Neuen Mut statt neue Tabus – Dilemmata der Genderpolitik in der EU überwinden

Warum funktionieren Feminismus und Gender als negative Projektionsflächen in der Gesellschaft​? Wie sollten progressive Kräfte in der EU mit dem rechtem Backlash umgehen?

Linke und sozialdemokratische Kräfte halten die wirkliche Gleichstellung von Frauen und Männern nur für erreichbar, wenn gleichzeitig die ökonomischen Ungleichheiten bekämpft werden. Der am 13. Februar 2019 vom EP verabschiedete „Backlash-Bericht” verzichtete aber auf eine solche Positionierung. Das kann man als eine Auswirkung des politischen Rechtsrucks interpretieren, der dazu führt, dass bei der Suche nach gemeinsamen Nennern Wesentliches weggelassen wird.

„Gegenbewegung gegen die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter in der EU“[1] heißt das eher symbolische Dokument, das die konkreten Formen des Widerstandes „gegen den fortschreitenden sozialen Wandel“, die „Rückschritte bei den erworbenen Rechten“ und die „ Aufrechterhaltung eines nicht egalitären Status quo“ im Bereich der Frauenrechte und Gleichstellung der Geschlechter beschreibt und Mitgliedstaaten oder die Kommission zu Änderungen aufruft.

Wenn man den dem Plenum vorgelegten Text[2] mit dem endgültigen vergleicht, fällt einem auf: Punkt 23 ist vom Parlament nicht akzeptiert worden, nämlich: „[Das Europäische Parlament] weist darauf hin, dass sich die langfristigen Auswirkungen von Sparmaßnahmen in vielen Mitgliedstaaten nachteilig auf die Stärkung der wirtschaftlichen Teilhabe von Frauen und auf die Verwirklichung der Gleichstellung der Geschlechter auswirken, wobei sich steigende Arbeitslosigkeit, Deregulierung des Arbeitsmarkts, zunehmende Unsicherheit und niedrige Löhne insbesondere auf Frauen auswirken, während Kürzungen bei den öffentlichen Dienstleistungen, insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, sowie bei den Sozialleistungen eine weitere Schwächung der Stellung von Frauen bewirken.“

Dieses Weglassen ist keineswegs ein kleiner notwendiger Kompromiss, sondern weist auf den Preis hin, der dafür gezahlt wird, dass man im Fall des Rechtsrucks den gemeinsamen Nenner mit allen progressiven Kräften[3] sucht. Gezahlt seitens derjenigen Parteien, die von der Überzeugung geleitet sind, Gleichstellung von Frauen und Männern wird nicht möglich sein, wenn wir die ökonomischen Ungleichheiten, die diese mit erhalten und befördern, nicht mit anpacken. Und gezahlt – von den betroffenen Teilen unserer Gesellschaften.

Die Mehrdeutigkeit von Gender und die politischen Konsequenzen

Das Konzept Gender stellt noch eine Extra Hürde dar. Ungarn hat die Istanbul Konvention[4] im März 2014 unterschrieben. Seitdem zögert die Regierung mit der Ratifizierung. Und seit zwei Jahren beruft sie sich auf die Argumentation, die seit Jahren aus anderen Ländern bekannt ist: sie ratifizieren sie nicht, weil sie das trojanische Pferd der sogenannten „Gender-Ideologie“ sei, und unzählige Gender-Identitäten propagiere. Die Konvention beinhaltet natürlich keine solche Gender-Definition, sondern sie beschreibt Gender als „die gesellschaftlich geprägten Rollen, Verhaltensweisen, Tätigkeiten und Merkmale, die eine bestimmte Gesellschaft als für Frauen und Männer angemessen ansieht”, sie stellt also Zweigeschlechtlichkeit nicht in Frage. Eine Europaparlaments-Abgeordnete hat aber vor kurzem nach einem Gespräch mit ungarischen Regierungsvertretern und Regierungsvertreterinnen ungewollt bestätigt, was für die Regierung als Ausrede für die Nicht-Ratifikation gilt. Auf die Einwände der Regierung, warum sie die Konvention nicht ratifiziere („es gibt nur zwei Geschlechter”) bekräftigte sie nicht die Gender-Definition der Konvention, sondern ihre eigene Position (‚es gibt aber Transgender und nicht-binäre Menschen‘).

Die Geschichte verdeutlicht zum einen, dass, wenn man den lokalen Kontext nicht kennt, gerade in einem zunehmend autoritären, auf Sündenböcke eingestimmten Regime in die Hände der Regierung spielen kann. Zum andern zeigt es, dass verschiedene progressive Forderungen und Akteure bzw. Akteurinnen verschiedene Gender-Definitionen benutzen.[5]

Was auch immer wir von nicht-binären Geschlechteridentitäten denken, eines kann sicher festgestellt werden: darüber gibt es keinen Konsens im progressiven Lager, geschweige denn in der Gesellschaft. Und wenn Progressive die Zweigeschlechtlichkeit eine rechte Ideologie nennen, wie es oft passiert, sollten sie sich nicht wundern, dass eine Kluft zwischen ihren Agenden und den Menschen der jeweiligen Gesellschaften besteht, die sie zu repräsentieren wünschen.

Rechte Gefahr, neue Tabus

Am 7. März 2019 fand im Europäischen Parlament eine Debatte statt, an der ich als Moderatorin und Panelistin teilnehmen durfte. Organisiert von der S&D Fraktion und den nahe stehenden Stiftungen, das Thema war der geschlechterpolitische Backlash.[6] Wir haben versucht, uns kritisch mit den Entwicklungen auseinanderzusetzen, die einiges vom Backlash erklären: die nicht eingelösten Versprechen der Transformationsprozesse, die West-Ost- und Klassenungleichheiten und die oftmals soziale Gender-Politik der rechten Parteien. Die wichtigste Kontroverse der Veranstaltung war, welche politischen Konsequenzen man aus dem rechten Backlash ziehen sollte. Die einen sagten, Selbstreflexion ist Grundvoraussetzung, die anderen: sie sei Kapitulation. Das sei ein Machtkampf und die Rechten wüssten, wie sie uns auseinander bringen, wir dürften nicht in ihre Falle gehen.

Es scheint aber: Progressive verwechseln rechte Parteien und ihre Wählerschaft. Allein schon aus taktischen Gründen ist es ungeschickt, letztere ständig zu brandmarken. Wenn man aber sogar die Ambition hat, zu verstehen, warum Feminismus und Gender als negative Projektionsflächen in der Gesellschaft funktionieren, dann muss man sich kritische Fragen stellen und Konflikte nicht scheuen. Die rechte Gefahr schafft gerade – statt Innovation und Erneuerung – neue Tabus und selbstmörderische Status Quo-Bewahrung.   

Wir sollten uns von den Rechten nicht in eine Ecke drängen lassen. Dafür plädierte aber bei der erwähnten Veranstaltung die Vertreterin der International Planned Parenthood Federation: „Interne Debatten können wir uns jetzt nicht leisten, wir müssen mit den Rechten kämpfen.“

Wenn wir außer Acht lassen, dass die Gender-Debatten innerhalb eines Machtgefüges ablaufen und mit politischen Intentionen verknüpft sind, könnten wir tatsächlich nützliche Idioten der Rechten werden. Wir haben aber die Verantwortung, kritisch auf unsere eigene Agenda zu schauen. Diese verpassen wir, wenn wir die aktuellen Hinterfragungen von Gleichstellungspolitik nur auf einen Machtkampf beschränken und denken, dass sich die Nachfrage für diese Parteien und Bewegungen in der Gesellschaft aus mittelalterlichen Einstellungen oder aus Gehirnwäsche durch Fake News komplett ableiten lässt. Wir brauchen dringend eine Alternative, die über die übliche und für weite Teile der Gesellschaft befremdende, nur die Eliten mobilisierende Dichotomie Regressive vs. Progressive hinausgeht.

Wir werden uns deshalb in den nächsten fünf Jahren die Debatten im progressiven Lager nicht ersparen können. Was ich dennoch befürchte: ein Erstarken der rechtspopulistischen Parteien im Europaparlament könnte eher bewirken, dass die gleichstellungspolitische Agenda aus der Defensive geführt wird. Es wird eventuell weiterhin nur den kleinsten gemeinsamen Nenner geben. Damit riskieren wir, dass wir bei Themen bleiben, die keine Interessen verletzen und dass wir Themen als Speerspitze des Fortschrittlichen definieren, die der Entfremdung zwischen den Progressiven und vielen (nur vermeintlich reaktionären) Wählern immer weiter in die Hände spielt. Und das wird die Legitimität des Feminismus-Projektes in unseren Gesellschaften sicher nicht stärken.


[3] Gemeint sind die liberalen, grünen, sozialdemokratischen und linken Parteien und soziale Bewegungen

[4] Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt