Einführung von Gitti Hentschel zur Filmpremiere „anfangen“ über und mit Christina Thürmer-Rohr mit anschließendem Gespräch, mit Christina Thürmer –Rohr und zwei weiteren Podiumsgästen, Sabine Hark und Nivedita Prasad.
Christina Thürmer-Rohr, feministische Theoretikerin, Sozialwissenschaftlerin, - inzwischen emeritierte - Professorin an der TU Berlin und Begründerin des Studienschwerpunkts "Frauenforschung" mit den Schwerpunkten Feministische Theorie/ Menschenrechte.
Sie ist auch Musikerin und hat seit den späten 70er Jahren, besonders in den 80ern eine ganze frauenbewegte Szene, mindestens eine Frauen-Generation, wesentlich in Denken und Handeln beeinflusst und mit geprägt. Sie hat als Feministische Theoretikerin wie als Musikerin – damals mit der Frauenrockband "Ausserhalb" - Säle gefüllt, elektrisiert und begeistert, aber auch empört, zum Auseinandersetzen und Diskutieren angeregt, Widerspruch und Kritik hervorgerufen.
Damals, angesichts von Nachrüstungsdebatten, der Atomkatastrophe von Tschernobyl und Umweltzerstörung, hat sie kompromiss- und schonungslos die "Schädlichkeit" und "Banalität" von Männergesellschaften sowie des Patriarchats angegriffen und Herrschafts- und Gewaltkritik geübt.
Aber mit der gleichen Kompromisslosigkeit und Unerschrockenheit hat sie auch viele vermeintliche Sicherheiten der damaligen Frauenbewegungen in Frage gestellt, besonders wohl durch ihre Opferkritik und These von der Mittäterschaft, dem Mittun und der Teilhabe von Frauen an den patriarchalen Verhältnissen, der herrschenden Kultur und Gesellschaft.
Zugleich haben sich viele Feministinnen gerade in ihrer Formulierung und Beschreibung der Heimatlosigkeit von Frauen in der Gesellschaft, dem Nicht dazugehören, Nicht verortet- und Fremd-sein, angesprochen und verstanden gefühlt.
Ich auch; so provozierend und verstörend ich auch vieles in ihren Thesen fand, etwa Sätze wie "Die Träume von der Ablösung der Patriarchate erledigen sich"[1] - denn genau diese Träume und Zielvorstellungen hatten viele von uns - damals.
Seit den 90er Jahren hat sie sich mit der politischen Theorie Hannah Arendts auseinander gesetzt, die ihr Denken wesentlich beeinflusst hat.
Christina Thürmer-Rohr war alleinerziehende Mutter eines Sohnes, sie hat ihre Theorie, ihre Denkansätze auch immer praktisch werden lassen und etwa in außer-universitärer feministischer Bildungsarbeit umgesetzt. Sie hat ihr Erkennen und Denken mit klassischer und experimenteller Musik verbunden, Klavier und Orgel sind ihre Instrumente. Dafür hat sie 2003 mit ihrer Lebensgefährtin, der Schweizer Pianistin Laura Gallati den Verein "Akazie 3" gegründet, ein Forum, in dem mit Konzerten, Vorträgen und Lesungen eine Verbindung „zwischen philosophischem, politische und musikalischen Denken" geschaffen werden soll.
Christina Thürmer-Rohr ist eine feministische Avantgardistin, die mit ihrer Arbeit nicht nur feministische Geschichte geschrieben, sondern einen wesentlichen Beitrag geleistet hat zu kritischer politischer Theorie- und Wissenschaftsgeschichte, und das bis heute tut.
Ich freue mich sehr, dass wir als Gunda- Werner-Institut in der Heinrich-Böll-Stiftung mit der Filmpremiere „anfangen“ sowie der folgenden Diskussion dazu beitragen können, dass diese Geschichte nicht, wie so oft feministische Geschichte, in Vergessenheit gerät.
Dafür möchte ich an dieser Stelle auch sehr herzlich Gerd Conradt danken, Regisseur und Autor dieses Films, der sich mit seiner Idee und seinem Angebot für dieses Filmprojekt an uns gewandt hat. Er kennt Christina Thürmer-Rohr schon seit den 70er Jahren, und es ist im wesentlichen sein Verdienst, dass wir diesen Film hier sehen können.
Gerd Conradt ist seit Anfang der 80er Jahre freiberuflich tätig als Regisseur, Autor, Kameramann und Produzent. Seine Filme und Videoprogramme sind meist Porträts - konzeptionell gestaltete Zeitbilder. Dazu gehören Filme über die Berliner Stadtgeschichte, die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands, über Studentenbewegung (RAF), zum Beispiel „Starbuck – Holger Meins“, aber auch „Poesie-Videos“ und Unterrichtsfilme, Videoinstallationen.
Dr. Sabine Hark, Professorin für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der Technischen Universität Berlin, Leiterin des Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung ZIFG. Sie ist Gründungsmitglied der Fachgesellschaft Geschlechterstudien (FG Gender). Sie teilt mit Christina Thürmer-Rohr die intellektuelle Leidenschaft des In-Frage-Stellens sowie die für Hannah Arendt - auch wenn sie – wie sie mir vorher sagte nicht immer einer Meinung darüber sind.
Sie nutzt die Texte von Christina Thürmer-Rohr noch immer in ihrem Seminar zu feministischer Theorie. Und hat nicht nur ein Exemplar der 1. Auflage von „Vagabundinnen“ im Bücherschrank, sondern auch ein Exemplar der einzigen Platte von „Außerhalb“ im Regal.
Dr. Nivedita Prasad, Sozialpädagogik- Professorin der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und erste Anne-Klein-Frauenpreis-Trägerin der Heinrich-Böll-Stiftung. Sie war Anfang der 90er Jahre maßgeblich daran beteiligt, Räume und Perspektiven für Women of Color - für Schwarze/migrierte Frauen in Deutschland zu etablieren, und hat lange Zeit bei Ban Ying, einer Beratungs- und Koordinationsstelle gegen Menschenhandel in Berlin gearbeitet, als Projektkoordinatorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin. Bis heute arbeitet sie zu Rassismus, Migration, Diskriminierung und Menschenrechte, und ist mit der Women of Color Frauenbewegung in Deutschland stark identifiziert und dort aktiv. Sie ist Mutter einer Tochter und kennt Christina Thürmer-Rohr schon seit vielen Jahren, damals war sie selbst Lehrbeauftragte. Besonders beeindruckt hat Christina Thürmer-Rohr sie durch ihr „doing feminism“, ihre praktische Umsetzung feministischer Theorie, zum Beispiel auch als alleinerziehende Mutter, die ihr persönlich sehr viel Mut gemacht hat.
[1] Thürmer-Rohr, Christina: Vagabundinnen: feministische essays, Berlin: Orlanda Frauenverlag 1987, S. 16.