauung, als zerstörerische Idee und verbrecherische Erfindung, die die Festschreibung proklamierter Unterschiede zur Voraussetzung einer Säuberungspolitik gemacht hatte und die Eliminierung von sog. „minderwertigen“ Varianten des Menschseins vollstreckte. Vor diesem Hintergrund wäre „Rasse“ nur im Sinne von Racialization zu verstehen, als Rassisierung, Zur-Rasse-machen, Zur-Rasse-gemacht-werden. Das häufige Zögern gegenüber der Anforderung, „Geschlecht“ mit „Rasse“ zusammenzusetzen, die distanzierenden Anführungszeichen, in die hierzulande das Wort „Rasse“ oft gesetzt wurde, oder seine Verhüllung im englischen race hatten im Rückblick auch mit dieser Geschichte zu tun. An sie zu erinnern ist so nicht allein Ausdruck kultureller whiteness, sondern verweist auch auf Erfahrungen des Totalitarismus, der als Voraussetzung der Sortierung und Aussortierung homogene Einheiten schmieden wollte und mit erzwungenen Gleichschaltungen Vielfalt zerstörte. Menschen wurden zum „Juden“, „Homosexuellen“, „Schwarzen“, „Behinderten“ - totalitäre Kategorien, die die Zugeordneten jeweils als „Gleichartige“ definieren, erfassen, aussondern und beseitigen wollten. Dieses Wissen schützte den Feminismus aber nicht vor Ignoranzen gegenüber dem Rassismus und der Geschichte der Rassenhygiene und vor Hilflosigkeiten gegenüber der Forderung, Geschlecht und Rasse als zugleich verschiedene und gleichwertige Diskriminierungskategorien erkennen.
Schon in den 50er Jahren war – von (west)deutscher Rezeption noch weitgehend unbemerkt - ein Politikverständnis aufgetaucht[6], das sich mit dem Begriff Pluralität der Abwehr solcher kollektiver Singulare gewidmet hat. Pluralität bezeichnet die Tatsache, dass Menschen verschieden sind, dass das Politische auf der gleichberechtigten Kohabitation dieser immer Verschiedenen basiert und als solche zu schützen ist. Diesem Verständnis des Politischen steht ein Denken in Kategorien entgegen. Kategorien sortieren, d.h. sie schaffen „Sorten“, scheinbare Einheiten – weiblich, männlich, schwarz, weiß, heterosexuell, homosexuell, inländisch, ausländisch etc. -, die in neutral ordnender Absicht daherkommen und zugleich unterstellen, dass die Eingeordneten jeweils einen essentiellen Kern besäßen, der sie definiert und verbindet und ihre Unterscheidung von anderen „Menschensorten“ rechtfertige. Solche Kategorien gehen implizit von der Homogenität und Abgrenzbarkeit der konstruierten „Einheiten“ aus, so als wären sie getreue Abbilder von Realität oder Natur.
Was sind Kategorien? Handelt es sich um empirische, real existierende Gruppierungen, um theoretische Entwürfe, um wertneutrale Ordnungsversuche, um Selbstzuordnungen, erzwungenes Schicksal, zugeteilte Orte, die dem Individuum seine Grenzen vor Augen führen? Inwieweit tragen sie zu falschen Vereindeutigungen bei, zu Trennungen und Spaltungen, zur Gewohnheit, Gegensätze zu bilden[7]? Können solche Kategorien auch zu Orten des Widerstands gegen Normierungen werden, zu Orten, die die Dynamiken der Macht sichtbar machen und emanzipatorisch wirken?[8] Kann man aussteigen? Wie und wodurch werden diese Kategorien zu Diskriminierungsfeldern und zu geeigneten Herrschaftsmitteln?
Es ist ein paradoxes Problem. Einerseits handelt es sich um hierarchisierende Etikettierungen, die menschliches Leben beherrschen und verletzen, andererseits auch um Orte der Zugehörigkeit und Übereinstimmung mit denen, die die eigene Geschichte teilen. Wenn also die Kategorien als Identität angenommen werden – ich bin so, wie meine Kategorie, weiblich oder männlich, weiß oder schwarz, weiblich / weiß, weiblich / schwarz -, schließen sie in einen sozialen Raum ein, dessen normierende Kraft ihn zum Diskriminierungsgefängnis zu machen droht. Die Kritik an Kategorien wird also zugleich zur Kritik an Identitätsvorstellungen, die unsere pluralen Zugehörigkeiten verdecken und auf vorgeprägte Definitionen und soziale Orte festlegen. So kann das „Identitätsgefühl“ zur Identitätsfalle werden[9]. Es schließt die einen ein und andere aus, es schafft für die einen die Wohltaten der Inklusion, für die anderen die Not der Exklusion. Es schränkt Freiheit und Wahl ein, es kann den Krieg der Kulturen schüren und so zu einer „Verkürzung des Menschseins“[10] werden. Identitätspolitik, die alternativlos auf einer Zugehörigkeit beharrt, kann „nicht nur uns alle in unserer Würde herabsetzen“, sondern auch zur Waffe werden[11].
Die gesellschaftliche und wissenschaftliche Aufgabe besteht darin, den für viele so positiv besetzten Begriff „Identität“ und das brisante Verhältnis von Identitätskritik und Identitätsverlangen zu überprüfen, gewaltsame Normierungen zu benennen und die Bedingungen zu analysieren, die die jeweiligen Bedeutungszuschreibungen zu Diskriminierungskategorien machen. Wie werden sie hergestellt, wer ist daran beteiligt, durch was und wen können sie sich verändern? Wie können die Kategorisierten verhindern, sich in zugeteilten Kategorien einzurichten, wie können sie ihre eingeschränkten oder verlorenen Rechte stärken, wie können sie über die Prioritäten ihrer Zugehörigkeit selbst entscheiden und zu einem Handeln gelangen, das die Abwertungen oder Aufwertungen der Zuschreibungen vorführt, sie durchschaut, durchkreuzt, widerlegt, ab absurdum führt?
Die Ergänzung von gender mit diversity soll ein Weg sein, die verschlossenen Kategorien und Selbstkategorisierungen zu öffnen: man versieht sie mit einem und ..., um ihren unabschließbaren, veränderbaren, umdeutbaren und nicht-statischen Charakter zu signalisieren. Das Zurücktreten der Brisanz der Geschlechterfrage im Vergleich zu früheren historischen Phasen und anderen Orten der Welt verweist damit nicht nur auf einen sog. roll back, sondern auch auf reale Veränderungen – auf Erfolge der Frauenbewegung und Frauenpolitik, des Bildungsaufstiegs, neuer Gesetze, auf neue Erfahrungen, auf eine veränderte politische Kultur. Solche positiv-gegenläufigen Erfahrungen können aber nicht ohne weiteres als Rückgang des Diskriminierungsvolumens überhaupt gelten. Oft handelt es sich nur um Verschiebungen, die neue Verteilungen und Umverteilungen und so weitere Ungleichheiten entstehen lassen[12].
Der weitgehenden Akzeptanz des Diversity-Konzepts folgt eine zunehmende Verflüssigung des Genderbegriffs[13] und damit ein neues Problem: Die Absicht, Geschlecht nicht mehr zu isolieren, sondern in seinen Kombinationen mit anderen Auf- und Abwertungsmodi zu begreifen, führt zu immer länger werdenden Listen verschiedenartigster Diskriminierungsvarianten, die nicht in Vergessenheit geraten sollen - Rassismus, Antisemitismus, Antijudaismus, Antiziganismus, Klassismus, Lookismus, Regionalismus, Nationalismus, Heterosexismus, Handicapionismus etc. Die Absicht, die Vielzahl der Bedingungen zu beachten, keine zu marginalisieren und alle Unterschiede hierarchielos zu würdigen, verbindet sich zudem mit der Forderung nach einem strikten Gleichgewicht der Kategorien. Keine Identität und keine Diskriminierungserfahrung soll vergessen werden, niemand sich herabgesetzt fühlen, keine Stimme dominieren, denn „wir sind alle verschieden und gleich“[14]. Solche Gleichwertigkeitspostulate und Gleichgewichtsvorstellungen ziehen eine konsequente Abstinenz gegenüber gesellschaftstheoretischen Grundlagen nach sich. Denn diese gehen ja notwendig mit der Entscheidung zu gedanklichen Überordnungen, hypothetischen Überbegriffen und Thesen einher, mit theoretischen Setzungen, die nach Gesetzmäßigkeiten und ihren Logiken fragen - wie „patriarchale Kultur“, „okzidentale Herrschaft“, „kapitalistische Wirtschaftsform“ - und von diesen verschiedene Wirkungen und Betroffenheiten herleiten.
Der Verzicht auf solche Strukturaussagen zeigt sich besonders deutlich im Konzept Diversity Management - ein pragmatisches Vorgehen, das Vielfalt produktiv nutzen und effizient machen will. Es soll den Interessen von Organisationen und Unternehmen dienen, indem es die Unterschiede der Mitarbeiter_innen würdigt: Arbeitskraft steigern, Zugehörigkeitsgefühl und Selbstbewusstsein stärken, Kommunikationsfähigkeiten und interkulturelle Kompetenz verbessern. Ermutigt werden die Mitarbeiter_innen durch Slogans wie „Diversity macht stark“, „enjoy diversity“, „celebrate diversity“. In den angebotenen Projekten, Ausbildungsgängen, Fortbildungsveranstaltungen, Trainingskursen, Supervisionen wird diversity meist symbolisiert durch Farben: Körbe mit verschiedenfarbigen Bällen, Bäume mit verschiedenfarbigen Blättern, Weltkarten mit verschiedenfarbigen Bewohnern, Bünde mit verschiedenfarbigen Stiften, Stangen mit verschiedenfarbigen Vögeln, farbige Kreise mit andersfarbigem Kern – ein blauer mit gelbem Kern, ein roter mit blauem, ein gelber mit rotem Kern etc. Die Teilnehmer_innen sollen sich eine ihrer „Identität“ entsprechende Farbe oder Farbkombination auswählen - einen Ball, Kreis, Vogel etc., erlaubt sind auch mehrere zugleich - und so die Kommunikation mit andern „Farben“ in Gang setzen. Man stellt sich selbst nach beliebigen oder konventionellen Kriterien der Selbsteinschätzung und -bewertung zusammen. Und da ist alles möglich – weiblich oder männlich, schwarz oder weiß, gewalterfahren, adoptiert, dick, gehbehindert, missbraucht, schwul, linkshändig, alleinerziehend, bildungsfern, katholisch, arm, muslimisch etc.etc.
Dabei reduziert sich das Problem der Kategorisierung auf einen – vorläufig - freundlich-aufmunternden Umgang mit allen möglichen Varianten menschlicher Erfahrungen, Etikettierungen, Schwächen oder Vorzüge, um so etwas wie eine paradiesische Wiese der Artenvielfalt zu imaginieren. Diese Vielfaltseuphorie ist dazu angetan, herkömmliche Zuschreibungen und Selbstzuschreibungen als gegeben hinzunehmen und als „Einheiten“ zu verfestigen, so als seien die Personen insgesamt und wirklich von ihnen determiniert. Gleichgewichtige und gleichberechtigte Vielfalt wird zum Wert an sich, so als könne die schiere Akzeptanz des immer Anderen Differenz aufheben und Diskriminierung in Vielfalt umdeuten. Das ist nicht gerecht, sondern ignorant. Das sind Simplifizierungen, die die Bedingungen gewaltsamer Normierungen in den Hintergrund befördern und Machtverhältnisse beiseiteschieben. Die Kategorisierungen vermehren und addieren sich, bleiben aber als solche bestehen, das Interesse an ihrer Kritik und Destabilisierung geht verloren. Man muss sich nicht mehr über Ungerechtigkeiten empören, man muss sich keine Gedanken machen über strukturelle Ursachen, man soll nur lernen, sich an Unterschieden zu freuen, alle und alles zu akzeptieren und so zur allseitigen Zufriedenheit beizutragen. Dennoch ist sicherlich nicht zu bestreiten - auch wenn es ein leichtes ist, sich über manche Blüten der diversity-Begeisterung und ihre oft infantil erscheinenden Methoden lustig zu machen - , dass der Gender&Diversity- Ansatz für soziale Ungleichheiten sensibilisieren, die Verteidigung von Vielfalt vorantreiben, Toleranz fördern und so auch manchen queeren Provokationen den Charakter der Anstößigkeiten nehmen kann[15].
Ein weiteres neues Paradigma der neueren Geschlechterforschung ist das Konzept der Intersektionalität. Es knüpft ebenfalls an die angloamerikanische feministische Geschichte an und ist sich der Problematik bewusst, die sich am Konflikt um Ungleichheit und Differenz und um die Zentralität oder Relativität von „Geschlecht“ und „Rasse“ entzündet. Es handelt sich um einen antikategorialen Ansatz, der die Kritik an der Isolierung scheinbar homogener und trennbarer Identitäts- und Diskriminierungsgruppen und deren bloßer Addition aufnimmt[16] und so auch die Rede von „Mehrfachunterdrückung“, „Doppeldiskriminierung“, „Dreifachdiskriminierung“ (triple oppression theory) verwirft. Intersektionalität will die Überkreuzungen, Verschränkungen, Überschneidungen und Kombinationen, die Dynamik ihrer Wechselwirkungen systematisch untersuchen[17], es will somit die in Frage stehenden Kategorien neu fassen und zu einem anderen Verständnis sozialer Ungleichheiten beitragen. Auch dieses Konzept hält Distanz zu übergeordneten Strukturaussagen und orientiert sich an den Erfahrungswelten der Individuen, in denen schier unendliche Varianten komplexer Entwertungen und Leidenswege versammelt und verkoppelt sind[18]. Intersektionalität geht von der „Verwobenheit“ der Ungleichheitslagen aus. Damit wird „Gender“ selbst zu einem interdependenten, nicht isolierbaren und nicht trennscharfen Begriff, der selbst Vielfalt in sich birgt. Und weil jede Vereindeutigung die Wirklichkeit verfälschen und die Problematik verdecken würde, wird die Unschärfe des Wortes „Verwobenheit“ bewusst in Kauf genommen - eine Metapher, die über die Struktur dieses Gewebes allerdings nicht viel mehr aussagen kann, als dass alle sozial, ethnisch, kulturell, ökonomisch bedingten Lagen und Marginalisierungen irgendwie zusammenhängen, irgendwie ineinander verstrickt sind. Während also die bloße Addition der Kategorien ihre Abgrenzbarkeit voneinander nahelegt und damit Andersheiten zu jeweiligen Einheiten konstruierte, verweist „Verwobenheit“ darauf, dass das „Verwobene“ irgendwie aus ähnlichem Material ist. Und das bleibt die Frage. Jedenfalls, so lautet die Kritik, eignet der Terminus „Verwobenheit“ sich dazu, „den Schleier des scheinbaren Verstehens über die unbegriffenen Komplexe auszubreiten“[19].
Es bleiben also viele Fragen. Diese richten sich vor allem auf die Folgen des Scheiterns der großen Metatheorien. Das Schwinden der großen Erzählungen - von Freiheit, Gleichheit, Fortschritt – und damit auch der Analysekraft übergeordneter Herrschaftsformen – wie Patriarchat, Kapitalismus, Okzidentalismus – erleichtert es zweifellos, individuelle Schicksale und erlittenen Diskriminierungen unterschiedslos zu sichten und zu Wort kommen zu lassen. Zugleich aber wird erschwert, die Diversität von Diskriminierungen und ihre Ursachen noch theoretisch fassen. Der Verzicht auf gesellschaftliche Strukturbegriffe führt zu einer flächigen Auffassung, die die Unterscheidung zwischen politischen, sozialen, kulturellen, individuellen Seiten von Ungleichheiten scheinbar entbehrlich macht. Begriffe wie Vielfalt, Differenz, Differenzierung, Pluralität, Diversität, Diskriminierung geraten durcheinander oder werden austauschbar. Wenn alle subjektiv erfahrenen sozialen Verletzungen durch gleiche Akzeptanz auch gleiches Gewicht und gleiche Aufmerksamkeit erfahren sollen, dann lässt sich kaum noch auseinanderhalten, was unbezweifelbar gegeben und zu akzeptieren ist, und was zugewiesene normierende Attributierungen und diskriminierende Bedeutungszuweisung sind; dann ist nicht mehr erkennbar, was selbst entscheidbar, beeinflussbar und veränderbar ist und was nicht; dann ist es nicht mehr möglich, die je spezifischen Verletzungsoffenheiten von Geschlecht, Ethnizität, Hautfarbe, Migration, körperlichen Einschränkungen etc. kenntlich zu machen; dann wird auch nicht mehr klar, was zu bekämpfen ist und was nicht und an welche Adresse die Kritik sich eigentlich richten soll – außer an die eigene. Wenn alles unterschieden und gleich ist, ist nichts mehr zu unterscheiden. Bleibt „Geschlecht“ also doch etwas „Besonderes“[20]?
Der Verzicht auf Strukturbegriffe begünstigt ein Gesellschaftsbild, in dem die Sorge um Gerechtigkeit gegenüber der Sorge um jeweilige Einzel- oder Gruppenrechte zurücktritt.
Die gutgemeinte Absicht, keine Unterdrückungsform und kein Diskriminierungsgefühl zu marginalisieren, ist mit einer Entdifferenzierung verbunden, die politische Ansprüche und subjektive Interessen und Befindlichkeiten nicht mehr auseinanderhalten kann. So ist die politische Absicht, Fesseln diskriminierender Zugehörigkeiten zu destabilisieren, nicht mehr trennbar von der Forderung, als Zugehörige einer unterdrückten Gruppe gleichwertig mit allen anderen anerkannt zu werden oder von dem Wunsch, sich in die je eigene Identitätsgruppierung einzubetten. Außerdem kann die flächendeckende Anerkennungsforderung mit einer gewissen Unehrlichkeit einhergehen, einem so-tun-als-ob alle gleich und alle gleich betroffen wären. Eigentlich weiß ja jeder, dass da etwas nicht stimmt. Und so können sich nicht nur Denkverbote einstellen, sondern auch eine Art „Tugendterror“, mit dem jede_r jede_n ob korrekter Regelbeachtung kontrolliert. Wenn jede Abweichung vom Gleichheitspostulat zum Hierarchisierungsvorwurf und zum moralischen Fehltritt wird, wenn hinter jeder differenzierenden Bewertung also gleich Diskriminierungsabsichten gewittert werden, bleibt das eigene Urteil auf der Strecke.
Das diversity-Konzept wirft verschiedene Herausforderungen unbesehen in einen großen Topf und versucht sie in harmlose Vielfalt zu verwandeln. Harmlos sind sie alle nicht, und durch voluntaristische Inszenierungen lassen sie sich nicht verflüchtigen. Eine diversity-Emphase, die die Beschaffenheiten verschiedener diskriminierender Kategorien egalisiert und alles mit allem kombinierbar machen will, bremst die Analyse spezifischer Normierungsgesetze und Wirkungsweisen gesellschaftlicher Gewalt aus. Zwar mögen sich viele Symptome der Diskriminierung an der Oberfläche ähneln – herabsetzen, übersehen, schwächen, annullieren, mobben, abstempeln, kaltstellen, isolieren, abstoßen, ausstoßen etc. Deswegen sind sie aber nicht aus gleichem Stoff. Die Symptome repräsentieren nicht die jeweilige Systematik, nicht ihre Funktion, ihre spezifischen Mittel und Wirkungsweisen, nicht ihre eigene Geschichte, ihre Konstanten oder Varianten, auch nicht die Unhaltbarkeit mancher Verallgemeinerungen. „Frauen“, „Schwarze“, „Homosexuelle“, „Juden“, „Muslime“, „Menschen mit Behinderungen“ etc. werden nicht immer und nicht von allen gleich diskriminiert. Mit den simplifizierenden Gleichsetzungen wird unkenntlich gemacht, welche spezifische Normierungsgewalt am Werk ist, welche Trennungen von welchen Identitäten zumutbar sind, welche Verallgemeinerungen den Realitäten entsprechen und welche eigenen Vorurteilen, welche Viktimisierungen von den Betroffenen selbst veranstaltet werden, welche Identitätsstempel im Gewand von Privilegien daherkommen, welche Bedingungen durch eigene Einsichten beeinflussbar sind und welche nicht, womit wir uns abfinden müssen und womit nicht.
Es gibt Unrecht und Unglück; es gibt Segredierungen, die durch Ideologie und Gewalt hergestellt sind; es gibt Erfahrungen, die deren Regeln bestätigen und Erfahrungen, die unberechenbaren Zufällen entspringen; gibt Einheiten, die in Wahrheit keine sind, Einheiten, die zur Einheit zwingen, Einheiten, die hierarchische Unordnungen zementieren, Einheiten, die beherbergen, Einheiten, die ausschließen. Und schließlich gibt es ein Denken der Pluralität, die die Andersheit jedes Menschen von jedem anderen Menschen proklamiert und jeden kollektiven Singular als Ausdruck und Voraussetzung totalitären Denkens zurückweist.
Pluralität meint ein nicht-totalitäres politisches Denken, das Eindimensionalitäten und identitäre Einheitsphantasien durchkreuzt und überwindet und das sich von dem modernen Versprechen verabschiedet, eine Welt schaffen zu können, die durch Kategorisierungen zu ordnen und durch Ideologien zu leiten und zu strukturieren ist. Vielleicht sollten wir uns vergegenwärtigen, dass die Andersheit jedes Menschen von jedem anderen die „unheilbare“ Bedingung menschlicher Existenz[21] ist. Diese verweist auf unsere Unvollständigkeit und unsere Bedürftigkeit, mit der wir das Andere und die Anderen brauchen, um Menschen zu werden. Diese Andersheit des Anderen - nicht ihre Kategorisierung - ist die Differenz, mit der wir leben müssen und versuchen können, leben zu wollen. Das bedeutet, dass wir ein Denken in Kategorien in ein Denken der Pluralität überführen müssten, das auf die Mehrdimensionalität der Sichtweisen aus ist, auf die Aufnahme dessen, was Andere sehen, auf ein dialogisches Denken und Handeln, und auf die Möglichkeit des Zusammenhandelns der immer Verschiedenen für ein gemeinsames Drittes: auf die Bereitschaft, die Welt mit Anderen zu teilen.
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[1]Christina Thürmer-Rohr: Ende des Kassandra-Syndroms? In Birge Krondorfer/Hilde Grammel (Hsg.); Frauen-Fragen – 100 Jahre Bewegung, Reflexion, Vision. Wien 212, S.97-114
[2]Christina Thürmer-Rohr: Die unheilbare Pluralität der Welt – von Patriarchatskritik zur Totalitarismusforschung. In: Vagabundinnen. Frankfurt a.M. 1999, S.214-230
[3]Auch der transnationale Kampf um Menschenrechte für Frauen suchte nach einem gemeinsamen Nenner („Frauen“), vor allem in der Anti-Gewalt-Politik, war aber gegenüber den kulturellen und klassenspezifischen Differenzen offener als national begrenzte und regional zugespitzten Debatten: s. Uta Ruppert: FrauenMenschenrechte: Konzepte und Strategien im Kontext transnationaler Frauenbewegubngspolitik. In: Ruth Becker / Beate Kortendiek (Hsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung – Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden 2004, S.704-711
[4]Wendy Brown: Die Unmöglichkeit der Women’s Studies. In: Gabriele Dietze / Sabine Hark (Hsg.): Gender kontrovers. Generalogie und Grenzen einer Kategorie. Königstein/Taunus, 2006, S.141
[5]Wendy Brown: Die Unmöglichkeit der Women’s Studies, a.a.O., S. 148
[6]Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt/Main 1955 (Orig.New York 1951); Hannah Arendt: Was ist Politik? München 1993. S.a. Ernst Vollrath: Vom 'radikal Bösen' zur 'Banalität des Bösen' – Überlegungen zu einem Gedankengang von Hannah Arendt. In: Martin Wiebel (Hsg.): Hannah Arendt – Ihr Denken verändete die Welt. München 2013, S.129-139
[7]Barbara Rendtorff: Warum Geschlecht doch etwas Besoneres ist. In: http://portal- intersektionalitaet.de/theoriebildung/schlüsseltexte, 2012
[8]Gabriele Dietze / Sabine Hark (Hsg.): Unfehlbare Kategorien? In: Gender Kontrovers – Genealogien und Grenzen einer Kategorie. Königstein/Taunus 2006, S.16
[9]Amartya Sen: Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. München 2007
[10]Amartya Sen, a.a.O., S.12
[11]Amartya Sen, a.a.O., S.32
[12]Wenn sich „Frauen“ als billige Arbeitskräfte nicht mehr lückenlos durchsetzen lassen, zieht man andere unterprivilegierte Gruppen heran; wenn wohlsituierte Frauen bestimmte Reproduktionsarbeiten nicht mehr machen wollen, delegieren sie sie an andere – z.B. an polnische Frauen, die diese Arbeit unterbezahlt übernehmen etc. Tove Soiland: Intersektionalität – Die Verhältnisse gingen und die Kategorien kamen. In: http://portal-intersektionalität.de/theoriebildung/schlüsseltexte
[13]Helma Lutz: Differenz als Rechenaufgabe: über die Relevanz der Kategorien Race, Class und Gender. In: http://portal-intersektionalitaet.de/theoriebildung/schlüsseltexte, 2001, S.6
[14]Für diese Post-Gender-Vision haben die Piraten den Begriff „Eichhörnchen“ erfunden: Frauen, Männer, Transsexuelle, Transvestiten, Schwule, Lesben, Asexuelle. s. Annett Meiritz im SPIEGEL, 3, 2013, S.48
[15]s.z.B. Gudrun Perko: Queer-Theorien. Köln 2005. Gabriele Dietze/Yekani Haschemi/Beatrice Michaelis: Queer und Intersektionalität, In: http://portal-intersektionalitaet.de/theoriebildung/schlüsseltexte
[16]Tove Soiland: Intersektionalität, a.a.O.
[17]Katharina Wagenbach: Intersektionalität (Einführung). In: http://portal-intersektionalitaet.de/theoriebildung/schlüsseltexte
[18]Cornelia Klinger: Für einen Kurswechsel in der Intersektionalitätsdebatte. In: http://portal-intersektionalitaet.de/theoriebildung/schlüsseltexte, 2012
[19]Barbara Rendtorff: Warum Geschlecht doch etwas Besonderes ist, a.a.O., S.3
[20]Barbara Rendtorff: Warum Geschlecht doch etwas Besonderes ist, a.a.O., S.8
[21]Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz – Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg 1992. Siehe auch: Christina Thürmer-Rohr: Die unheilbare Pluralität der Welt – Von Patriarchatskritik zur Totalismusforschung. In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis, H.47/48, 1998; und; Vagabundinnen – Feministische Essays, (erweiterte Auflage) Frankfurt a.M. 1999, S.214-230