Seit Beginn der Proteste nach dem Tod von Jina Amini wurden in Iran mehr als 19.600 Personen inhaftiert. Vielen politischen Gefangenen droht die Todesstrafe. Unterstützung erfahren sie aus der Diaspora: Eine Gruppe von Aktivist*innen in Deutschland vermittelt politische Patenschaften, um Öffentlichkeit für die Fälle zu schaffen.
„Mit dreißig Jahren hoffe ich, nicht mehr in Iran zu leben“, sagt die 20-Jährige Armita Abbasi in einem ihrer Videos, das sie online stellt. Sie erzählt, dass sie die iranische Gesellschaft nicht als frei empfindet. Von ihren Videos wissen wir außerdem, dass sie manchmal bunte Haare trägt, gerne singt und Sinn für Humor hat. CNN recherchiert ihren Fall. Sie bezeichnen Abbasi aufgrund ihrer blondierten Haare und der Katzenvideos, die sie auf TikTok postet, als typische Gen-Z-lerin. Am 10. Oktober 2022 wird Abbasi in Karaj, etwa 40 Kilometer westlich von Teheran, verhaftet. Niemand weiß, wo sie festgehalten wird. CNN berichtet, dass sie sieben Tage später mit kahlgeschorenem Kopf, stark zitternd und in Begleitung von Sicherheitskräften in Zivil ins Krankenhaus eingeliefert wird.
Das medizinische Personal ist schockiert, als es die Spuren der Vergewaltigungen an ihrem Körper sieht. Die Brutalität der Taten veranlasst das Personal dazu, anonymisierte Berichte über Abbasis Zustand an die Öffentlichkeit zu leaken, während Krankenhaus, Sicherheitskräfte und Behörden versuchen die physische Gewalt, die an Abbasi verübt wurde, zu vertuschen. CNN bestätigt den Inhalt der Leaks. Danach hört man nichts mehr von Armita Abbasi. Über ihren gesundheitlichen Zustand ist nichts bekannt. Es heißt, sie sei verschwunden, bis ihre Mutter im Dezember auf Instagram bekannt gibt, dass sie in einem Gefängnis in Karaj ist. Medienberichten zufolge befindet sie sich dort Anfang Januar gemeinsam mit anderen Frauen für einige Tage im Hungerstreik.
Ihre Mutter hofft einen Tag nach Armitas Gerichtstermin Ende Januar auf einen guten Ausgang für sie und bittet um Aufmerksamkeit für den Fall ihrer Tochter. Einzelne Berichte von Vergewaltigungen an Männern wie Frauen durch (Un-) Sicherheitskräfte oder Regimepersonal in iranischen Gefängnissen sind nichts Neues. Recherchen von CNN, der Süddeutschen Zeitung und anderen zeigen auf, wie psychische und physische Gewalt zur Einschüchterung angewandt werden. CNN spricht von einem „extremen Klima der Angst“, das aufgrund des brutalen Vorgehens des Regimes gegen die revolutionäre Bewegung herrsche. Umso mutiger, dass diese ihre Angst überwindet.
Hinrichtungen sind Teil der DNA der Islamischen Republik
Die Islamische Republik ist um drastische Bestrafungen für die Teilnahme an Demonstrationen nicht verlegen. Im Gegenteil: Wer nicht ins islamistische, patriarchale, nationalistische Bild passt, wird weggesperrt und im schlimmsten Fall getötet. Hinrichtungen sind Teil der DNA der Islamischen Republik. Das Regime führt sie in den Gefängnissen und auf den Straßen aus. Es lohnt ein kurzer Blick in die 1980er Jahre, um das heutige Vorgehen des Regimes besser zu verstehen. Der amtierende Präsident Ebrahim Raisi gilt als einer der Drahtzieher der über mehrere Monate andauernden Massenhinrichtungen politischer Gefangener von 1988. Bis heute ist unklar wie viele Menschen genau damals hingerichtet worden sind. Amnesty International spricht von mindestens 5000 politischen Gefangenen, die auf Anweisung von Ayatollah Khomeini in der Amtszeit des inzwischen unter Hausarrest stehenden damaligem Präsidenten Mir Hossein Moussavi gehängt worden seien.
Im Juli 1988 werden die Todeskandidat*innen plötzlich akribisch von ihren Familien und der Außenwelt abgeschirmt. In Scheinprozessen wird ihr religiöser Glaube abgefragt, sie werden wegen Apostasie (Abwendung von einer Religion, in diesem Fall Islam, worauf die Todesstrafe steht) oder „Kriegsführung gegen Gott“ (arab.: Muhāraba, pers.: moharebeh) in Scheinprozessen verurteilt. Erst ab Oktober desselben Jahres erfahren einige Familien von der Hinrichtung ihrer Angehörigen. Anderen ist bis heute keine offizielle Nachricht dazu übermittelt worden. Den Hinterbliebenen werden die Leichen ihrer Angehörigen vorenthalten. Die Orte, an denen sie begraben worden sind, werden nur in Ausnahmen mitgeteilt. Sie dürfen keine Trauerzeremonie abhalten.
Noch heute werden sie laut Amnesty International vom Regime unter Druck gesetzt, keine Aufmerksamkeit auf die Hinrichtungen zu lenken. Diese Abläufe wiederholen sich heute in Variationen. Die Intention des Regimes ist es damals wie heute, dass niemand bei seinen Gräueltaten hinsieht. Die Aufmerksamkeit, die von der Todesstrafe bedrohte Menschen in Iran inzwischen erfahren, hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass bislang weniger Menschen getötet wurden, als im sogenannten Blutigen November 2019, als mindestens 1500 Menschen hingerichtet werden. Das Regime schaltet damals das Internet für eine Woche komplett ab. Wir erfahren das Ausmaß der Gewalt und Morde erst im Nachhinein.
Unterstützung Politischer Gefangener aus der Diaspora
Auch diesmal werden die Familien Protestierender eingeschüchtert und teilweise vermutlich zu Falschaussagen in staatlichen Medien gezwungen. Es wird viel unternommen, die Angehörigen zu zermürben. Eine Strategie, damit sie keinen Ärger bereiten. Denn viele Trauerfeiern sind zu Protesten geworden. Allen voran das Begräbnis von Jina Amini in ihrer kurdischen Heimatstadt Saqqez, zu dem Hunderte strömen und Parolen gegen die Islamische Republik rufen. Für die Proteste seit dem Tod Aminis gibt die Menschenrechtsorganisation Human Rights Activists News Agency (HRNA) an, dass inzwischen mehr als 19.600 Personen inhaftiert seien und 527 Personen, darunter über 71 Minderjährige, durch das Regime getötet wurden. Mehr als 100 Menschen sind laut HRNA akut von der Todesstrafe betroffen, die Dunkelziffer liegt vermutlich höher.
Die meisten Getöteten sind Belutsch*innen und Kurd*innen und meist finanziell arme Leute. Um die Aufmerksamkeit auf die von Hinrichtungen Betroffenen zu lenken, braucht die Diaspora neue Handlungsmöglichkeiten neben Kundgebungen und Social Media Posts. Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte vergibt seit über zehn Jahren sogenannte Patenschaften an Politiker*innen. Durch die Patenschaft schaffen sie Öffentlichkeit für eine von der Todesstrafe bedrohte Person. Sie üben Druck auf den iranischen Botschafter aus und fordern faire Prozessbedingungen. Damit senden sie ein Signal an das iranische Regime und an die Gefangenen selbst: Wir schauen hin. Etwas weniger bürokratisch und damit schneller koordiniert auch eine Gruppe von Aktivist*innen in Deutschland Patenschaften. Die Gruppe benötigt noch Leute, die Persisch lesen und schreiben können und lädt mich ein, sich ihr anzuschließen, was ich für einige Wochen tue. Es ist ein loser Zusammenschluss von mehr als 20 Personen, von denen die meisten im Hintergrund arbeiten. Mariam Claren und die Aktivistin Daniela Sepehri koordinieren die Patenschaften.
#FreeNahid – Das Foltergefängnis Evin
Claren hat Erfahrung in Kampagnenarbeit in Bezug auf politische Gefangene in Iran. Im Oktober 2020 ist ihre Mutter, die inzwischen 68-jährige Deutsch-Iranerin Nahid Taghavi, bei einem ihrer regelmäßigen Familienbesuche in Teheran. Auf dem Weg nach Hause wird sie von zwölf Männern der Revolutionsgarden festgenommen. Zwei Tage später erfährt die in Deutschland lebende Tochter, dass es sich um eine politisch motivierte Festnahme handelt. Ihre Familie kann erst drei Tage später herausfinden, dass sie in Evin inhaftiert ist, da das Regime solche Informationen nicht breitwillig weiterleitet. Evin ist das berüchtigte Foltergefängnis im Norden Teherans. Wie viele Menschen auf einmal dort inhaftiert sind, ist unklar. Die Islamische Republik hatte 2006 angegeben, dass um die 3000 Gefangene in dem auf 1500 Personen ausgelegten Gefängnis inhaftiert seien. Evin ist 1972 während der Diktatur des Königs Mohammad Reza Pahlavi errichtet worden. Schon damals wurden dort politische Gegner*innen gefoltert und gehängt.
Auch Nahid Taghavi hat dort Folter erfahren, sogenannte „Weiße Folter“, die vorrangig die Psyche einer inhaftierten Person angreifen soll. Taghavi ist seit den 1970er Jahren politisch aktiv, und setzt sich hauptsächlich für die Rechte von Frauen und Arbeiter*innen ein. Das sieht das Regime nicht gern. Es hält sie sieben Monate in Einzelhaft in Evins Hochsicherheitstrakt. Achtzig Tage am Stück wird sie verhört, ohne anwaltlichen Beistand. Wenn politische Gefangene einen Anwalt haben dürfen, dürfen sie sich ihn nicht aussuchen. Er wird von den Behörden gestellt. Nahid Taghavi entwickelt in der Einzelhaft Diabetes, hohen Blutdruck und wird insgesamt körperlich geschwächt. Nachdem sie in den Frauentrakt des Gefängnisses verlegt wird, erhält sie medizinische Betreuung. Ihr gesundheitlicher Zustand ist so ernst, dass sie unter Begleitung von Wächtern das Gefängnis verlassen darf, um Ärzt*innen aufzusuchen.
Im Sommer 2021 wird sie in einem Scheinprozess zu zehn Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt. Zwischenzeitlich hat ihre Tochter Mariam Claren die Kampagne #FreeNahid gestartet. Die durch die Kampagne gewonnene Aufmerksamkeit kommt ihrer Mutter zugute. Im Sommer 2022 erhält sie medizinischen Hafturlaub. Doch ihre Behandlung ist noch nicht abgeschlossen, als sie frühzeitig aus dem Hafturlaub wieder ins Gefängnis beordert wird, nachdem die Proteste im September sich aufs gesamte Land ausgebreitet haben. Ich frage Claren, wie ich mir den Alltag ihrer Mutter im Gefängnis vorstellen muss. Die beiden telefonieren fünf Mal die Woche miteinander. Das ist, was Taghavi erlaubt ist. Die Telefonate werden abgehört und sie entwickeln eigene Methoden der Kommunikation. Sie erzählt mir, dass ihre Mutter im Frauentrakt mit anderen Aktivist*innen, wie Sepideh Gholian, Golrokh Iraee und Narges Mohammadi lebt. Die Frauen lesen viel – es gibt in Evin eine Bibliothek – und diskutieren. Die Atmosphäre sei laut Claren intellektuell. In Iran gibt es diesen bitteren Witz: Ein Gefangener geht in Evin in die Bibliothek, um sich ein Buch auszuleihen. Dort sagt man ihm „das Buch haben wir nicht da, aber den Autor!“.
Politische Patenschaften als wirksames Mittel für Aufmerksamkeit
Mariam Claren findet, es sei eine Schande, dass dieses intellektuelle Potenzial hinter Gittern sei. Sie und ihre Gruppe konnten bislang 338 Landtags- und Bundestagsabgeordneten Patenschaften vermitteln. Akribisch werden die Fälle verifiziert, damit keine falschen Informationen an die Politiker*innen vermittelt werden. Die Patenschaften sind ein wirksames Mittel, um Aufmerksamkeit zu schaffen. Es mache es laut Claren dem Regime schwerer, seine Verbrechen im Dunkeln durchzuführen, wenn die Scheinwerfer auf sie gerichtet seien und auch bei den Inhaftierten käme die Beachtung an. Solidarität für die revolutionäre Bewegung in Iran hat viele Facetten und Bedarf Durchhaltevermögen. Der revolutionäre Prozess ist in vollem Gange und solange sich die Lebensumstände der Menschen nicht grundlegend ändern, werden sie für ihre Rechte auf die Straßen gehen und dabei ihr Leben riskieren. Auf das Netzwerk mit Pat*innen kann zurückgegriffen werden, wenn wieder eine Mutter, wie die von Armita Abbasi, um Aufmerksamkeit bittet.