Die Zahl homophober Äußerungen ist explosionsartig gestiegen und nach wie vor werden Homosexuelle zu Gefängnisstrafen verurteilt. Seit der Revolution 2011 wird dieses Thema, vor allem dank des Engagements von NGO's, in der Öffentlichkeit und den Medien breit diskutiert.
Die Frage der Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender (LGBT) zieht in Tunesien immer weitere Kreise.
Im vergangenen Jahr gab es mehrere Verurteilungen nach Artikel 230 des tunesischen Strafgesetzbuches, der sexuelle Beziehungen zwischen Personen gleichen Geschlechts unter Strafe stellt. Die Affäre „Marwen“ und der Fall von sechs Student/innen aus Kairouan sorgten in Tunesien wie auch im Ausland für viel Aufsehen.
Willkürliche Verurteilungen und Polizeigewalt
Im Rahmen der Ermittlungen in einem Mordfall wird im September 2015 in Sousse der junge Student Marwen* festgenommen. Der Verdacht, er könnte die Tat begangen haben, ist schnell ausgeräumt, aber die Befragung verlagert sich auf die sexuelle Orientierung des Beschuldigten. Die Polizisten beschuldigen ihn, homosexuellen Kontakt zum Opfer gehabt zu haben.
Nach dem Bericht von Human Rights Watch behauptet Marwen, von der Polizei körperliche Gewalt und Erniedrigungen erfahren zu haben. Sie hätten ihn geohrfeigt und gedroht: „Wir werden dich züchtigen, dich vergewaltigen und auf eine Fanta-Flasche aus Glas setzen.“ Auf diese Weise hätten sie ihn gezwungen, ein falsches Geständnis abzulegen und auszusagen, dass er mit dem Vermissten gelegentlich verkehrt habe.
Danach wird er ins Krankenhaus gebracht, um dort einen Analtest durchführen zu lassen. In der Hoffnung dadurch entlastet zu werden, willigt der junge Mann in die Untersuchung ein, die er als „sehr schwierig“ beschreibt.
Am 22. September wird Marwen nach Artikel 230 zu einem Jahr Haft verurteilt. Am 17. Dezember wird er aus dem Gefängnis entlassen, nachdem das Berufungsgericht seine Strafe auf (bereits verbüßte) zwei Monate Haft und eine Geldstrafe von 300 Dinar abgesenkt hat.
Am 4. Dezember 2015 werden sechs Student/innen aus der Stadt Kairouan in ihren Studentenwohnungen festgenommen. Im Kommissariat seien sie von den Polizeibeamten misshandelt worden. Sie seien geschlagen und als „Miboun“ (abfällige tunesische Bezeichnung für Schwule) beschimpft worden. Nach einer Nacht im Gefängnis werden sie ins Krankenhaus gebracht, wo bei ihnen ein Analtest durchgeführt wird, obwohl sie dies ausdrücklich abgelehnt haben. Wie bei Marwen soll diese Untersuchung ihr „homosexuelles Verhalten“ nachweisen.
„Es fühlte sich an wie eine Vergewaltigung und es fühlt sich immer noch so an”, sagt Amar*, einer der Studenten.
Am 10. Dezember werden die sechs Studenten zur Höchststrafe von drei Jahren Gefängnis verurteilt und ihnen wird das Aufenthaltsrecht für Kairouan entzogen. Sie sitzen einen Monat in Haft, bevor ihre Strafe auf einen (bereits verbüßten) Monat und ein Bußgeld reduziert wird.
Die Studenten erzählen, dass sie in der Haft zahlreichen Übergriffen seitens der Wärter und Mitgefangenen ausgesetzt gewesen seien. Bis zu ihrer Freilassung sei kein Tag ohne Demütigungen, ohne körperliche und sexuelle Gewalt vergangen, erzählen die beiden Studenten Amar und Kais* Human Rights Watch.
„Wenn sich die Wärter langweilten, zwangen sie uns, wie Frauen vor ihnen zu tanzen. Wenn wir uns weigerten, ohrfeigten sie uns. Jeden Tag holten sie uns mit Handschellen aus der Zelle, schlugen uns und penetrierten uns mit ihren Knüppeln.”
Unterstützung durch Organisationen und Zivilgesellschaft
Diese beiden Fälle lösten eine in Tunesien bislang unbekannte Welle der Empörung aus. Ein Teil der öffentlichen Meinung kritisierte über die sozialen Netzwerke die willkürlichen Verurteilungen und vor allem den Analtest als Angriff gegen die individuelle Freiheit und Verstoß gegen internationale Bestimmungen. Tunesische Menschenrechtsorganisationen wie die Ligue Tunisienne des Droits de l’Homme und die Association Tunisienne des Femmes Démocrates forderten die Außerkraftsetzung von Artikel 230, weil er der neuen Verfassung entgegenstünde, die die Achtung der individuellen Freiheit wie der Privatsphäre garantiere.
Viele nationale und internationale Organisationen verlangten die Freilassung aller wegen Artikel 230 Inhaftierten, das Ende der Verfolgung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung sowie ein Verbot des Analtests, den die UN-Konvention gegen Folter als Angriff auf die körperliche Integrität ansieht.
Der breite Protest verschaffte den beiden Fällen große mediale Aufmerksamkeit und führte dazu, dass die Strafen der Verurteilten in einem Berufungsverfahren herabgesetzt wurden. Doch auch wenn sie nicht mehr im Gefängnis sitzen, bleibt die Situation der Opfer von Artikel 230 schwierig. Häufig von ihren Familien und ihrer Umgebung verstoßen, sind sie ganz auf sich allein gestellt und befinden sich in einer psychisch wie ökonomisch labilen Lage.
So gut es geht, versuchen sich Hilfsorganisationen ihrer anzunehmen und sie zu unterstützen. Damj zum Beispiel, die offiziell 2011 gegründet wurde, jedoch schon während der Diktatur von Ben Ali existierte, kümmert sich um an die 85 junge Menschen und schuf sichere Orte, wo sich LGBT austauschen und ihre Sorgen äußern können. Damj hilft Personen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung in eine prekäre Situation geraten sind. Dasselbe gilt für den Verein Mawjoudin, der Opfer von Diskriminierung und Gewalt psychologisch unterstützt. Andere Organisationen sind mehr in der öffentlichen Debatte aktiv. Seit ihrer Legalisierung 2015 ist Shams in den Medien sehr präsent, weil sie die einzige Organisation ist, die sich in ihren Statuten offen für die Rechte von sexuellen Minderheiten ausspricht. Der Verein tritt mit seinen Forderungen im Fernsehen und auf öffentlichen Veranstaltungen auf.
Aber die mediale Aufmerksamkeit hat auch negative Folgen: Am 12. Dezember 2015 muss Shams-Vizepräsident Hedi Sahly Tunesien wegen Morddrohungen verlassen. Am 4. Januar 2016 erhält die Organisation von der Regierung die Mitteilung, sie habe ihre Aktivitäten für 30 Tage auszusetzen, da die Existenz von Shams illegal sei. Der Verein legt sofort Berufung gegen diese Entscheidung ein.
Nach Auskunft von Ahmed Ben Amor, ebenfalls Vizepräsident von Shams, war die Entscheidung „politisch“. Sie wurde nach den Äußerungen des Abgeordneten Abdellatif Mekki von der islamistischen Ennahdha-Partei getroffen, der die Existenz einer Organisation angeprangert hatte, die die Rechte von Homosexuellen verteidigt. Mekki hatte erklärt, homosexuelle Praktiken seien gesetzlich verboten, eine Organisation wie Shams zu erlauben, „gefährde den sozialen Frieden“, und ließ auf seinem moralischen Parforceritt auch die hohe Scheidungsrate, eheliche Gewalt und den Drogenkonsum nicht unerwähnt.
Am 24. Februar erklärt das Berufungsgericht die Existenz von Shams als rechtens und der Verein darf seine Arbeit wieder aufnehmen. „Shams begrüßt diese gerechte und neutrale Entscheidung der Justiz“, erklärt Ben Amor auf Inkyfada. „Es war klar, dass das Gericht uns Recht gibt, denn die Klage war völlig unbegründet. Shams ist eine legale, vorschriftsmäßige Organisation.“ Ein paar Tage später veröffentlicht Shams einen Spot im Internet, in dem Künstler und Aktivisten die Abschaffung von Artikel 230 fordern.
Mehr homophobe Reaktionen
Die Öffnung der Debatte über sexuelle Minderheiten hat jedoch auch zu einem Anstieg homophober Äußerungen geführt. Am 16. März 2016 erklärt die tunesische Schauspielerin Aïcha Attia im TV-Sender Tunisna: „Ich bin gegen Homosexualität und ihre Unterstützung, aber ich bin sehr tolerant.“ Die Internet-Gemeinde fiel über die widersprüchliche Aussage her und machte sie zur Lachnummer in den sozialen Netzwerken.
Kaum einen Monat später wettert der Schauspieler Ahmed Landolsi in der Fernsehsendung Klem Ennes gegen Homosexuelle und bezeichnet Homosexualität als „Krankheit“, die keinen Platz in einer Gesellschaft habe, in der der Islam Staatsreligion sei. Sein Beitrag spaltet die öffentliche Meinung in Anhänger/innen des Schauspielers, die die freie Meinungsäußerung verteidigen, und Sympathisant/innen der LGBT-Szene, die eine öffentliche Entschuldigung verlangen. Ahmed Landolsi lehnt ab, sich zu entschuldigen. In der Woche nach seinem Beitrag tritt Ahmed Ben Amor im selben Programm auf. Aber was als Erwiderung auf die Worte des Schauspielers gedacht war, habe sich zu einer „fruchtlosen“ Diskussion voller „Klischees“ über Homosexuelle entwickelt, bedauert der Aktivist. „Ich sollte eigentlich nur einer einzigen Person gegenübersitzen“, erklärt er. „Ich habe gezeigt, inwiefern Ahmed Landolsis Äußerungen homophob und frauenfeindlich waren. Aber ich wurde mit Klischees überschüttet wie: 'Wer übernimmt denn in einer schwulen Beziehung die Rolle der Frau und trägt am Strand einen Bikini?'“
Seit seinem Fernsehauftritt habe Ben Amor am Telefon, in den sozialen Netzwerken und sogar auf der Straße an die 500 Morddrohungen erhalten.
Kein politischer Wille
Auch wenn die Debatte die tunesische Öffentlichkeit und die Medien erreicht hat, ist auf politischer Ebene das Engagement für die LBGT-Rechte sehr spärlich. Eine der wenigen erwähnenswerten Fürsprachen kommt nach Marvens Verurteilung vom damaligen Justizminister Mohamed Salah Ben Aïssa. Am 28. September 2015 fordert er auf dem Radiosender Shems FM die Abschaffung von Artikel 230, den er für unvereinbar mit der neuen tunesischen Verfassung hält. „Es ist nicht mehr erlaubt, die individuelle Freiheit und die Privatsphäre zu verletzen“, erklärt er.
In der Woche darauf Woche folgt die Missbilligung von Präsident Béji Caïd Essebsi. Während eines Interviews im ägyptischen Fernsehen erklärt er, es werde keine Abschaffung dieses Gesetzesartikels geben und der Justizminister habe „nur in seinem eigenen Namen“ gesprochen. Am 20. Oktober wird Ben Aïssa seiner Ämter enthoben, offiziell wegen eines Streits über das Verfassungsgericht.
Derselbe Ton in der islamistischen Ennahda-Partei. Ihr Vorsitzender Rached Ghannouchi erklärt in einem Interview mit France 24 sein Einverständnis mit der Entscheidung des Präsidenten und bekundet, „gegen die Abschaffung von Gesetz 230“ zu sein, aber gleichwohl „die individuelle Freiheit von jedem zu respektieren“.
Obwohl die Diskussion in der tunesischen Gesellschaft konkretere Züge annimmt, scheint sich die Regierung also nicht mit dem Thema befassen, geschweige denn die Abschaffung von Artikel 230 nur in Erwägung ziehen zu wollen, angeblich, weil andere Fragen wichtiger seien. Mehrere Organisationen kritisierten die fehlende politische Unterstützung sowie die Banalisierung der Homophobie.
„Die Regierung reagiert nicht“, sagt Ahmed Ben Amor. „Als ich wegen all der Drohungen, die ich erhalten habe, eine Anzeige erstatten wollte, erklärte mir die Polizei, sie verteidige das Land gegen Terroristen und schütze keine 'Schwuchteln'. Homosexuelle sind in Tunesien ganz einfach minderwertige Bürger.“
Anmerkung der Autorin
*Die Namen der im Artikel erwähnten Personen wurden zu ihrem Schutz geändert. Im vergangenen Jahr hatten wir davon berichtet, wie sich Organisationen mittlerweile im öffentlichen Raum für die Rechte der LGBT einsetzen. Deshalb wollten wir nun zeigen, wie sich die Debatte seitdem entwickelt hat.
Die Artikel „LGBT-Rechte in Tunesien: Der Kampf kommt ins Fernsehen“, „Transgender-Aktivistin Cléo ist nach Tunesien geflohen“, „In Tunesien tötet die Homophobie Menschen“ sind zuerst auf der tunesischen Seite Inkyfada.com auf Französisch erschienen. Sie wurden am 17. Mai 2016 veröffentlicht, dem Internationalen Tag gegen Homophobie und Transphobie. Zum ersten Mal haben an diesem Tag alle tunesischen LGBTI-Menschenrechtsorganisationen in Kooperation mit der Koalition für individuelle Rechte eine gemeinsame öffentliche Veranstaltung in einem Theater organisiert. Die Veranstaltung entstand in Zusammenarbeit mit dem hbs-Büro in Tunis.