Europa hat seinen nächsten migrantischen Sexismus-Skandal. Diesmal spielt er in Therwil, ein 10.000-Einwohner Städtchen im Umland von Basel. Zwei Schüler weigerten sich ihrer Lehrerin die Hand zu geben und nun sind die Kommentarspalten wieder gefüllt mit bedeutungsschwangeren Begriffen.
Vom Angriff auf westliche Werte ist die Rede, von Aufklärung, Frauenrechten und fehlendem Respekt. Doch wer solche Belehrungen als einen Schritt hin zu mehr Gleichberechtigung in schweizerischen Klassenräumen hält, irrt. Aus ihnen spricht nicht das Bedürfnis nach Emanzipation, sondern der Wille nach Bewahrung traditioneller Rollenbilder.
Die Mehrheitsgesellschaft und ihre Suren-Sklaven
Es soll in diesem Beitrag nicht darum gehen, dass das Problem handschlagverweigernder Muslime eigentlich viel zu marginal ist um eines zu sein. Diese Kolumne handelt auch nicht davon, dass es selbst im aufgeschlossenen Basel nicht erst zwei jugendliche Migrantenkinder brauchte, um traditionelle Geschlechterrollen zu praktizieren. Dieser Beitrag macht sich nicht auf die Suche nach alten Handschlag-Anekdoten des Propheten, als handle es sich bei Muslimen zu individuellen Entscheidungen unfähige Suren-Sklaven. Ebenso wenig geht es hier darum, dass das Nicht-Händeschütteln selbst unter konservativen Muslimen und Musliminnen als ein absolutes Minderheiten-Phänomen gilt und die zum Kulturkonflikt hochstilisierte Handschlag-Frage den meisten islamischen Theologen bestenfalls ein gelangweiltes Schulterzucken entlockt.
Es soll nicht darum gehen, ob die beiden in der Schweiz geborenen Söhne eines vorzwanzig Jahren aus Syrien migrierten Imams nun Respekt oder Frauenverachtung antrieb. Stattdessen handelt diese Kolumne davon, wie die Mehrheitsgesellschaft mit solchen Fällen umgeht. Davon, dass sich die Werte-Dogmen der überwiegend weiß-männlichen Debattenführer gegenüber Migranten im Wesentlichen nicht unterscheiden von den Rollenbildern des Patriarchats gegenüber Frauen.
Weiße Allmachtsfantasien, schon wieder
Um festzustellen, dass es in der Regel nicht die Überzeugungskraft freiheitlicher Ideale sondern die Konservierung traditioneller Machtverhältnisse ist, die viele nun aufschreien lässt, reicht es schon sich den „Wir versus die“-Ton der Kommentare anzuschauen: Der Händedruck sei „Teil unserer Kultur“, urteilt zum Beispiel der Präsident des schweizerischen Lehrerverbandes, Beat Zemp. „Die Verweigerung des Handschlags ist eine Kampfansage an unsere Ordnung“, schreibt der CDU-Bundestagsabgeordnete Phillip Lengsfeld auf Twitter. Und Martin Neumeyer, der völlig ohne Ironie den Titel „bayerischer Integrationsbeauftragter“ trägt, schreibt: „Es kann nicht sein, dass wir immer mehr von unseren eigenen Umgangsformen und unserer Identität aufgeben, nur weil eine kleine Minderheit nicht integrationswillig ist.“
Inwiefern der Handschlag von zwei schweizerischen Jungen Einfluss auf die Umgangsformen in Bayern hat, sagt Neumeyer nicht. Stattdessen spricht etwas anderes aus seiner Art von Urteil: ein Allmachtsanspruch, der seinen Geltungsbereich genauso im letzten schweizerischen Klassenzimmer verteidigen will wie in den eingeschlechtlichen Aufsichtsräten deutscher DAX-Konzerne. Die tatsächliche gesellschaftliche Relevanz des Problems, die konkrete Wirkung der Forderungen, ja sogar der jeweilige Anlass spielen für die meist männlichen Debatten-Führer kaum eine Rolle. Was zählt, ist die Selbstvergewisserung des eigenen Machtanspruches. Das Instrument dazu ist nicht Befähigung, sondern Bevormundung: Das Mädchen muss ins Schulschwimmbecken, der Junge raus aus dem Freibad! Das Kopftuch muss runter, die Vorhaut bleib dran! Frauen sollen kein Fußball, und die Twitter-Feministin sich nicht so aufspielen!
Nicht das Kopftuch schließt aus
In keinem Symbol kulminieren sexistische und rassistische Dimension des Chauvinismus so sehr wie im Kopftuch. Kein anderes Beispiel zeigt so gut, dass der Versuch, Emanzipation erzwingen zu wollen, nicht nur verlogen, sondern auch kontraproduktiv ist. Chronisch und chronisch ungehört weisen muslimische Frauenrechtlerinnen darauf hin, dass es nicht das Kopftuch, sondern dessen Stigmatisierung ist, die seine Trägerinnen vom öffentlichen Leben ausschließt. Muslimische Frauen gelten oft erst dann als Problemfall, wenn sie sich als Lehrerinnen, Polizistinnen oder Richterinnen von Geschlechterrollen emanzipieren. Wer daran zweifelt, sollte die Gegenprobe machen: Wann hat sich zuletzt jemand über eine kopftuchtragende Putzfrau echauffiert?
Dafür, dass man Emanzipation nicht erzwingen, sondern nur ermöglichen kann, bietet die Türkei ein schönes Beispiel. Seit 1923 war kopftuchtragenden Türkinnen der Besuch von Universitäten verboten. In der Folge waren Generationen türkischer Frauen zu einem Dasein als Bäuerinnen und Putzfrauen verdammt. Heute nach dem Ende des Kopftuchverbots liegt der Frauenanteil an türkischen Hochschulen bei fast 50 Prozent, gibt es in der Türkei fünfmal mehr Professorinnen als in Deutschland, sind 12 Prozent aller Vorstände türkischer Unternehmen weiblich. In Deutschland sind es 5 Prozent.
Von solchen Zuständen ist auch das schweizerische Therwil noch weit entfernt. Dort hat die Schulleitung einen sehr eigenwilligen Weg gefunden, Geschlechtergerechtigkeit durchzusetzen: per Verordnung. Sie wies die beiden muslimischen Schüler an, auch ihren männlichen Lehrern nicht mehr die Hand zu geben. Die Schulleitung und alle anderen Debattenteilnehmer täten besser daran, das Problem einfach dort zu belassen, wo es auftritt: im Klassenraum. Denn dieser ist nicht nur ein Ort von Kurvendiskussion und Gedichtinterpretation, sondern auch Sozialisationsinstanz. Ein unter normalen Umständen geschützter Freiraum, in dem heranwachsende Jungen und Mädchen die Möglichkeit haben, ihr Rollenverständnis immer wieder neu auszuhandeln und sich schließlich emanzipieren können – von den Traditionen ihrer Eltern und dem Werteverständnis der Mehrheitsgesellschaft.