Chancengleichheit für alle

Interview

Awet Tesfaiesus ist seit 2016 stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen im Kasseler Rathaus und kandidiert in diesem Jahr erstmals für die Bundestagswahlen. Im Interview spricht sie über Empowerment, ihr Herzensthema Chancengleichheit für alle und erklärt, warum mehr marginalisierte Perspektiven in der Politik Gehör finden müssen.

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Awet Tesfaiesus ist Rechtsanwältin und seit 2009 Parteimitglied von BÜNDNIS 90/Die Grünen

Awet Tesfaiesus wurde in Eritrea geboren und kam als Kind nach Deutschland. Sie studierte Jura in Heidelberg und ist seit 2007 selbstständige Rechtsanwältin in Kassel. 2009 trat sie in die Partei Bündnis 90/Die Grünen ein. Seit 2016 ist sie stellv. Fraktionsvorsitzende, Sprecherin für Antidiskriminierung und Vorsitzende im Ausschuss für Chancen, Gleichstellung, Integration und Eingaben der Grünen Rathausfraktion in Kassel. Sie kandidiert im Wahlkreis Werra-Meißner-Kreis / Hersfeld-Rotenburg erstmals für die Bundestagswahlen 2021.

Vjollca Hajdari: Du bist nicht nur Politikerin, sondern auch Juristin. Was hat dich motiviert, diese beiden Richtungen einzuschlagen?

Awet Tesfaiesus: Nach dem Abitur wusste ich, dass ich einen Beruf ergreifen wollte, bei dem ich die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Besseren verändern kann. Ich hatte den Eindruck, dass die Gesetze eines Landes viel über die gesellschaftlichen Verhältnisse aussagen können. Ein Tätigkeitsfeld, das ich mir gut vorstellen konnte, war der Einsatz für Geflüchtete. Auch aus diesem Grund erschien mir Jura die richtige Entscheidung zu sein.

Sicherlich hat auch meine Bewunderung für meinen Großvater, der in politisch schwierigen Zeiten als Richter tätig war, eine Rolle gespielt. Im Grunde bin ich aus der gleichen Motivation heraus in die Politik gegangen. Ich bin bei den Grünen eingetreten, weil ich die europäische Asylpolitik und die vielen Toten im Mittelmeer nicht ertragen habe. Und ich habe mich entschieden für den Bundestag zu kandidieren, weil ich den seit Jahren andauernden Rechtsruck in unserem Land bis hin zu den rassistischen Anschlägen von Hanau nicht ertragen will.

Denkst Du, dass Du gerade als Schwarze Frau mit Deiner Berufswahl und mit Deinem politischen Engagement etwas bewegt hast oder künftig bewegen wirst?

Ja, davon bin ich überzeugt. Als Rechtsanwältin, die selbst Fluchterfahrung hat und viele Mandant*innen muttersprachlich beraten konnte, war es mir oft möglich, einen anderen Zugang zu den Menschen zu finden.

Dazu bin ich eine Schwarze Frau in einem Beruf, der von konservativen, weißen Männern dominiert wird. Ich möchte jüngere Menschen durch meine Tätigkeit dazu ermutigen, sich bei ihrer Berufswahl, aber auch bei der Frage, ob sie sich politisch engagieren wollen, nicht davon abschrecken zu lassen, dass sie vielleicht die einzigen Schwarzen in einem Bereich sind.

Und dann sehe ich, was wir als Fraktion kommunal bereits bewegen konnten. Wir haben einen Ausschuss für Chancengleichheit eingerichtet, eine kommunale Antidiskriminierungsstelle ist bereits in Arbeit und danach soll ein Amt für Chancengleichheit folgen.

Wie bist du zur Kommunalpolitik gekommen?

Als klar wurde, dass die AfD wohl in die Kasseler Stadtverordnetenversammlung einziehen würde, fand ich, dass es höchste Zeit war, dass unser Stadtparlament eine Schwarze Frau als Mitglied hat. Bis dahin war ich mehrere Jahre im Parteivorstand des Kreisverbandes.

Was sind deine Schwerpunkte?

Das Thema, was mich seit jeher bewegt, ist Chancengleichheit für alle. Schon als Kind wurde mir bewusst, dass ich als Mädchen anders behandelt wurde als Jungs. Das fand ich sehr ungerecht. Später kamen wir als Geflüchtete nach Deutschland und ich erkannte, dass es damit weitere Schubladen gab, in die ich hineingesteckt wurde. Wohl deshalb habe ich beruflich den Schwerpunkt Ausländer- und Asylrecht gewählt.

Hat sich seit deiner Kindheit in Bezug auf Chancengleichheit etwas in der Gesellschaft verändert?

Als Feministin muss ich leider sagen, dass ich während der Pandemie den Eindruck gewonnen habe, dass sich absolut nicht genug verändert hat.

Als Schwarze Frau allerdings muss ich sagen, dass BPOCs viel vernetzter und sichtbarer sind, als in meiner Kindheit. Es gibt einige – wenn auch wenige – Schwarze Menschen und POCs in den Medien und in der Politik. Es gibt immer mehr Menschen, die anerkennen, dass wir keine Gäste, sondern Teil dieser Gesellschaft sind.

Welchen Herausforderungen begegnest du als Schwarze Frau in deinem Arbeitsalltag?

Ein großer, starker weißer Mann entspricht wohl eher der Vorstellung, die viele von Anwält*innen haben. Als eher kleine Schwarze Frau muss man viel Überzeugungsarbeit leisten. Mittlerweile nehme ich allerdings die vielen überraschten Gesichter meiner Mandanten bei der ersten Begegnung eher mit Humor.

In der Politik ist die größte Herausforderung für mich, dass es kaum Schwarze Menschen bei uns Grünen vor Ort gibt. Es fehlt dadurch die Möglichkeit auch mal zwei gegensätzliche Positionen Schwarzer Menschen zu erleben und in einen Diskurs zu kommen. Ich möchte nicht als Einzelne gleich für alle Schwarzen Menschen sprechen. Ich kann ja stets nur meine eigene Position vertreten.

Was empowert Dich? Hast du Vorbilder?

Empowerment erfahre ich in meiner Familie, wo ich immer ermutigt werde, vermeintliche Grenzen zu überwinden. Aber auch bei anderen POCs, wie etwa beim ISD (Initiative Schwarzer Menschen) oder bei BuntGrün. Besonders der Austausch mit Grünen PoCs ist mir wichtig, da damit zwei mir wichtige Aspekte zusammenkommen.

Die eigentliche Herausforderung ist, dass es kaum Vorbilder geben kann, weil es kaum Schwarze Menschen gibt, die diesen Weg gegangen sind und an denen man sich orientieren kann. Kraft kann ich allenfalls daraus schöpfen, dass viele folgen werden.

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Portraitreihe: Repräsentation, Teilhabe, Empowerment

Die plurale Migrationsgesellschaft wird in deutschen Parlamenten weiterhin kaum oder viel zu wenig abgebildet. Das ist ein Problem für die repräsentative Demokratie und für gerechte politische Teilhabe und Partizipation. Mit der Portraitreihe junger Politiker*innen of Color, die sich erstmals auf ein politisches Amt auf Landes- oder Bundesebene bewerben, möchten wir Stimmen und Perspektiven stärken, die im politischen Betrieb immer noch zu wenig repräsentiert und sichtbar sind. Hier geht es zu allen Interviews der Portraitreihe.

Was möchtest du mit deinem Engagement erreichen? Wofür willst du dich politisch einsetzen, wenn es mit dem Einzug in den Bundestag klappt?

Ich möchte, dass Vielfalt und Chancengleichheit in unserer Gesellschaft zu einer Selbstverständlichkeit werden.

Dazu gehört etwa, dass ich, wenn ich diskriminiert werde, die Möglichkeit haben muss, dagegen rechtlich vorzugehen – auch und insbesondere gegen den Staat. Das ist derzeit kaum möglich. Daher brauchen wir ein neues und wirksames Antidiskriminierungsgesetz. Ebenso ein Verbandsklagerecht. Denn viele Betroffene haben weder das Geld noch die Energie, langjährige Klageverfahren alleine durchzukämpfen. Ich würde gerne weitere Kommunen bestärken, kommunale Antidiskriminierungsstellen einzurichten.

Wir müssen die Regelungen der UN Behindertenrechtskonvention endlich entschieden durchsetzen. In den Bereichen Rassismus, Diskriminierung und Kolonialismus brauchen wir mehr Forschung. Wir brauchen aussagekräftige Zahlen und Statistiken. Kolonialismus und Antidiskriminierung sollte ein – nicht nur marginaler – Teil der Lehrpläne in den Schulen sein.

Denkst Du, dass uns das gelingen wird?

Natürlich wird das ein schwieriger Weg, aber ich bin davon überzeugt, dass wir vieles erreichen können. Sehen wir uns doch nur die feministische Bewegung an. Wie lange wir schon für Geschlechtergerechtigkeit kämpfen und wie viel Arbeit wir noch vor uns haben. Dennoch müssen wir auch sehen, dass wir vieles erreicht haben.

Rassismus ist genauso wie Geschlechterrollen gesellschaftlich konstruiert und kann auch gesellschaftlich dekonstruiert werden. Ich glaube, das verstehen immer mehr Menschen und haben den Mut, dagegen anzugehen.

Was möchtest du jungen Menschen of Color, die sich politisch engagieren wollen, mit auf dem Weg geben?

Ich würde mich freuen, wenn sich mehr PoCs und andere marginalisierte Menschen politisch einbringen könnten. Es ist wichtig, dass marginalisierte Menschen sichtbarer werden, damit unsere Stimmen Gehör finden. Lasst euch nicht davon abschrecken, dass in der Kreismitgliederversammlung vielleicht niemand da ist, der aussieht wie ihr. Vernetzt euch über die Kreisverbände hinweg auf Landes- und Bundesebene. Ihr habt einen Anspruch darauf, gehört zu werden.