Feminismus für die Einwanderungsgesellschaft

Welche feministischen Ansätze und Politiken werden der Tatsache gerecht, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist? Wie können sie dabei helfen, dass Pluralität und Mehrfachzugehörigkeiten als das behandelt werden, was sie sind: als normal? Welche politischen Strategien sind angezeigt, um diese Normalität im Kontext der kommenden Bundestagswahl und darüber hinaus zum Asset zu machen?

Zeitungstitel "Immigration"

Historischer Hintergrund und gegenwärtiger Stand der „Leitkultur“-Debatte

Deutschland ist seit 20 Jahren offiziell als Einwanderungsland anerkannt. Dieser Anerkennung ging ein jahrzehntelanger politischer Kampf voraus und schlussendlich sorgte die von der ehemaligen CDU-Ministerin Jutta Süßmuth geführte Kommission 2001 für das so hart umkämpfte OK. All dies innerhalb einer Partei, die sich unter Helmuth Kohl in den 1980er Jahren und auch danach vehement gegen kulturelle Vielfalt als deutschen Status Quo gewehrt hatte – und dies bis heute vielfach tut.

Unverdrossen höhlen Konservative und Rechtsextreme, die grundlegend demokratische Idee und Forderung aus, Vielfalt als Grundprinzip der Demokratie anzuerkennen und zu garantieren. Sie halten eine Homogenitätsphantasie oder Zugehörigkeit zu dominanten Bevölkerungsgruppen als Voraussetzung für Teilhabe hoch und sehen sogenannte Zugewanderte in einer kontinuierlichen Bringschuld, sich in eine vermeintlich überlegende „deutsche“ Kultur zu integrieren. Die „deutsche Leitkultur“ ist das Synonym für diese Bringschuld, die bis heute auch an die Kinder und Enkel von Menschen mit Migrationsgeschichte herangetragen wird.

Zuletzt, nämlich 2019, zog Alexander Dobrindt (CSU) die „deutsche Leitkultur“ erneut aus dem Hut und flaggte hier offen in Richtung AfD, welche diese in ihrem Parteiprogramm stehen hat. Behauptet wird hier ein unverbrüchlicher Bund zwischen Deutschsein und Christentum, im Falle Dobrindts auch einer jüdisch-christlichen Verbindung des Abendlands. Letzteres leugnet die historische Feindseligkeit des Christentums gegenüber dem Judentum ebenso wie die Shoa und der anhaltende Antisemitismus in Deutschland ignoriert werden. Entsprechend scharf fiel die Kritik von progressiver Seite aus. Insbesondere der Lyriker und Essayist Max Czollek, der mit seinen Essays „Desintegriert Euch!“ (2018) und „Gegenwartsbewältigung“ (2020) jüngst für breite Aufmerksamkeit sorgte, wendet sich gegen diese Instrumentalisierung von Juden und Jüdinnen zugunsten eines „Gedächtnistheaters“, dessen vorrangiges Ziel die Entlastung der dominanten Kultur in Sachen Antisemitismus und Islamophobie sei. Aber auch der konservative Historiker Michael Wolfssohn bezeichnete den Begriff des „christlichen Abendlandes“ in der Süddeutschen Zeitung 2018 als „geistigen Müll.“ Dessen ungeachtet lässt sich mit solch falschen Identitätsbehauptungen zum weißen, christlichen Deutschsein verlässlich eine konservative bis rechtsextreme Wählerschaft ansprechen und bei Wahlen mobilisieren. Das beweist auch die Agenda des CDU-Politikers Friedrich Merz, der die Nachfolge von Angela Merkel bei den Bundestagswahlen 2021 anstrebt. Er hatte 2000 den Begriff der „deutschen Leitkultur“ als 'Gegengift' zu Multikulturalismus im Bundestag profiliert und kultiviert ihn weiter.

Die Überlegenheitsfantasien weißer Deutscher

Jedoch nicht nur im parteipolitischen Raum, auch bei Sicherheitsbehörden und Justiz hat die offensichtliche, strukturelle Herabwürdigung von Menschen aufgrund von tatsächlicher oder zugeschriebener kultureller Mehrfachzugehörigkeit und die fehlende konsequente strafrechtliche Verfolgung von Gewalt System. Auch hier werden Menschen, mit zum Teil frei erfundenen und regional unsinnigen Benennungen wie etwa „Nafri“, als nicht zugehörig abgestempelt. Damit wird ihnen der Schutz des Rechtsstaates vorenthalten bzw. sie werden systematisch diskriminiert. Der NSU-Komplex für diese, zum Teil tödliche „Veranderung“ (Andrea Maihofer) von Menschen durch die Dominanzkultur, ist ein Beispiel dafür, ebenso wie die von der Mehrheitsgesellschaft schon fast wieder vergessenen Morde in Dresden und Hanau in den vergangenen beiden Jahren. Natürlich muss auch die Weigerung von Innenminister Seehofer erwähnt werden, eine wissenschaftliche Studie in Auftrag zu geben, welche Rassismus in der Polizei erforscht. Die Weigerung, belastbare Daten zu erheben, ist ein erprobtes Mittel, um dem offensichtlichen Handlungsbedarf nicht nachzukommen. Es lässt sich dann trefflich weiterdebattieren, ob es Rassismus überhaupt gäbe.

Aus der Gleichstellungspolitik ist bekannt, dass etwa der Gleichstellungsbericht, mit dem von ihm bereitgestellten Daten, wichtige Voraussetzung für die Versachlichung der Debatte ist – an deren Ende immer auch stehen sollte, die Regierung daran zu erinnern, ihrem Verfassungsauftrag nachzukommen – nämlich Diskriminierung zu überwinden. Die Liste des strukturellen Rassismus, der sich mit Sexismus, Klassismus und Ableismus mühelos verbindet, lässt sich fortsetzen in den Bereichen Bildung, medizinischer Versorgung, Care-Arbeit und und und...  Dabei ist wichtig zu verstehen, dass Diskriminierung beabsichtigt sein kann, aber noch häufiger Ergebnis gesellschaftlicher Machtverhältnisse ist, daher auch strukturell angegangen werden muss. Genauso wichtig ist es, die innergesellschaftliche Funktion zu verstehen, Menschen ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit abzusprechen, obwohl sie dauerhaft in Deutschland leben oder sogar hier geboren sind. Ziel ist es, die eigene Privilegierung als weißer Deutscher abzusichern. Auch bei der patriarchalen Setzung von Frauen* als das Andere geht darum, das männlich gelesene Geschlecht als Norm zu setzen und alles davon Abweichende als minderwertig abzuqualifizieren. Ein vergleichbarer Mechanismus ist im Gange, wenn Menschen die Zugehörigkeit aufgrund von Aussehen oder Migrationsgeschichte abgesprochen wird. Andrea Maihofer erklärt daher in ihrem Aufsatz „Hegemoniale Selbstaffirmierung und (2014):“Selbstaffirmierung und Veranderung stehen nach ‚innen‘ wie nach ‚außen‘ in einem konstitutiven und zugleich dialektischen Zusammenhang“.

Und trotzdem bewegt sich etwas. Denn marginalisierte Gruppen haben sich über die Jahrzehnte Strukturen und Organisationen erkämpft, die unüberhörbar die strukturelle Diskriminierung sichtbar machen und kritisieren. Die Auseinandersetzung zwischen Ferda Ataman, Publizistin und Sprecherin der Neuen Deutschen Organisationen, und Innenminister Seehofer ist dafür eines von vielen Beispielen. Seehofer hatte seine Teilnahme am Integrationsgipfel 2018 abgesagt, sollte Ferda Ataman eingeladen werden. Diese hatte in einem Spiegel-Kommentar darauf hingewiesen, dass die u.a. von Seehofer geführte Debatte um Heimat auch im Zusammenhang mit der Blut- Boden-Ideologie der Nationalsozialist*innen zu sehen sei. Seehofer hatte zuvor erklärt, dass das von ihm geleitete Heimatministerium eine „Politik der Vielfalt“ verfolgen werde, jedoch der „Islam nicht zu Deutschland“ gehöre. Der von Angela Merkel geleitete Gipfel fand ohne den CSU-Politiker statt. Auch beim diesjährigen Integrationsgipfel fehlte Seehofer unentschuldigt.

Solche Gesten zeigen, wie hoch der symbolische Wert von Migrationsdebatten für eine weiße, patriarchale Vorherrschaft ist. Auch im Feld der Kultur, jüngst etwa bei der Literatur, drängen Romane von sogenannten Gastarbeiter*innen-Kindern auf die Bestseller-Listen, etwa von Mely Kiyak mit „Frausein“ (2020) oder Deniz Ohde mit „Streulicht“ (2020), um nur ganz wenige zu nennen. Auch das ist, wie etwa der Feuilletonist Daniel Graf in seinem Essay „Die Klassenfrage ist zurück in der Literatur“ (2020) ausführt, ein Zeichen für eine gelungene Rebellion gegen die Marginalisierung.

Es geht um Macht – oder: Es geht um die Umverteilung

Was also kann feministisches Wissen beitragen, damit Stigmatisierung von Menschen mit sogenannter Migrationsgeschichte, genauso wie jede Form von unterstellter Fremdartigkeit als Diskriminierung in der Mehrheitsgesellschaft anerkannt und zurückgewiesen wird? Welche Ansätze aus Aktivismus, Wissenschaft, Kultur und Politik sind besonders wertvoll, wenn es darum geht, Vereinheitlichungsbestrebungen als gewaltvoll zu erkennen und stattdessen für die plurale Demokratie zu streiten? Welche Perspektiven erlauben, Diskriminierungserfahrungen als wertvolles Wissen zur Überwindung von Ungerechtigkeit und Unrecht zu behandeln?

Das sind zentrale Fragen, die das GWI dazu bewogen haben, einen Schwerpunkt auf „Feminismus für die Einwanderungsgesellschaft“ zu legen. Es geht also weniger darum, Migrationsforschung und politische Praxen im Zusammenhang mit Einwanderungsfragen feministisch zu wenden, als vielmehr darum, die Anerkennung von Pluralität zu konsolidieren und einen Beitrag zur Überwindung von struktureller Benachteiligung zu leisten. Ziel ist es, dass das Grundrecht auf gleiche Teilhabe für alle hier Lebenden endlich systematisch umgesetzt wird. Das entspricht Artikel 3 des Grundgesetzes: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

Grundsätzlich ist es zentral für die Arbeit des GWI, Wissensstränge aus unterschiedlichen Bereichen miteinander in Dialog zu bringen. Uns interessieren damit insbesondere die Verbindungen von politischem Aktivismus, Wissenschaft, Medien, Kultur und Politik – stets aus intersektionaler Perspektive. Kurzum: Es geht um nichts weniger, als die bislang herrschende Norm zu verabschieden und einer inklusiven Normalität, die längst gelebt wird, den gesellschaftlich angemessenen Raum zu verschaffen. Das bedeutet auch, Privilegien zu erkennen und zu teilen und gleichzeitig die Verwobenheiten von Privilegien und Diskriminierungen nicht aus dem Blick zu verlieren.

Lernen von den Rändern

Die Abwehr von Homogenitätsphantasien zielt darauf, sich gelebten Wirklichkeiten in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit anzunähern – mit dem Ziel, Gewaltverhältnisse zu überwinden. Dafür braucht es kollektive Strategien der Enttabuisierung, etwa in Hinsicht auf das Deutschland weitgehend übersehene koloniale Erbe. Es braucht auch ein Lernen von den Rändern her, von an den Rand gedrängte Menschen und von dem so marginalisierten Wissen. Das von der Soziologin Naika Foroutan angesprochene Einklagen von Zugehörigkeit von als „fremd“ stigmatisierten Bevölkerungsgruppen macht seit Jahrzehnten auch in Deutschland auf diese fundamentale Wissens- und Gedächtnislücke aufmerksam. Es nimmt sie nicht länger hin, sondern füllt diese Leerstellen mit Erfahrungen von Armut, von „Unterschichtung“, die von der dominanten Politik und Gesellschaft mit dem „Migrationshintergrund“ legitimiert wird, kurz: Gastarbeiter*innen und ihre Kinder und deren Kinder hätten nichts Besseres verdient, denn sie gehörten nicht zu „uns.“ Ein inklusives „Wir“ jedoch entwickelt gemeinsam mit vielen anderen eine Gesellschaft, die Demokratie, Gerechtigkeit und Teilhabe für alle nicht nur behauptet, sondern lebt, fühlt und weiterentwickelt. Das alles ist in zahllosen Nischen längst der Fall – wird jedoch von Entscheidenden, von Meinungsmachenden sowie den meisten Institutionen weitgehend ignoriert.

Methodische Überlegungen

Zunächst einmal scheint es mir sinnvoll, mit dem Konzept der „postmigrantischen Gesellschaft“ zu arbeiten, wie es u.a. von der Sozialwissenschaftlerin und Migrationsforscherin Naika Foroutan 2019 formuliert worden ist: „Der Kernkonflikt in postmigrantischen Gesellschaften“, schreibt sie in ihrem gleichnamigen Buch, „dreht sich nur an der Oberfläche um Migration – tatsächlich ist der Konflikt jedoch angetrieben von der Aushandlung und Anerkennung von Gleichheit als zentralem Versprechen der modernen Demokratien. Die Omnipräsenz des Migrationsdiskurses verdeckt diesen zentralen Aushandlungskonflikt. Um die Probleme zu erkennen, die derzeit Gesellschaften polarisieren, müssen wir hinter die Migrationsfrage schauen, also postmigrantisch denken“ (Foroutan 2019, 14). Die Debatten um Migration haben damit auch eine Deck- und Ablenkungsfunktion. Gleichzeitig sichern sie die Privilegien weißer Deutscher ab, in dem sie künstlich und ohne Beleg eine Trennung zwischen Einheimischen und Fremden behaupten.

Von feministischer Theorie und Praxis lässt sich nun lernen, dass gesellschaftliche Machtfragen fast immer auch mit geschlechtlichen Zuschreibungen abgesichert werden. In der Fachliteratur spricht man dann von „Naturalisierung.“ Gesellschaftliche Hierarchien werden etwa über die Behauptung, ein bestimmtes Verhalten läge in der Natur von Frauen und Männern, der kritischen Diskussion entzogen. Auch die in diesem Zusammenhang vielfach herangezogene natürlicher Graben im Denken und Fühlen von Frauen und Männern per se kann als Deckdiskurs gelesen werden, der zur Legitimation von patriarchalen Machtverhältnissen dient. Die entscheidende Frage heute scheint mir daher zu sein: Welche Vergeschlechtlichungen verhindern die Anerkennung dessen, das Migration und Vielfalt schon immer Teil eines selbstbestimmten Lebens waren und damit zur Geschichte und Gegenwart auch der deutschen Gesellschaft gehören? Was sind die Voraussetzungen dafür, dass ein „doing difference“, wie Helma Lutz und Anna Amerlina in Gender, Migration, Transnationalisierung. Eine intersektionale Einführung es in Anlehnung an Judith Butlers „doing gender“ formulieren, selbstverständlicher Teil von feministischen Selbstverständnissen wird und mittel- und langfristig auch von der Mehrheitsgesellschaft als notwendig anerkannt und praktiziert wird? Welche Vorbehalte, Stereotypen und Missverständnisse müssen hierfür aus dem Weg geräumt werden?

Klarerweise bietet der intersektionale feministische Ansatz, der vor rund 30 Jahren in der Schwarzen US-amerikanischen feministischen Arbeiter*innen-Bewegung entwickelt und von der Juristin Kimberlé Crenshaw seit 30 Jahren profiliert wird, hier unverzichtbares Rüstzeug. Er nimmt Diskriminierungen in ihren Überlappungen ernst - genauso wie Mehrfachzugehörigkeiten. Damit trägt er einer Realität Rechnung, die sich nicht allein an der Machtachse Mann versus Frau orientiert, sondern Machtkomplexe in ihren Widersprüchlichkeiten und Dynamiken analysiert und beschreibbar macht. Gleichzeitig zählt das Teilen von Privilegien, also die Deprivilegierung von Nutznießer*innen struktureller Benachteiligung, zu den zentralen Forderungen marginalisierter Menschen und ist Voraussetzung für Bündnisfähigkeit. Auch damit ist feministische Intersektionalität unverzichtbarer Bestandteil von Politiken und Analysen für die feministische Einwanderungsgesellschaft.

Flucht und Asyl

Auch der nicht enden wollende Streit um Flucht und Asyl gehört in den Komplex „Feminismus für die Einwanderungsgesellschaft.“ Zwischen den Debatten und Politiken um Migration und Flucht gibt es vielfache Verbindungen und Überschneidungen. Trotzdem gilt es klar zwischen Flucht und Migration zu differenzieren, da die Lebenswirklichkeiten von Menschen mit Fluchtgeschichten weder identisch noch vergleichbar mit Migrationsgeschichten sind. Wer flieht und um Asyl ansuchen muss, befindet sich in einer Lebenssituation, die keine Wahl mehr lässt. Migration basiert demgegenüber auf einem deutlich höheren Maß an Selbstbestimmung. Gleichzeitig hat die Frage von Zugehörigkeit häufig gar nichts mehr mit der Frage etwaiger individueller Zuwanderung zu tun. Meist geht es hier um ein gesellschaftliches Selbstverständnis, welches, ohne weitere Not und historische Kenntnis, an Ideologeme des Nationalismus und Nationalsozialismus anknüpft und Menschen, die nicht als weiß wahrgenommen werden, als minderwertig disqualifiziert. Wie der Historiker Patrice G. Poutrus ausführt: „Der Komplex Flüchtlings- und Asylpolitik war [...] von Beginn an mit fundamentalen Fragen nach den politisch-moralischen Grundlagen der deutschen Gesellschaft verbunden. Für die einen stellte eine offene Flüchtlings- und Asylpolitik die Garantie für eine grundsätzliche Abkehr von der rassistisch geprägten Vergangenheit, insbesondere vom Nationalsozialismus da. Für die anderen war eine solche Position undenkbar, weil sie einen Bruch mit dem Paradigma des ,Nichteinwanderungslandes‘ bedeutete und als Aufgabe der historischen, kulturellen und ethnischen Identität der Deutschen verstanden wurde“ (Poutrus, 2019, S. 13.). Leider wird der Migrationsdiskurs bislang viel zu selten als Deckdiskurs für die Aushandlung von moralischen Grundlagen gesehen, anders formuliert: für die Frage, für wen Menschenrechte gelten und für wen nicht. Entsprechend bleibt das Phänomen Flucht, obgleich sie aus wirtschaftlicher Sicht zu vernachlässigen ist, eines der zentralen Felder, in denen das demokratische Selbstverständnis ausgehandelt wird. Zudem taugt es den Konservativen verlässlich als Wahlkampfthema, indessen die vermeintlich Progressiven, wie etwa die Grünen, sich oft wegducken und das Thema nicht besetzen. Dabei wäre es entscheidend aufzudecken, dass es bei Flucht und Asyl nicht um (ökonomische) Machbarkeitsfragen geht, sondern nach wie vor um moralische Grundlagen. Das verbindet das Thema Flucht mit der Migration – und dieses wiederum mit Feminismus bzw. einer gerechten demokratischen Gesellschaft. Auch hier steht die Aushandlung um Vielfältigkeit und Differenz und damit um Teilhabe und Privileg im Zentrum.

Halten wir abschließend fest: Im Kern geht es bei den Debatten um Migration, Integration, Flucht und Asyl um Macht beziehungsweise Umverteilung. Nicht also die Marginalisierten verhindern strukturell ein gutes Zusammenleben, sondern umgekehrt, die qua zugeschriebener Zugehörigkeit in Deutschland Privilegierten, wehren sich gegen das gerechte Teilen von Ressourcen, Chancen und Risiken. Es macht also Sinn, den Blick auf sie zu richten und zu überlegen, wie hier Lernprozesse in Gang gesetzt werden können.

 

Literatur

Czollek, Max: Desintegriert Euch! Essay, Hanser 2018.

Czollek, Max: Gegenwartsbewältigung, Essay, Hanser 2020.

Foroutan, Naika: Die postmigrantische Gesellschaft, transcript 2019.

Helma Lutz/ Anna Amelina: Gender, Migration, Transnationalisierung. Eine intersektionale Einführung, transcript 2017.

Maihofer, Andrea:„Hegemoniale Selbstaffirmierung“ 2014.

Kiyak, Mely: Frausein, Hanser 2020.

Ohde, Deniz: Streulicht, Roman, Suhrkamp 2020.

Poutrus, G. Patrice: Umkämpftes Asyl. Vom Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart. Ch. Links-Verlag 2019.