Millionen Eltern, überwiegend Mütter, wurden über Nacht zu Heimlehrkräften. Auch viele Väter arbeiten von zu Hause aus, sie sind aber weniger engagiert in der Care-Arbeit. Wie eine Pandemie zur Retraditionalisierung führt.
Ein Mann sitzt auf dem Holzfußboden, vor ihm liegt der aufgeklappte Laptop. Mit dem rechten Arm bedient er die Tastatur, im linken hält er einen Säugling. Direkt neben ihm, an die Bettkante gelehnt, hockt ein weiteres, etwas älteres Kleinkind. Büroutensilien wie Papier, Terminkalender, Stift und Smartphone verteilen sich auf dem Parkett - und komplettieren das Ensemble eines überforderten Homeofficers.
So stellt sich das Magazin Focus in Corona-Tagen “das Büro der Zukunft” vor. In der Vergangenheit waren auf abschreckenden Fotos dieser Machart stets Frauen abgebildet. Sie sollten die Probleme veranschaulichen, die Mütter mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, mit der Vermischung von Erwerbs- und Privatleben hatten. Jetzt macht erstmals eine nennenswerte Zahl von Vätern ähnliche Erfahrungen - weil ihre Betriebe sie nach Hause geschickt haben.
Heimarbeit, vor Jahrhunderten mit der Armut aufständiger schlesischer Weber oder heute mit prekär beschäftigten Näherinnen in Bangladesh assoziiert, ist plötzlich geadelt. Das von Unternehmen lange abgeblockte Konzept gilt als Ultima Ratio in Krisenzeiten, als einzige Möglichkeit, Teile der Wirtschaft angesichts von Kontaktverboten überhaupt am Laufen zu halten. So “neuartig” das Virus, so neuartig ist angeblich auch die Arbeitsform. Zumindest in der Wahrnehmung von konservativem Management oder traditioneller Betriebsleitungen, die bisher dem Präsenzfetisch anhingen. Dieser steht nun im Verdacht, die Ausbreitung einer Seuche zu beschleunigen.
Lediglich zwölf Prozent der Beschäftigten arbeiteten vor Ausbruch der Pandemie zeitweise von zu Hause aus, so das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung. Innerhalb weniger Wochen ist diese Zahl auf rund 40 Prozent gestiegen, bei der Homeoffice-Nutzung liegt Deutschland aber immer noch unter dem europäischen Durchschnitt. Als der zuständige Bundesminister Hubertus Heil im letzten Jahr das Recht darauf verbindlich garantieren wollte, war die Aufregung groß. Bei Unternehmensverbänden wie auch bei der Koalitionspartnerin CDU/CSU stieß der SPD-Politiker auf heftigen Protest. Industrielobbyverbände warnen vor einer zu großen Zeitsouveränität der Beschäftigten; Vorgesetzte glauben, dass sie ihre Belegschaft nur im betrieblichen Umfeld effektiv kontrollieren könnten. Und auch im Gewerkschaftslager sind manche skeptisch, wie eine Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung offenbarte.
Unter der Fragestellung “Weniger Arbeit, mehr Freizeit?” diskutierte Yvonne Lott 2019 die Chancen und Risiken im Homeoffice. Die im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) tätige Forscherin thematisierte in zweigeschlechtlicher Betrachtungsweise, “wofür Mütter und Väter flexible Arbeitsarrangements nutzen”. Sie kam dabei, was das Verhalten von Männern angeht, zu wenig schmeichelhaften Erkenntnissen. Ihr wichtigstes Fazit: Die berufliche Tätigkeit von zu Hause aus verstärke alte Rollenmuster, sie gehe zu Lasten von Frauen. Der WSI-Studie zufolge verwenden männliche Heimarbeiter die selbstbestimmte Zeit nicht für private Sorgeaufgaben, sondern für betriebliche Überstunden. Und auf keinen Fall wollen sie so arbeiten wie auf dem Focus-Titelbild.
Mit dem Laptop am Wohnzimmertisch oder in der Küche zu sitzen, umgeben von Kleinkindern oder von der Schule ausgesperrten Jugendlichen, war auch für Frauen nie attraktiv. Sondern eine Notlösung: Mütter arrangierten sich damit, weil Vorgesetzte ihre männlichen Partner für unabkömmlich erklärten. Die ablehnende Haltung der Unternehmensleitung passte manchen Männern durchaus ins persönliche Lebenskonzept. Das Büro bildete für sie einen Fluchtpunkt, hier waren sie unbehelligt von privaten Verpflichtungen. Die Anwesenheit der Familie beschränkte sich nach altbackenem Klischee auf das Foto der Liebsten auf dem Schreibtisch.
Die gute alte Familie soll es richten
Sie ist “systemrelevante” Krankenpflegerin und wird daher außer Haus dringend gebraucht; er ist Angestellter im öffentlichen Dienst und derzeit im Homeoffice. Jetzt sitzen die Kleinen, in beengten Räumen, direkt neben Papa, während dieser berufliche Gespräche führt oder in einer Videositzung konferiert. Ähnlich wie nach der Einführung der Elternzeit als Lohnersatzleistung macht ein Teil der Väter dabei durchaus neue und inspirierende Erfahrungen. Männer merken zum Beispiel, wie viel Zeit und Nerven das langwierige und aufreibende Pendeln zum Arbeitsplatz schon immer gekostet hat. Sie erfahren hautnah, wie wichtig die Leistung der Fachkräfte in den geschlossenen Kitas für das Funktionieren ihres eigenen Familienmodells ist. Und nicht für alle Väter ist der engere Kontakt zu ihren Kindern eine Belastung, nicht alle machen Überstunden. Männer übernehmen einen Teil der Betreuung und unterstützen beim Homeschooling, sie erleben aber auch die Nachteile der Heimarbeit. Beruflich zu telefonieren, während im akustischen Hintergrund ein Baby schreit oder ein Kleinkind dazwischenredet, wirkt nicht sonderlich professionell - auch wenn es in Krisenzeiten meist toleriert wird.
Homeoffice ist ein Privileg eher gut situierter Wissensarbeit, sie ist nur in “digitalisierten” Berufen möglich. Beschäftigte in der Automobilindustrie, im Transportgewerbe, in der Pflege oder im Einzelhandel können ihre Schicht nicht einfach nach Hause verlegen. Die Kombination von Beruf und Privatem birgt, darauf haben die Gewerkschaften stets hingewiesen, auch Gefahren: unkontrollierte Mehrarbeit, Verstöße gegen die Arbeitszeitordnung und fehlender Gesundheitsschutz, ständige Erreichbarkeit im Standby-Modus rund um die Uhr. Was also folgt aus der Ausnahmesituation Corona für die künftige Organisation der Erwerbswelt? Was wird sich langfristig ändern in der Zeit “danach”?
Eine wichtige neue Erkenntnis lautet: Homeoffice geht also! Und in ganz vielen Berufen! Die männlichen Bedenkenträger sind auf dem Rückzug, die von oben verordnete Präsenzpflicht erodiert. So manche quälende Sitzung lässt sich ziemlich effektiv per Videomeeting erledigen. Wenn Beschäftigte weniger pendeln und seltener Geschäftsreisen machen müssen, ist das auch klimapolitisch sinnvoll. Kein Zufall, dass Minister Heil seine Initiative wieder auf die Tagesordnung gesetzt hat: Für Herbst 2020 kündigte er einen Gesetzentwurf zum Recht auf Heimarbeit an.
Unter Gender-Aspekten fällt die Bilanz zwiespältig aus. Zwar kann Homeoffice trotz aller Probleme die Möglichkeiten einer guten Balance von Beruf und Privatleben erweitern, für alle Geschlechter. Zugleich aber besteht die Gefahr eines keineswegs schleichenden, sondern ganz abrupten Rückfalls in alte Rollenmuster. Weil die staatlichen Betreuungsangebote über Monate geschlossen sind, soll es die gute alte Kleinfamilie richten. Genauer gesagt: die ‚Hausfrau‘. Denn wie in der Vergangenheit sind es vorwiegend die Mütter, die zu Hause die Care-Arbeit leisten - und jetzt zusätzlich noch Lehrkräfte ersetzen und ihre Kinder unterrichten sollen.
Thomas Gesterkamp ist Journalist und Autor in Köln. In Büchern wie “Hauptsache Arbeit?“ und “Väter zwischen Kind und Karriere” wirbt er für ein stärkeres Engagement von Männern in der Familie.