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Sichtbarkeit sucks, oh happy day! Trans* Menschen unter der vergifteten Lupe

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Der Kampf um Sichtbarkeit kann ganz schön anstrengend sein

Diese Kolumne erscheint wenige Tage nach dem Transgender Day of Visibility, an dem trans* Menschen seit 2009 jährlich am 31. März empowert und gefeiert werden sollen – in ihrer Sichtbarkeit, oder aus diesem Anlass sichtbar werdend. Initiiert von Aktivist*innen in Michigan/USA, geriert sich die Idee eines Tags der Sichtbarwerdung als das fröhliche Geschwist des Transgender Day of Remembrance am 20. November, der jener trans* Menschen gedenkt, deren Leben zu Ende ist.

Über 2.000 hate crimes weltweit

Wie in den Vorjahren nutzte Transgender Europe, der europäische Verband von trans* Organisationen in 42 Ländern, diesen Tag, um die neuesten Zahlen seines Projekts „Trans Murder Monitoring“ zu veröffentlichen, und so wissen wir heute: zwischen 2008 und 2015 sind über 2.000 trans* und nicht-binäre Menschen in 65 Ländern weltweit bekanntgeworden, die starben, als sie Menschen begegneten, die ihre trans*feindlichen, rassistischen, sexarbeitsfeindlichen, mysogynistischen Haltungen mit Töten zum Ausdruck brachten – nicht immer von den Strafverfolgungsbehörden verfolgt.

Das einzige deutschsprachige Medium aber, das den Transgender Day of Visibility 2016 thematisiert hat, ist die österreichische Nachrichtenagentur APA – und um genau zu sein, nur deren Pressemitteilungsversand APA-OTS, der eine Pressemitteilung der Sozialdemokratischen Partei Österreichs zum Diskriminierungsschutz verbreitet hat. Ansonsten sichten wir: nichts. Den Transgender Day of Visibility aufgreifen, um die menschenrechtliche Situation von trans* Menschen zu analysieren, um unzumutbare Hürden bei rechtlicher und medizinischer Geschlechtsangleichung, Alltagsdiskriminierung und die Zahlen des Trans Murder Monitoring zu kommentieren? Der „google alert“ nimmt Freizeitausgleich.

Medien beeinflussen den Alltag von trans* Menschen 

TransInterQueer e.V., der Verein von und für trans*, inter* und queere Menschen in Berlin, wird regelmäßig von deutschsprachigen Medien dazu befragt , wie trans* Charaktere wie Nomi in „Sense8“, Sophia in „Orange is the New Black“ oder Moira in „Transparent“ den Alltag von trans* Menschen beeinflussen. Das Coming-Out: ein Kinderspiel? Die Zwangsbegutachtungen: mit links? Ein bis eineinhalb Jahre warten, bis der neue Vorname rechtskräftig wird: was soll's? Hier kommen wir jener fatalen Sichtbarkeit auf die Spur, die trans* Menschen zwischen zwei Transgender Days of Visibility auferlegt ist, vom 1. April bis 30. März, jenem 364-mal längeren Rest der Zeit.

Vergiftete Lupen um zu stereotypisieren und pathologisieren

Die Lebensrealitäten von trans* Menschen unsichtbar machend, jubelte etwa der britische „Independent“ zum diesjährigen 31. März: „Der Knall von Champagnerflaschen und das Surren der Veränderung in der Luft: nie zuvor waren der Geist und die Beiträge der trans* Szenen so sehr in der Mainstream-Kultur spürbar.“ Dieser Geist! Doch er hat nicht ansatzweise die Power, die vergifteten  Lupen auszusortieren, unter die trans* Menschen erst gezogen werden, um sie dann stereotyp, pathologiserend, gewalttätig zu sezieren. „Was ziehen Sie sich auch so an, junger Mann?“, fragt dann die*der diensthabende Polizist*in die Frau, die es überhaupt wagen kann, eine*n transmysogynistische*n Gewalttäter*in zur Anzeige bringen zu wollen. Zahlreiche trans* Menschen müssen unfreiwillig sichtbar werden, bei jeder Ausweiskontrolle, Ärzt*innenbesuch, Wahl der Toilette oder Umkleidekabine, und das potenziert, umso mehr die dermaßen geistvoll-surrend sichtbare Person Anfeindungen ausgesetzt ist, wenn sie Schwarz, beeinträchtigt, Frau, Sexarbeiter*in, ökonomisch „am Rand“ ist.

Das „Ankommen“ „in“ „der“ „Mitte“ negiert Lebensrealitäten

Das erregte mediale Fantasieren vom knallenden Korken, vom scheinbaren „Ankommen“ „in“ „der“ „Mitte“ (es geht nicht anders, als jedes dieser Worte mit Anführungszeichen zu versehen), negiert Lebensrealitäten von vielen und vielen weiteren, und macht jene vielen und viele weitere umso unsichtbarer: Die, für die Sichtbarkeit nicht privilegierend wirkt. Die, für die Sichtbarkeit keine Wahl ist, sondern Zwang. Die, deren Sichtbarkeit einhergeht mit Gewalt, Hohn, Ausschlüssen. Die, die nicht transnormativ „in der Mitte“ enden wollen oder können. Der nächste Tag der Sichtbarwerdung ist aber zum Glück in weniger als 360 Tagen zur Hand.