Bildbasierte sexualisierte Gewalt

Interview

Jacey Kan von der Association Concerning Sexual Violence Against Women (ACSVAW) spricht zum Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen über bildbasierte sexualisierte Gewalt.

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Bonnie Au / Heinrich-Böll-Stiftung Hongkong

Jacey Kan ist Referentin für Lobbyarbeit bei der Association Concerning Sexual Violence Against Women (ACSVAW) in Hongkong. Sie ist eine engagierte Anwältin und Verfechterin der Geschlechtergerechtigkeit. Seit 2018 setzt sich Kan bei ACSVAW ein, der Verein befasst sich mit sexueller Gewalt gegen Frauen. Ihren Fokus bilden Reformen im Zusammenhang mit bildbasierter sexualisierter Gewalt, die Rechte der Opfer und die öffentliche Ordnung und Politik.

Heinrich-Böll-Stiftung Hongkong: Können Sie kurz erklären, was bildbasierte sexualisierte Gewalt genau bedeutet? 
Jacey Kan: Der Begriff „bildbasierter sexueller Missbrauch“ stammt aus einem wissenschaftlichen Artikel, der 2017 in den Feminist Legal Studies veröffentlicht wurde, mit dem Titel „Beyond ‚Revenge Porn‘: The Continuum of Image-based Sexual Abuse“, also die Kontinuität des Missbrauchs auf Grundlage von Bildern noch über Rachepornos hinaus, den die britischen Wissenschaftlerinnen Clare McGlynn, Erika Rackley und Ruth Houghton verfasst haben. Wir haben in Hongkong diesen Begriff übernommen, weil er die Idee, intimes Bildmaterial als Mittel für Belästigungen, Bedrohungen, Einschüchterungen und Demütigungen von Frauen zu verwenden, wiedergibt. 
Beispiele für ein derart missbräuchliches Verhalten sind das Aufnehmen intimer Fotos ohne die Zustimmung der anderen Person und die Verbreitung, das Weiterleiten, das In-Umlauf-Bringen oder der Verkauf derartiger Fotos ohne Zustimmung sowie die bloße Androhung, es zu tun. Es gibt auch einen Trend zum sogenannten „Deepfake“, bei dem Software und/oder künstliche Intelligenz eingesetzt wird, um ein Foto einer Person mit einer anderen Nackt- oder Pornoaufnahme vorsätzlich zu verbinden und so digital gefälschte Bilder zu erzeugen.

Sie haben immer wieder mit den hilfesuchenden Opfern zu tun. Wo und wie kommt es im Allgemeinen zu sexualisierter Gewalt durch Bilder? Was sind die typischen sozialen Hintergründe? 
Unser Verein hat 2020 eine Umfrage zu bildbasierter sexualisierter Gewalt durchgeführt. Dabei kam heraus, dass die meisten Opfer dieser Art von Missbrauch zwischen 20 und 24 Jahre alt sind. Am häufigsten wurde von Vorfällen berichtet, die in öffentlichen Verkehrsmitteln stattfanden (45 %), gefolgt von 25 % auf der Straße und 25 % durch Instant-Messaging-Anwendungen. Was die Identität der Täter*innen angeht, gaben 56 % an, dass es sich bei den Täter*innen um Fremde handelte, während 23 % davon die jeweiligen Intimpartner*innen waren. 
Aus den Interviews, die wir mit den Befragten geführt haben, geht hervor, dass die eigenen Partner die intimen Bilder tendenziell als Waffe nutzen, um die Opfer mit der Verbreitung zu bedrohen und um sie zu manipulieren und gefügig zu machen. Da die Täter*innen in der Regel das soziale Umfeld ihrer Partner*innen kannten, drohten sie damit, die intimen Bilder an Freund*innen, Kollege*innen und Familienmitglieder weiterzuleiten. Dies ist ein typisches Beispiel für Gewalt in der Partnerschaft.

Können Sie uns etwas über Ihre jüngste Kampagne gegen bild-basierte sexualisierte Gewalt berichten? Weshalb haben Sie diese Kampagne gestartet? 
Wir setzen uns seit 2018 für spezifische, auf dieses Verhalten abzielende Gesetze ein. In den Jahren 2019 und 2020 haben wir die erwähnte Umfrage durchgeführt, um die Ernsthaftigkeit dieser Problematik in Hongkong aufzuzeigen. 
Außerdem befragten wir die Opfer, die sich an das Justizsystem um Hilfe gewandt hatten, zu ihren Erfahrungen. Denjenigen, die den Missbrauch angezeigt hatten, wurde in annähernd 70 % der Fälle mitgeteilt, dass die Polizei in ihrem Fall nicht ermitteln würde. Ein häufiger Grund für die Weigerung der Polizei war die Tatsache, dass es kein spezielles Gesetz gegen sexuellen Missbrauch aufgrund von Bildaufnahmen gibt, was nahelegt, dass es konkreter Rechtsvorschriften bedarf, um gegen diese Art von Gewalt in unserer Gesellschaft vorzugehen und sie zu verhindern. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse haben wir Lobbyarbeit betrieben und uns bei der Regierung für die Einführung der entsprechenden Gesetze eingesetzt. Gleichzeitig haben wir die Öffentlichkeit und andere Interessensverbände mobilisiert, ihre Ansichten den Regierenden kundzutun. 
Durch die Vorlage von Gesetzesvorschlägen und Forschungsberichten bei der Regierung und durch Lobbyarbeit bei den Mitgliedern des Legislativrats gemeinsam mit anderen öffentlichen Gruppierungen in den letzten drei Jahren haben unsere Bemühungen insofern Wirkung gezeigt, als dass die Regierung vier neue Straftatbestände in Hongkong eingeführt hat. Am 8. Oktober 2021 ist das Gesetz gegen bildbasierte sexualisierte Gewalt in Kraft getreten. Bei den vier neuaufgenommenen Straftaten handelt es sich um Voyeurismus, unrechtmäßiges Aufzeichnen oder Betrachten intimer Körperteile, Veröffentlichen von Bildmaterial, das aus diesen beiden Vergehen hervorgeht und Veröffentlichung oder Androhung der Veröffentlichung intimer Bilder ohne Zustimmung. Die Höchststrafe beträgt fünf Jahre Freiheitsentzug. Parallel dazu gibt es eine „Entfernungsverfügung“, die es einem Richter gestattet, eine*n Angeklagte*n oder eine*n Anbieter*in von Online-Inhalten anzuweisen, derartige Bilder zu löschen. 
Die Gesetzgebung ist nur ein Schmerzmittel; die Behandlung besteht in der Erziehung der Öffentlichkeit, entsprechende Handlungen zu unterlassen beziehungsweise ihnen nicht tatenlos zuzusehen. Neben der Verabschiedung neuer Gesetze halten die Mitglieder unseres Vereins die Aufklärung der Öffentlichkeit über dieses Thema für dringend notwendig. Deshalb führen wir eine Kampagne durch, um das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass Aufnehmen, Verbreiten und Anschauen von Intimbildern ohne das Einverständnis des Anderen sexualisierte Gewalt in Form von Bildern darstellt. 

Welche Erwartungen verbinden Sie noch mit dieser Kampagne?
Wir möchten vor allem auf die belastenden Auswirkungen des Teilens und Betrachtens von Intimbildern ohne Zustimmung hinweisen. Viele Internetnutzer*innen posten gern intime Bilder in Chatgruppen, Diskussionsforen und sozialen Medien und bringen sie so in Umlauf. Sie sehen dies als eine Art Spaß oder Zeitvertreib an und übersehen dabei den Schaden, den sie damit anrichten können. Durch öffentliche Aufklärung wollen wir das Bewusstsein der Menschen dafür schärfen, dass die Weitergabe intimer Bilder ohne Zustimmung sexualisierte Gewalt darstellt; indem sie derartige Bilder online verbreiten, fügen sie den Opfern Leid und Schaden zu. Um die Aufmerksamkeit auf die Rolle der Betrachter*innen in der Cyberwelt und die daraus resultierenden Auswirkungen zu lenken, haben wir Außenwerbung in öffentlichen Verkehrsmitteln geschaltet. Unser Verein hat den französischen Illustrator Louis Grosperrin dazu eingeladen, Cartoons zu entwerfen, die die Auswirkungen des nicht einvernehmlichen Weiterleitens und des Betrachtens von Intimbildern auf die Opfer transportieren. 

Man geht davon aus, dass in der modernen Gesellschaft die Schädigung durch sexualisierte Gewalt in Form von Bildern noch über die von physischer Gewalt hinausreicht. Wie lässt sich das erklären?
Wir können das Ausmaß der Schädigungen durch unterschiedliche Formen der Ausübung sexualisierter Gewalt nicht miteinander vergleichen. Nach unseren Beobachtungen neigen die Menschen jedoch dazu, die Verletzungen durch nicht-körperliche Gewalt zu ignorieren oder sie zu verharmlosen. Tief verwurzelte Einstellungen führen dazu, das Trauma, das die Opfer bildbasierter sexualisierter Gewalt erlitten haben, herunterzuspielen. Das führt zu Aussagen wie etwa: „Ich habe sie gar nicht angefasst, was ist schon dabei?“ oder „Es ist doch nur ein Foto, mach bloß nicht so ein Aufheben darum!“ Die Leute sollten sich des Leids bewusst sein, das durch das Posten und Weiterleiten von sexualisiertem Material im Internet entsteht. Darüber hinaus handelt es sich um eine dauerhafte und unumkehrbare Schädigung. 

Könnten Sie uns anonyme Fälle oder Statistiken nennen, damit wir die ganze Bandbreite und das Ausmaß der Problematik erfassen können?
Auch Männer können Opfer von bildbasierter sexualisierter Gewalt werden. Ein Mann, nennen wir ihn einmal Benjamin, wurde zum Beispiel von seiner Ex-Partnerin unter Druck gesetzt; er wusste, dass sie heimlich intime Videos von ihm aufgenommen hatte. Obwohl sie ihn nicht länger damit bedrohte, erzählte uns Benjamin, dass es für ihn schwer absehbar war, ob sie die Videos nicht plötzlich wieder hervorholen und ihm erneut damit drohen würde und die Videos nicht vielleicht unangekündigt an seine Freund*innen verschicken würde. Seine Ängste und Befürchtungen waren selbst nach fünf Jahren noch nicht verschwunden. Die intimen Videos waren wie tickende Zeitbomben. Die Tatsache, dass sie jederzeit verbreitet werden könnten, führte bei ihm zu permanentem Stress. Benjamins Fall steht stellvertretend für viele Opfer, die Gaslighting, das heißt die emotionale Manipulation durch ihre Partner*innen, erlebt haben. 
Sind die Bilder erst einmal im Internet gepostet worden, ist es äußerst schwierig, sie wieder vollständig zu entfernen. Abgesehen von ihren Ängsten fühlen sich die Opfer der nicht einvernehmlichen Weiterverbreitung oft machtlos und denken eher pessimistisch. Von einer jungen Frau, nennen wir sie einmal Rain, wurden intime Videos auf Pornoseiten veröffentlicht. In einem Interview sagte sie, dass es für sie gleichgültig sei, wie viele Leute die Videos gesehen hätten. Sie war der Meinung, dass es sowieso unmöglich sei, etwas dauerhaft aus dem Internet zu entfernen, und sie glaubte nicht daran, dass das Problem behoben werden könnte. Dieses Gefühl der Verzweiflung ist bei den Opfern nicht-einvernehmlicher Verbreitung nichts Ungewöhnliches. 

Können sich soziale Gruppierungen mit IT-Kenntnissen besser schützen oder sind sie eher anfällig für den Missbrauch von Bildmaterial? 
Bislang sehen wir keinen Zusammenhang zwischen IT-Knowhow und der Tendenz zur Ausübung sexualisierter Gewalt durch Bilder. Das Aufnehmen, Hochladen und Teilen von Bildern im Internet erfordert keine besonderen IT-Kenntnisse. Solange jemand weiß, wie man soziale Medien und Instant-Messaging-Apps nutzt, kann er oder sie problemlos Inhalte posten, übertragen und mit anderen teilen. Die Anbieter von Online-Diensten dagegen, die Websites zur Verbreitung und zum Verkauf intimer Bilder herstellen, verfügen vermutlich über weitreichendere Programmier-Kenntnisse. 

Was sind Ihrer Meinung nach die häufigsten Missverständnisse in Bezug auf die Veröffentlichung und Verbreitung sexualisierter Bilder? 
Wir hören häufiger so etwas wie: „Wenn ich mit der Aufnahme dieser intimen Bilder einverstanden war, kann ich doch der Verbreitung der Bilder nicht widersprechen“ und „Solange wir keine Röcke tragen, gibt es auch kein ‚Upskirting‘“. Oder: „Es ist ja keine große Sache, bloß ein Foto“ und „Wenn ich als Unbeteiligte oder Unbeteiligter auf diese Art von Bildern stoße, gibt es nichts, was ich dagegen tun könnte“. 

Welche Rolle spielen -- neben den direkt betroffenen Täter*innen und Opfern – die Betrachter*innen, Internetnutzer*innen und Weiterverbreiter*innen?
Wer auch immer Zeug*in des Teilens intimer Bilder im Netz wird, kann und sollte eindeutig dagegen vorgehen, anstatt es gleichgültig hinzunehmen. Wir ermutigen all diejenigen, die auf online verbreitetes nicht-einvernehmliches intimes Bildmaterial stoßen, sich derartige Bilder nicht anzusehen, zu ‚liken‘ und weiterzuleiten; dem Opfer nicht die Schuld zu geben, da die Schuld beim Täter liegt; außerdem Kommentare, die dem Opfer die Schuld zuweisen, nicht mit ‚likes‘ zu versehen; den entsprechenden Inhalt zu melden und Freund*innen zu motivieren, die intimen Bilder nicht anzusehen, zu ‚liken‘ oder weiterzuleiten.
Die Rolle und das Verhalten von Unbeteiligten sollte keinesfalls unterschätzt werden. Wir haben festgestellt, dass Reaktionen von Außenstehenden einen starken Einfluss auf die Entscheidung des Opfers ausüben, ob es sich anderen offenbart oder Hilfe sucht. Wenn es Unbeteiligte unterlassen, sich nicht-einvernehmliche intime Bilder anzusehen und sie gegen Kommentare angehen, die dem Opfer die Schuld zuschreiben, dann fühlen sich die Opfer ermutigt und sind eher bereit, sich mitzuteilen. 

Welche Rolle könnte Professionellen und Technologieplattformen hinsichtlich dieser Problematik zukommen? Könnten Sie bitte einige bewährte Praktiken im Bereich der IT-Steuerung nennen? 
Bild-basierte sexualisierte Gewalt gibt es auf allen erdenklichen Online-Plattformen und Websites, einschließlich Diskussionsforen, Dating-Apps und Social-Media-Seiten. Wir schlagen vor, dass Anbieter von Internetdiensten und  inhalten für Leitfäden und Meldemechanismen sorgen, um das nicht-einvernehmliche Veröffentlichen von sexuellem Bildmaterial zu unterbinden. Sie sollten in ihren Anweisungen oder Richtlinien explizit darauf hinweisen, dass die Verbreitung intimer Bilder ohne die Zustimmung der betreffenden Person einen Gesetzesverstoß darstellt. Wenn ein Beitrag oder ein Bild gegen die Regeln verstößt, sollten die Betreiber der Inhalte die Initiative ergreifen, den Inhalt entfernen und eine Warnung an den*die ursprünglichen Vertreiber*in aussprechen. Internet- und Social-Media-Anbieter und -Plattformen sollten in ihren Richtlinien Meldewege und Formulare zur Verfügung stellen, mit denen die Nutzer*innen regelwidrige Beiträge melden können. 
Pornhub hat mit der Einführung eines „Trusted Flagger“-Programms ein praktikables Verfahren aufgezeigt. Dieses Programm bietet Nichtregierungsorganisationen wie unserer eine tragfähige und effiziente Möglichkeit, auf Inhalte aufmerksam zu machen, die möglicherweise gegen die Nutzungsbedingungen verstoßen. Als NRO-Mitglied des Pornhub Trusted Flagger-Programms können wir die sofortige Sperrung aller gemeldeten URLs veranlassen und wir erhalten Einblick in die Entscheidungen über gemeldete Inhalte und den Zugang zu einem speziellen Support-Team. Dies ist eine positive Praxis, der andere Online-Plattformen folgen könnten. 

Hier kommen Sie zum Interview mit Jacey Kan auf Youtube

Der 25. November ist der Internationale Tag zur Beendigung der Gewalt gegen Frauen.
Seit 1981 begehen Frauenrechtsaktivist*innen den 25. November als Tag gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Das Datum wurde zu Ehren der Mirabal-Schwestern gewählt, drei politische Aktivistinnen aus der Dominikanischen Republik, die 1960 auf Befehl des regierenden Machthabers Rafael Trujillo (1930-1961) brutal ermordet wurden. Am 7. Februar 2000 erklärte die Generalversammlung der Vereinten Nationen den 25. November offiziell zum Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und forderte Regierungen, internationale Organisationen und NRO auf, sich zusammenzuschließen und jedes Jahr an diesem Tag Aktivitäten zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit für das Thema zu organisieren.

Website zum Projekt über bildbasierte sexualisierte Gewalt -- ACSVAW: 
https://seeme.hk
https://rainlily.org.hk/eng/ibsv