Die Außenseiterinnen

Feministischer Zwischenruf

Ein Leben entgegen gesellschaftlicher Normierung, weil die Norm sie nicht anerkennt, sie ausschließt, so werden Außenseiter*innen gern und oft beschrieben. Doch dass diese Positionierung sehr viel Potential bergen kann, zeigen zwei Netflix-Serien. Der Herbst kann kommen!

Batman, Spiderman, Iron Fist, The Incredible Hulk, Superman, das sind die kanonisierten Namen des Superhelden-Universums. Tausende Kubikmeter wertvollster Comicsammlungen aus acht Jahrzehnten transformierten sich in mehrteilige Blockbuster und Serien samt Merchandising und normierende Männlichkeitsbildern. Die wenigen weiblichen Äquivalente waren zumeist weniger spektakulär, hübsch anzusehen, sozialverträglich und naja Frauen halt. Ganz anders die bösen Gegenspielerinnen der Superhelden, die waren wenigstens verrucht und doppelzüngig. Die Heilige, die Hure, schnarch. Doch dann kam Jessica Jones, die 2001 zweidimensional auf Papier erschaffen, ihre eigene Marvel-Serie und damit eine besondere Aufmerksamkeit bekam. Ihre Geschichte liest sich wie folgt: Als Jugendliche verliert sie bei einem Autounfall ihre Familie und wird daraufhin im Krankenhaus ohne ihre Kenntnisse medizinischen Experimenten unterzogen, die sie schlussendlich mit enormen physischen Kräften ausstatten. Als Erwachsene lebt sie zurückgezogen in New York, arbeitet als Privatdetektivin, was ihrer sozialen Isolation zuträglich ist, pflegt einen rohen Lebensstil und versucht ihrer Vergangenheit zu entkommen, indem sie ihren Ruf als Misanthropin pflegt und jeder verbindlichen Zwischenmenschlichkeit aus dem Weg geht. Ihre einzige Vertraute ist ihre Freundin und Adoptivschwester Trish Walker, die das ganze Gegenteil von ihr zu sein scheint.

Sookee ist Rapperin und Feministin, politisch und in Partylaune, kämpferisch und harmoniebedürftig. Widersprüche sind eine ihrer leichtesten Übungen, wie sich auf 6 Solo-Releases und dutzenden Kollabos nachhören lässt. Sookee lebt in Berlin und streut von dort aus Idealismus und kritische Analysen auf internationale Bühnen, Podien, Squats, Feuilletons und in die Biographien vieler Menschen.

Es gab eine Zeit, in der Jessica ihre Kräfte im Dienste der Menschheit stellte. Doch ein sadistischer, ebenfalls mit Superkräften ausgestatteter, Mann manipulierte Jessica Jones, so dass sie Fähigkeiten nur noch gegen ihren Willen einsetzen konnte. Diese Machtübernahme über ihre Existenz hat Jessica zu einer zynischen, autoaggressiven Großschnauze werden lassen. Was für eine Metapher! Männliche Fremdbestimmung versaut den Spaß am Leben. Immerhin zelebriert Jessica noch eine düstere Form des Hedonismus, in dem sie nur das tut, wonach ihr der Sinn steht. Dazu gehören One Night Stands und der fortwährende Konsum von Hochprozentigem. Eine Film-Noir-Nihilistin wie sie sonst Männerrollen vorbehalten ist. Dass das aber nicht das Ende vom Lied sein kann, zeigt sich in den Momenten, in denen sie die Autor*innen dann doch in Kontakt mit anderen Menschen und Übermenschen stellen. In der Crossover Serie „Marvel’s The Defenders“ soll sie eine Geheimgesellschaft besiegen, geführt von einer Frau und auf der Suche nach der Formel für das ewige Leben. Als sie gebeten wird Teil des Teams zu werden, redet sie sich mit einem „Alright, I am done with this tin-foil-hat shit“ raus. Sie ist hat einen bitterbösen Humor, der sich - wie die meisten ihrer Wesenszüge - als bloße Überlebensstrategie herausstellt. Denn ihre Bad-Ass-Attitüde ist kein Lifestyle, kein Mode-Accessoire, sondern das einzige Mittel, das ihr es ermöglicht zu ertragen, was ihr angetan wurde: Ein Mann gab ihr, was sie nicht wollte - ein Mann nahm ihr, was ihr gehörte. Sie ist Opfer, Betroffene, Überlebende und lange Zeit nicht fähig damit umzugehen, sich Hilfe zu suchen. Stattdessen hüllt sie sich in die Rolle der unsympathischen, knallharten Einzelkämpferin. Nichtsdestotrotz spürt man beim Zuschauen ihr Herz schlagen. Man möchte mit ihr eine Nacht durchzechen, sie verstehen, an ihrer Seite die chaotischen Schmerzen ihres Lebens überwinden.

Viel früher und nicht im Superheld*innenuniversum spielt die Geschichte von „Anne With An E“.

Um genau zu sein 120 Jahre zuvor, im ländlichen Kanada zwischen karger Lebensweise, sozialer Limitierung und den Weiten kindlicher Phantasie. Anne ist ebenfalls Waise und Außenseiterin. Sie hat frühzeitig die Strenge der scheinbar ausweglosen Klassenzugehörigkeit und die Härte der patriarchalen Welt an Leib und Seele erfahren. Durch ein Missverständnis wird sie von dem Geschwisterpaar Cuthbert aufgenommen, die allen Mut zusammennehmen, um sich von den misstrauischen Blicken und boshaften Kommentaren ihrer Provinznachbarschaft nicht einschüchtern zu lassen, denn: Anne ist anders. Ihr Lebenshunger scheint unersättlich, wenngleich ihr junges Leben holprig verläuft, lässt Anne sich von nichts und niemandem demoralisieren. Sie sucht Hoffnung und Inspiration in allem, was sie umgibt, erkennt die Schönheit der Welt in der Natur und der Poesie. Sie ist eine Entdeckerin, eine Erfinderin, ein entgrenztes Imaginationswunder, das als sommersprossige Quasselstrippe voller Wissbegier nach Glück sucht und an die Liebe glaubt. Sie will die Oberflächlichkeit des Lebens, das einem Mädchen wie ihr vorgeschrieben zu sein scheint, nicht anerkennen und wendet sich intuitiv an Menschen, die ihren Freiheitsdrang und ihre Nächstenliebe respektieren. In der lesbischen Tante, ebenfalls eine Außenseiterin und ihre beste Freundin, findet sie eine Mentorin, die ihren Wortreichtum und ihre Neugier nicht als lästig und unangemessen diffamiert, sondern sie ermutigt das Leben zu leben, wie es ist und nicht wie es Gottesfurcht und Disziplin vorschreiben. Anne ist ein eloquentes, eigensinniges Kraftpaket mit einem riesigen Herzen und einem Tatendrang, der ungemein ansteckend ist.

Der Herbst kann also kommen.