Am 08.06.2017 fand die Tagung „Menschlich bleiben – Strategien im Umgang mit antifeministischen Angriffen auf Soziale Arbeit“ des Gunda-Werner-Instituts in Kooperation mit der AWO statt. Im Rahmen der Veranstaltung wurden mehrere Tagungsberichte von Stipendiat*innen und Praktikant*innen der Heinrich-Böll-Stiftung verfasst. Eine PDF dieses Berichts findet sich hier.
Soziale Arbeit ist in unterschiedlichen Handlungsfeldern vermehrt antifeministischen Angriffen ausgesetzt. Um Strategien im Umgang mit solchen Angriffen zu entwickeln, wurden antifeministische Positionierungen analysiert, diskutiert und daraufhin Handlungsmöglichkeiten für Sozialarbeiter*innen entwickelt. Workshop 1 beschäftigte sich im ersten Teil mit der Sexualität im Kindes- und Jugendalter im Allgemeinen. Der zweite Teil widmete sich der Auseinandersetzung mit der Initiative „Besorgte Eltern“, die versuchen bundesweit Einfluss auf pädagogische Einrichtungen zu nehmen, indem sie vor einer vermeintlichen „Frühsexualisierung“ warnen. Ziel des Workshops war es gemeinsam Strategien zu entwickeln, die einen adäquaten Umgang mit antifeministischen Positionen ermöglichen und sexuelle Bildung begründen. Dabei wurden Praxis und Theorie zusammengedacht und die Expertise der Teilnehmer*innen berücksichtigt.
Sexualität im Kindes- und Jugendalter
Der pädagogische Umgang mit Sexualität und die Gestaltung sexueller Bildung werden kontrovers diskutiert. Einerseits spielen Geschlecht, Körper und Sexualität eine große Rolle bei der Entwicklung des Kindes, andererseits ist Sexualität weiterhin ein randständiges und gerne tabuisiertes Thema. Das Anerkennen der geschlechtlichen Verortung und das Achten von Grenzen der Kinder ist für das professionelle Handeln Voraussetzung. Dazu ist eine Reflexion der eigenen Biografie vorteilhaft. Zu Beginn des Workshops hatten die Teilnehmer*innen daher Zeit sich mit den eigenen Erfahrungen bezüglich Sexualität im Kindesalter und der eigenen Aufklärung auseinanderzusetzen und sich darüber auszutauschen. Im Anschluss wurden vier praxisrelevante Thesen zunächst in Kleingruppen, anschließend im Plenum diskutiert, die im pädagogischen Alltag an Professionelle herangetragen werden und einen entsprechenden Umgang erfordern. Die vier Thesen sind im Folgenden kursiv und in Anführungszeichen zu finden.
Recht auf Aufklärung im Kindesalter
Kinder haben ein Recht auf sexuelle Aufklärung. Ein Verständnis über die eigenen Grenzen und diese Grenzen benennen zu können, ist aus Perspektive der Missbrauchsprävention erforderlich. Die Diskussion über eine verpflichtende Teilnahme an sexualpädagogischen Angeboten verweist darauf, dass Kinder in Konflikte geraten können, wenn bei ihnen zu Hause Sexualität tabuisiert wird. Dennoch ist aus professioneller Perspektive sexuelle Bildung wichtig, damit Kinder lernen Grenzen setzen zu können, nein sagen zu können, wenn sie etwas nicht wollen, auch schon bei kleinen Berührungen. Sexuelle Bildung zielt darauf ab, Kinder ihrem Alter und ihrer Entwicklung entsprechend zu informieren und Werte und Kompetenzen zu vermitteln, die sie für eine selbstbestimmte Sexualität brauchen und vor (sexualisierter) Gewalt schützen. Das begründet eine professionelle Verpflichtung zur Aufklärung ohne Ausgrenzungen von Kindern.
Kinder durchlaufen verschiedene Entwicklungsstufen, daher ist eine kindergerechte und der Entwicklungsstufe entsprechende Aufklärung notwendig. Die These „Kinder sollen nur dann aufgeklärt werden, wenn sie Fragen stellen“ wurde von den Workshopteilnehmer*innen abgelehnt. Stattdessen sollen Kinder entsprechend ihres Alters aufgeklärt werden. Kinder brauchen Anlässe und Raum, um Fragen stellen zu können und haben ein Recht darauf bspw. alle Körperteile benennen zu können. Bereits sehr junge Kinder stellen Fragen zu ihrem eigenen Körper und zur Sexualität. Aufgabe professioneller Fachkräfte ist es, keine vereinfachenden Darstellungen bei der Beantwortung der Fragen zu wählen.
Sowohl Fachkräfte, als auch Eltern haben oft Schwierigkeiten bei Fragen bezüglich Sexualität und Körper. Ziel ist es, das Sprechen darüber zu vereinfachen und eine Selbstverständlichkeit zu entwickeln. Im Umgang mit Eltern, die ihre Kinder aus unterschiedlichen Gründen nicht aufklären wollen, müssen pädagogische Einrichtungen, wie Kindertageseinrichtungen (KiTas), Strategien der Zusammenarbeit entwickeln. Dazu müssen das Handeln der Einrichtung transparent gemacht werden, Eltern informiert werden und die Entwicklung des Körpers und der Sexualität des eigenen Kindes als selbstverständliches Thema in Elterngesprächen verankert werden.
Besonderheiten der kindlichen Sexualität
Sexualität bei kleinen Kindern ist häufig ein Tabu. Ein richtiger Umgang damit ist aber notwendig, um Grenzverletzungen zu vermeiden. Kindliche Sexualität umfasst das Entdecken des eigenen Körpers. Wenn Kinder gegenseitig ihre Körper erkunden, gibt es Regeln, die beachtet werden müssen. Wenn ein Kind etwas nicht möchte oder nicht mehr möchte, muss das von den anderen Kindern akzeptiert werden. Das umfasst auch den Abbruch eines Spiels. Außerdem ist auf den Altersunterschied zu achten, um Grenzverletzungen zu vermeiden. Zudem ist es verboten, einem anderen Kind etwas in die Körperöffnungen zu stecken.
Die Besonderheit der kindlichen Sexualität ist die Unbefangenheit, sie ist nicht zielgerichtet und nur auf das eigene Wohlbefinden ausgerichtet. Kontaktaufnahmen im Kindesalter sind folglich nicht absichtsvoll. „Kindliche Sexualität ist also nicht mit erwachsener Sexualität zu vergleichen“. Kinder unterscheiden nicht zwischen Zärtlichkeit, Sinnlichkeit und genitaler Sexualität. Erwachsene Sexualität ist dagegen stark auf Lust ausgerichtet und wird mit bestimmten Vorstellungen verbunden.
Soziale Konstruktion von Geschlechtern
Pädagogische Einrichtungen sind damit konfrontiert, dass Geschlechter sozial konstruiert sind und die binäre Geschlechterordnung von der Gesellschaft (re-)produziert wird. Pädagogische Fachkräfte begleiten Kinder in der Identitätsentwicklung. Fragen nach „was bin ich“ und „was heißt das für mich“ sind dafür grundlegend. Die Gesellschaft, so auch die Medien und die Eltern, haben einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der Geschlechtsidentität, indem Bilder von Weiblichkeiten und Männlichkeiten vermittelt und reproduziert werden. „Kinder werden zu Mädchen und Jungen erzogen“. Aussehen und Kleidung spielen bei der Entwicklung eine wichtige Rolle für die Kinder, indem sie geschlechtstypische Kleidung wählen. Außerdem werden schon im Kindesalter Spielpartner*innen durch die Bestimmung des Geschlechts definiert.
Ein reflektierter Umgang mit gesellschaftlichen Vorstellungen von Geschlechtern, Stereotypen und der Darstellung von Weiblichkeiten und Männlichkeiten sind Aufgabe professionellen Settings. Institutionelle Normen und Regeln müssen folglich überdacht werden, um eine geschlechtliche Vielfalt zu akzeptieren.
Die Arbeit mit den Eltern
Pädagogische Fachkräfte müssen nicht nur sexualpädagogische Angebote entwickeln, sondern auch die Beziehung zu den Eltern gestalten. Besonders Eltern, die sich gegen die sexualpädagogischen Angebote aussprechen, erfordern einen entsprechenden Umgang. Auf die Befürchtungen, die Kontrolle über die sexuelle Aufklärung zu verlieren, kann mit Information und Transparenz begegnet werden. Die Eltern müssen informiert und die Arbeit pädagogisch begründet werden. Des Weiteren können sexuelle und geschlechtliche Vielfalt und sexuelle Bildung im Leitbild der Einrichtungen verankert werden. Die entsprechend zu diskutierende These im Rahmen des Workshops war: „Ohne Eltern wäre die Sexualerziehung/sexuelle Bildung viel leichter.“
Strategien im Umgang mit „Besorgten Eltern“
Die Initiative „Besorgte Eltern“ ist ein Bündnis, das sich in der Öffentlichkeit gegen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt ausspricht und sich aktiv gegen sexuelle Bildung in pädagogischen Einrichtungen einsetzt. Die Initiative ist christlich-konservativ bis rechtsextrem ausgerichtet, seit 2013 aktiv und bundesweit tätig. In einigen Bundesländern wurden gemeinsam mit der Initiative „Demo für Alle“ Demonstrationen gegen sexuelle Bildung und die Darstellung sexueller Vielfalt in Bildungsmaterialen organisiert und Informationsmaterialien gegen die vermeintliche „Frühsexualisierung“ erstellt. Allerdings schürt das Bündnis in Wahrheit Ängste, nutzt die Figur des bedrohten Kindes und die Verunsicherung der Eltern und zielt darauf ab, die eigenen Privilegien und Deutungsmacht zu erhalten. Das Bündnis macht Stimmung gegen sexuelle Minderheiten und erkennt nur das streng traditionelle Familienbild an.
Die Broschüre „Die verborgenen Wurzeln der Moderne“, die als homophobe Propaganda beschrieben werden kann, wurde mit einem entsprechenden Empfehlungsschreiben von den „Besorgten Eltern“ an alle KiTas in einigen Bundesländern verschickt. Die Inhalte der Broschüre sind menschenfeindlich und negieren sexuelle Vielfalt und verurteilen jede Form der sexuellen Bildung. Die Darstellungen sind verkürzt und populistisch. Symbole wie der Regenbogen werden verfremdet. Reaktionen innerhalb des Workshops waren „sprachlos“, „pervers“ und „ekelhaft“.
Welche Strategien erfordern solche Materialen und Aktivitäten der „Besorgten Eltern“? Diese Frage kann auf unterschiedlichen Ebenen gefasst werden.
Erstens geht es darum, wie pädagogische Fachkräfte und Leitungen von KiTas damit umgehen, wenn sie Informationen zugeschickt bekommen. Empfohlen wird, die Broschüre wegzuwerfen und die Inhalte nicht zu thematisieren. Außerdem kann rückgemeldet werden, dass man zukünftig keine Materialen mehr zugeschickt bekommen möchte.
Wenn allerdings die Informationen nicht nur an die Fachkräfte herangetragen wurden, sondern auch in die Hände der Eltern gekommen sind, erfordert dies eine andere Reaktion. Dann kann zweitens das Thema sexuelle Bildung am Elternabend thematisiert werden und die Beziehungsarbeit mit den Eltern intensiviert werden. Wichtig ist, dass die Einrichtung die Eltern über ihre Arbeit informiert und sich, zum Beispiel in Einrichtungskonzeptionen oder Schutzkonzepten, klar positioniert. Ziel ist es, dass die Einrichtung transparent macht, was sie (nicht) macht und warum. Außerdem muss argumentativ dargestellt werden, warum die Inhalte der Broschüre falsch sind. Aufgrund der knappen Ressourcen in KiTas und anderen pädagogischen Einrichtungen kann auf externe Unterstützung zurückgegriffen werden.
Ein weiteres Problem sind Fachkräfte und Leitungen, deren Einstellungen sich mit denen der „Besorgten Eltern“ überschneiden. Das erfordert drittens eine breitere politische Bildung und Öffentlichkeitsarbeit. Bestehende Initiativen haben Informationen zusammengestellt und geben Hinweise auf (sexual)pädagogisch wertvolle Kinderbücher und Filmtipps (z.B. vielfalt-erfahrenswert).
Fazit und Ausblick
Eine Auseinandersetzung mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt im Kindes- und Jugendalter hat zur Folge, dass sexuelle Bildung als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen zu verstehen ist. Sexuelle Bildung umfasst zum einen eine Erweiterung der Perspektiven und eine Sensibilisierung für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt und zum anderen die Notwendigkeit kindliche Sexualität im Allgemeinen mehr in den Blick zu nehmen. In der Arbeit zu Sexualität mit Kindern ist es wichtig, einfache Antworten, die sich nur auf biologische Erklärungen stützen, zu vermeiden. Stattdessen soll eine umfassende Aufklärung die Kinder zur Selbstbestimmung befähigen. Damit das gelingt, müssen die Eltern in die Arbeit der pädagogischen Einrichtungen mit einbezogen und darüber informiert werden. Um eine Verbreitung menschenverachtender Meinungen der Bündnisse, die im christliche-konservativen bis rechtsextremen Kontext zu verorten sind, zu vermeiden, muss gesamtgesellschaftlich Informations- und Aufklärungsarbeit geleistet werden und entsprechendes Material zur Verfügung gestellt werden.
Am 08.06.2017 fand die Tagung „Menschlich bleiben – antifeministische Angriffe auf die Soziale Arbeit“ des Gunda-Werner-Instituts in Kooperation mit der AWO statt. Im Rahmen der Veranstaltung wurden mehrere Tagungsberichte von Stipendiat*innen und Praktikant*innen der Heinrich-Böll-Stiftung verfasst. Eine PDF dieses Berichts findet sich hier.