Das Problem mit der Sozialen Sortierung

Der weibliche Körper wird konstant überwacht, in den eigenen vier Wänden genauso wie im öffentlichen Raum. Dabei geht es nicht nur um die Verletzung der Privatsphäre, sondern auch um die soziale Aussortierung.

Der weibliche Körper wird in den verschiedenen Räumen, in denen er sich bewegt, konstant überwacht; von der „Privatheit“ der eigenen vier Wände bis hin zum öffentlichen Raum. Ständig kategorisiert und kontrolliert der männliche Blick die weibliche Form, um so sicherzustellen, dass sie übergeordneten patriarchalischen Normen entspricht. Dabei ist die Überwachung – und die Datafizierung des Alltäglichen – nicht einfach eine Verletzung der Privatsphäre, sondern, wie David Lyon es postuliert, auch eine Form des social sorting, eine Form der sozialen Sortierung.

Dieser Prozess des sozialen Sortierens führt dazu, dass Unterschiede erschaffen und verstärkt werden:

„Denn mit der heutigen Überwachung werden Menschen in Kategorien eingeteilt und ihnen dabei die Attribute wertvoll oder gefährlich zugewiesen, und das auf eine Art und Weise, die tatsächliche Auswirkungen auf die Lebenschancen der Menschen hat. Es findet eine tiefgreifende Diskriminierung statt, weshalb Überwachung nicht einfach eine Frage der persönlichen Privatsphäre ist, sondern der sozialen Gerechtigkeit.“[1]

Mit dem Aufkommen des Überwachungskapitalismus[2] wird das Alltägliche, das zuvor Banale, nun zu Geld gemacht. Anders formuliert: Das Ich wird in bisher beispielloser Weise datafiziert und zum Gegenstand der sozialen Sortierung gemacht. Aufbauend auf der Arbeit von Gandy[3] und Lyon ist es wichtig, Überwachung über die in den Mainstreamdebatten geübte Kritik libertärer Art – bei der es um Verletzungen der individuellen Privatsphäre geht – hinaus zu betrachten. Überwachung muss innerhalb des feministischen Diskurses angesiedelt werden, der die verschiedenen Auswirkungen von Überwachung und (sozialer) Diskriminierung auf Körper berücksichtigt, wobei Geschlecht, Klasse und „Rasse“ als Kategorien der Disziplinierung und Diskriminierung der Überwachung verwendet werden. Die feministische Forschung zur Überwachung nutzt das Konzept der Intersektionalität und betont damit, dass Überwachung nicht einheitlich wahrgenommen wird, sondern sich häufig unverhältnismäßig stark gegen von der Norm abweichende und andersartige Körper richtet. In ihrer bahnbrechenden Arbeit Dark Matters fordert Simone Browne uns auf, das Konzept der Überwachung zu entlarven und es nicht als „eine Form des neutralen Beobachtens“ zu sehen, sondern alternativ als „die Offenlegung der Ungleichheiten zwischen jenen, die beobachtet werden und jenen, die beobachten“.[4] Zudem setzen Feminist*innen den Begriff der Überwachung mit dem „männlichen Blick“ gleich, welcher die Dehumanisierung und Kontrolle des betrachteten Objekts zur Folge hat. Dieser sehr sinnvolle Ansatz liefert eine Erklärung für die Kontrolle, die allen Überwachungssystemen inhärent ist.

Soziale Sortierung setzt Unterschiede voraus

Soziale Sortierung setzt Unterschiede voraus; in diesem Sinne verdichtet sie bereits bestehende Unterschiede in der Gesellschaft und bewahrt den Status quo. Das jüngste Beispiel hierfür ist der Algorithmus von Amazon zur Personalgewinnung, der geschlechtsspezifische Einstellungsmuster reproduzierte und dabei auf eine Sammlung bereits bestehender Datensätze zurückgriff, d. h. auf ein Arbeitsumfeld, in dem Frauen bereits unterrepräsentiert waren und auf dieser fehlerhaften Grundlage „vorteilhafte“ Profile anlegte. Damit wurde das Geschlecht zu einem Kennzeichen für Beschäftigungsfähigkeit; die soziale Sortierung spiegelte dabei den Status quo wider, der wiederum das Ergebnis eines systematischen Sexismus und patriarchalischer Barrieren im MINT-Bereich ist.

Bei Überwachung geht es um Macht

Bei Überwachung geht es um Macht: Wer hat die Macht, Informationen zu sammeln, Kategorien zu schaffen und gesellschaftliche Realitäten einzusortieren? Die Strafverfolgungsbehörden sind an Überwachung und Sortierung in Form von ethnischem und Racial Profiling beteiligt. Eine entscheidende Rolle spielt hierbei häufig die Macht, bestimmte Gegenden als unsicher und damit als überwachungsbedürftig zu erklären. Ein Beispiel: Zu den wichtigsten Forderungen des Pashtun Tahafuz Movement (PTM), einer Bürger*innenrechtsbewegung aus Pakistans Stammesgebieten unter Bundesverwaltung (Federally Administered Tribal Areas, FATA), gehört die Neustrukturierung der sogenannten „Sicherheits-Checkpoints“: das PTM hat diese Checkpoints als Orte identifiziert, an denen der Staat jeden Tag aufs Neue willkürlich und diskriminierend Macht ausübt. Routinemäßig werden die paschtunischen Körper und Identitäten einer demütigenden und übergriffigen Kontroll- und Durchsuchungspraxis auf der Grundlage ethnischen und Racial Profilings ausgesetzt. Bedenklicherweise haben diese alltäglichen Überwachungserfahrungen mit der Einführung sogenannter Safe-Cities-Projekte im ganzen Land eine Vergegenständlichung erfahren – urbane Räume sind nun mit Überwachungskameras versehen; mit der Folge, dass Daten gesammelt und Diskriminierungsmuster reproduziert werden.[5] Mithilfe dieser Überwachungstechnologien im urbanen Raum werden nicht kategorisierbare Körper in Städten aus einer Geschlechter- und Klassenperspektive heraus aktiv als von der Norm abweichende und somit gefährliche Körper identifiziert. So wurden Obdachlose und Prostituierte gezwungen, die im Rahmen des Safe-Cities-Projekts geschaffenen Überwachungspunkte zu vermeiden oder ihre Aufenthaltsorte auf die von den Kameras nicht erfassten Bereiche zu beschränken. Sicherheit wird damit auf Kosten von Körpern definiert, die nicht der Norm entsprechen.

Die Überwachung des "Anderen"

Transgender-Körper fordern die streng binäre Logik des männlichen Blicks heraus und sind damit einer verstärkten Überwachung ausgesetzt. In Pakistan ist die Community der khwajasara (die ungefähr dem westlichen Verständnis von Transgender entspricht) in den letzten Jahren in das Blickfeld des Staates geraten.[6] Der Wendepunkt kam im Jahr 2009: Der Oberste Gerichtshof Pakistans entschied, dass Personen, die sich als khwajasara bezeichnen, einen maschinenlesbaren Personalausweis erhalten sollten und hierfür eine dritte Spalte bei der Geschlechterkategorie hinzuzufügen sei. Dieser Schritt hin zu mehr Rechten für diese Community rückte sie allerdings auch auf stärker formalisierte Art und Weise in den Überwachungsrahmen des Staates. Mit der Datafizierung von Transgender-Körpern wurden ihre Identitäten als „anderes“ in der dritten Spalte vergegenständlicht. Zwar bringt die Ausstellung des Personalausweises einige Vorteile – die Möglichkeit zu wählen, einen Reisepass zu beantragen, im öffentlichen Dienst zu arbeiten, eine Handy-SIM-Karte zu erhalten, finanzielle Unterstützung im Rahmen staatlicher Hilfsprogramme in Anspruch zu nehmen –, aber gleichzeitig sorgt sie dafür, dass sich die Menschen in Kategorien und Datenbanken wiederfinden, die nicht nur zur Überwachung ihrer Aktivitäten konstruiert wurden, sondern auch zur Beschränkung ihrer Identität, indem sie diese ihres bestehenden, fließenden Charakters berauben. In einer ganzen Reihe von Rechtssystemen geht die Anerkennung von Transgender-Identitäten bislang nicht mit der Eintragung ihrer Geschlechtsidentität in offiziellen Urkunden einher. Für das System sind Geschlechteridentitäten immer noch fest definierte Größen. Möchte eine pakistanische Transgender-Person ihr Geschlecht auf offiziellen Dokumenten ändern lassen, muss sie Auflagen erfüllen, die eine Anbindung an eine traditionelle Familienstruktur voraussetzen: beispielsweise ein männliches Familienmitglied mitbringen. Dies aber kann von den meisten Transgender-Personen aufgrund ihrer Geschlechtsidentität nicht erfüllt werden, da diese meist zu einer Trennung von der Familie führt.

Soziale Sortierung hat Tradition

Die soziale Sortierung sorgt dafür, dass Geschlecht auf bereits bestehende Kategorien und das streng binär gestaltete System beschränkt bleibt. Gleichzeitig brandmarkt sie unbekannte/nicht kategorisierbare Geschlechtsidentitäten als „von der Norm abweichend“ und „andersartig“. Diese Kontrollprozesse, die Unbekanntes als Andersartiges diffamiert, sind nicht rein technischer Natur, sondern gründen sich vielmehr auf eine Geschichte brutaler Unterdrückung. In seiner Publikation The Census, Social Structure and Objectification in South Asia beschreibt Bernard S. Cohn detailliert, dass die Volkszählung in der Kolonialzeit eine entscheidende Rolle beim „Prozess der Einordnung und Vergegenständlichung der indischen Kultur und Gesellschaft für die Inder“ spielte.[7] Begleitet wurde diese Sortierung von der Schaffung von „Kasten“ und „Stämmen“ im kolonialen Indien, wobei diese entweder als kriegerische Rassen oder kriminelle Stämme klassifiziert wurden. So machte der Criminal Tribes Act of 1871, das Gesetz zu kriminellen Stämmen aus dem Jahr 1871, nicht nur verschiedene Gruppen zu Kriminellen, sondern schuf auch die Grundlage für deren Erfassung, Überwachung und Kontrolle. Die Überwachung erfolgte dabei in Form einer Registrierung bei den auf Bezirksebene angesiedelten Richter*innen und in Form eines Passsystems, aufgrund dessen die Mitglieder*innen der benannten „kriminellen“ Kasten/Stämme einen Pass erwerben mussten, um ihr Dorf verlassen zu können.[8] Die Überwachung einzelner Personen mithilfe von Technik ist also nicht ganz neu. Vielmehr stellte die Beobachtung und Überwachung von „Abweichlern“ durch die systematische Erfassung „objektiver Daten“ schon immer ein mächtiges Instrument zur Ausübung von Kontrolle dar.

Frauen erleben immer Überwachung

Abschließend kann konstatiert werden, dass Überwachung die gelebte Erfahrung von Frauen sowohl innerhalb als auch außerhalb ihrer eigenen vier Wände bestimmt. Im südasiatischen Kontext beschreiben Shilpa Phadke, Sameera Khan und Shilpa Ranade in Why Loiter die Überwachung, die weibliche Körper in urbanen Räumen erfahren.[9] Weibliche und queere Körper sind im öffentlichen Raum der Überwachung ausgesetzt. Ihre Sichtbarkeit zwingt sie zu einer konstanten Rechtfertigung ihrer Gegenwart und erschwert es ihnen, diesen Raum als angenehmen Ort zu erfahren. Auch zuhause werden Frauen auf Geheiß der Familie überwacht; ihr Verhalten wird kontrolliert und Kontrolle über ihren Körper ausgeübt, um die Einhaltung der Geschlechternormen sicherzustellen. Die technischen Möglichkeiten und die Datafizierung des Ichs haben neue Orte erschlossen, an denen Überwachung durch die Kontrolle persönlicher Geräte und Online-Konten reproduziert wird, sowohl auf individueller Ebene durch die Familie als auch durch systematische Prozesse, die von Staat und privaten Unternehmen ausgehen.

 

[1] Lyon, S. 1, eigene Übersetzung aus dem Englischen. 

[2] Shoshana Zuboff, „Big other: surveillance capitalism and the prospects of an information civilization“, Journal of Information Technology, 2015, S. 75-89.

[3] Oscar Gandy, „The Panoptic Sort: A Political Economy of Personal Information. Critical Studies in Communication and in the Cultural Industries”, Westview Press, 1993.

[4] Simone Browne, „Dark Matters: On the Surveillance of Blackness”, Duke University Press Books, 2015, S. 18, 21.

[5] „Punjab Government’s Safe Cities Project: Safer City or Over Policing?”, Digital Rights Foundation, 2018, http://drive.google.com/file/d/1Uc3blQzQB-L7tbFt2IBewCIK3Fc535H2/view?t….

[6] Mit diesem Hinweis soll nicht die jahrzehntelange Überwachung, Kontrolle und Belästigung durch staatliche Akteure in informellen Räumen und die Aktivitäten der Community unterschlagen werden.

[7] Bernard S. Cohn, „The Census, Social Structure and Objectification in South Asia“, Anthropologist among the Historians, S. 250, eigene Übersetzung aus dem Englischen.

[8] Rachel J. Tolen, „Colonizing and Transforming the Criminal Tribesman: The Salvation Army in British India“, American Ethnologist, Band 18, Nr. 1, 1991, S. 107.

[9] Shilpa Phadke, Sameera Khan und Shilpa Ranade, „Why Loiter?: Women And Risk On Mumbai Streets“, Penguin Books, 2011.