Mit dem Refugee Scholarship Network erhalten junge Geflüchtete die Gelegenheit für ein sozial- und geisteswissenschaftliches Studium. Das bringt einiges in Bewegung, nicht nur für die Studierenden, sondern für alle Beteiligten.
Das Refugee Scholarship Network bewährt sich am Bard College Berlin (BCB) seit fast vier Monaten in der Praxis. Weil ich selbst ein Seminar unterrichte, zur deutschen Migrationsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg, kann ich diese Praxis selbst mitgestalten und von Nahem sehen, wie es funktioniert und was noch alles zu tun ist. Was für ein Privileg: In meiner Klasse sind Studierende aus der ganzen Welt, und nun eben auch aus Syrien und dem Irak. Gerade bei einem Thema wie Migrationsgeschichte will ich mir eine andere, homogenere Zusammensetzung gar nicht mehr vorstellen.
Letztes Jahr konnten wir dank großzügiger Spenden und der Unterstützung von Privatpersonen und von Treuhändern des Bard Colleges vier Vollstipendien auf vier Jahre ausschreiben. Muhanad, Wafa, Karam und Achmed (alle aus Syrien) haben im September mit Vollstipendien ihre sozial- und geisteswissenschaftlichen Studien am Bard College Berlin aufgenommen. Yara, Ghaithaa, Dachil und Mohammed (aus Syrien und dem Irak) konnten, ohne bisher immatrikuliert zu sein, Seminare besuchen und Credit Points für ein späteres Studium sammeln. Fürs nächste Jahr steht bereits die Finanzierung für mindestens vier weitere Vollstipendien. Das Scholarship Network sorgt für Vernetzung, Betreuung, Mentorenschaften, finanziert Sprach- und Nachhilfekurse und ermöglicht Veranstaltungen, auf denen wir herumexperimentieren, wie ein Diskurs, in dem neuangekommene Geflüchtete eine Stimme haben, aussehen könnte.
Da die Studierendenschaft bei Bard so klein und international ist – 210 junge Menschen, aus über 50 Ländern – und durch das Leben auf dem abgelegenen Campus im Nordosten Berlins eng zusammenrückt, haben sich die Stipendiat*innen sofort integriert. Sie bilden keine eigene Gruppe, sondern verstärken einfach nur auf erfreuliche Weise den Anteil der Studierenden aus der MENA-Region. Trotzdem wirkt sich ihre Anwesenheit auf das ganze College aus. In diesen Tagen ist es das Schicksal Aleppos, das uns alle bewegt. Es macht eben doch auch und gerade in einer akademischen Umgebung einen riesigen Unterschied, ob man historische Ereignisse nur aus den Medien erfährt oder ob man jemanden als Teil der eigenen Gemeinschaft empfindet, der von den Ereignissen persönlich betroffen ist.
Wir „helfen“ also nicht, sondern verändern uns selbst. Der ganze Unterricht verändert sich. Er wird aktueller, spannender, vielseitiger, überraschender. Leute mit völlig unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen stoßen aufeinander. Wir lassen hergebrachte Debattierformate hinter uns, wir nehmen uns Zeit, um zuzuhören und die eigene Stimme zu entwickeln. Wir profitieren von den vielen Sprachen und verringern die Privilegien der englischen Muttersprachler*innen. (Eine Amerikanerin in meiner Klasse zum Beispiel musste erst lernen, nicht so rasend schnell zu sprechen, wenn sie verstanden werden wollte; das Schnellsprechen, das an angelsächsischen Unis zum Erfolg dazu gehört, wurde plötzlich zu einem Handicap.) Trotzdem muss am Ende auch die Leistung stimmen. Die Stipendiat*innen arbeiten rund um die Uhr, um die Lektüreanforderungen, die vielen Essays und Präsentationen zu bewältigen. Und auch wir, die sie unterrichten, arbeiten rund um die Uhr, um die extra Betreuung zu gewährleisten, die Unterrichtsformate anzupassen, klassische Lerninhalte mit innovativen Verarbeitungs- und Ausdrucksformen zu verbinden.
Dafür werden wir mehr als belohnt. Zum ersten Mal in meinem Dozentinnenleben lerne ich genauso viel von den Studierenden wie diese von mir. Zum Beispiel machen die jüdischen Amerikaner*innen und eine Israelin in meinem Kurs jetzt ein Projekt mit den Syrer*innen, darüber, wie sich die deutsche Erinnerungskultur an den Holocaust unter dem Eindruck der „Flüchtlingskrise“ verändert. Oder die Projekte zum Thema „Integration“: Eine Syrerin und eine Ägypterin arbeiten gemeinsam mit zwei Holländer*innen darüber, welche Integrationsinstrumente niederländische EU-Bürger*innen und Neueingewanderte aus Syrien jeweils für sich als erfolgreich betrachten, welchen Erinnerungshintergrund diese Instrumente haben und wie sie sich zu den deutschen Integrationskonzepten und Gesetzen verhalten.
Es gibt natürlich auch Rückschläge und Krisen. Alle syrischen Studierenden leiden unter der Situation in ihren Heimatländern, unter der Bürokratie der Asylverfahren, unter den Defiziten ihrer bisherigen Bildungskarrieren in Diktaturen, unter den zahllosen Schwierigkeiten und Benachteiligungen der Flüchtlingsexistenz.
Das Bard College Berlin ist für das Refugee Scholarship Network nicht der einzige, aber der ideale Ort: wegen seiner Transdisziplinarität, wegen seiner Internationalität, wegen seiner langen Tradition des Einsatzes für Bürgerrechte, und weil Bard in den USA schon in den 30er und 40er Jahren Geflüchtete aus Europa aufgenommen hat und sich von der Gedankenwelt Hannah Arendts maßgeblich hat prägen lassen. Außerdem kann es als kleine Privatuni zwischen den Welten – BCB ist sowohl in Deutschland als auch in den USA akkreditiert, die Studierenden sammeln sowohl europäische als auch amerikanische Credit Points – viel flexibler agieren als staatliche Universitäten. Wenn sich das Programm hier bewährt, kann es an die Erfordernisse der Massenuniversität angepasst werden.
Unser Ziel ist, jedes Jahr mindestens vier Vollstipendiat*innen und drei oder vier Besucher*innen aufzunehmen, also ab 2019 um die zwanzig geflüchtete Studierende am College zu haben. Dafür brauchen wir ca. 100.000 Euro im Jahr. Zusätzlich wollen wir sozial- und geisteswissenschaftliche Vorbereitungskurse für Geflüchtete und auch andere benachteiligte Zielgruppen entwickeln, um ihre Lese- und Schreibkompetenzen, ihr Methodenbewusstsein und ihr kritisches Denken zu fördern, noch bevor sie an einer Uni aufgenommen werden. Diese Kurse werden auch fürs Internet konzipiert und sollen ganz viele junge Menschen erreichen. Außerdem haben wir vor, die Nachbarschaft des Bard College Berlin in Niederschönhausen in regelmäßigen Abständen zu Bard einzuladen und an den Diskussionen zur Einwanderungsgesellschaft der Gegenwart zu beteiligen.
Es geht also nicht „nur“ darum, einer Handvoll Geflüchteter ein Liberal Arts Studium zu ermöglichen. Es geht auch um eine Neudefinition der alten Einheit von Forschung und Lehre und des ganzheitlichen Humboldt‘schen Bildungsideals, um eine Anpassung unserer Konzepte und Strukturen von weiterführender Bildung an die Erfordernisse unserer Zeit, um eine neue Legitimation der Geistes- und Sozialwissenschaften in einem bildungspolitischen Umfeld, das ihren Wert oft gar nicht mehr erkennt. Und nicht zuletzt geht es um die Entwicklung neuer Narrative, die den riesigen Herausforderungen des Zusammenlebens und der transnationalen Identitäten in einer Welt, die weiterhin von Nationalstaaten bestimmt sein wird, gewachsen sind.
Die Studierenden in meinem Migrationsseminar sind damit zwar noch ganz am Anfang. Aber sie wissen, dass es auf sie ankommt. Im Frühlingssemester wollen wir im BOX Freiraum die Projekte, an denen sie jetzt arbeiten, für eine Ausstellung visualisieren. Die Ergebnisse werden wir auf einer Konferenz zur Geschichte europäischer Migrationsregime im Mai 2017 in der Gedenkstätte Berliner Mauer präsentieren. Und im September kommt schon die nächste Generation von Studierenden.
Dieser Artikel erschien zuerst beim Aktionsbündnis "Wir machen das". Der Originalbeitrag hier.
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