Jeden dritten Tag tötet ein Mann seine (Ex)-Partnerin

Buchbesprechung

Im September 2023 erschien das neue Buch Gegen Frauenhass der Rechtsanwältin Christina Clemm. Dinah Riese rezensiert.

Cover des Buches "Gegen Frauenhass"

Wäre Gegen Frauenhass von Christina Clemm nicht schon längst erschienen, vielleicht hätte Thomas Gottschalk noch einen Auftritt im Buch der Strafrechtlerin geschafft. „Man hat ja dieser Tage wirklich Angst, ein Mädchen anzufassen“, erklärte der Moderator in seiner allerletzten Folge bei „Wetten, dass …“ Ende November. Da führte er, seit Jahren bekannt für seine Grabscherei und seinen Chauvinismus, gerade die Sängerin Cher an der Hand auf die Bühne.

Was so ein Spruch denn mit Frauenhass zu tun habe, werden viele jetzt fragen. Und damit sind wir mitten drin in Christina Clemms zweitem Buch. Gegen Frauenhass beschreibt eindrücklich, was Gottschalk hier wie aus dem Lehrbuch präsentiert: die völlig normalisierte Idee vieler Männer, sie hätten einen Anspruch auf die Körper von Frauen.

Clemm spricht von einer „Gesellschaft, in der Männern gesagt wird, dass ihnen die Körper von Frauen zugänglich sind, in der Frauenkörper oft der Unterhaltung dienen“. Sexistische Sprüche wie der von Gottschalk sind vielleicht noch kein Frauenhass – Sexismus aber, zeigt Clemm auf, ist immer die Grundlage von Frauenhass und mitunter tödlicher Gewalt gegen Frauen.

Jeden dritten Tag tötet ein Mann seine (Ex)-Partnerin

Schätzungsweise jede dritte Frau in Deutschland hat körperliche und/oder sexualisierte Gewalt in der Partnerschaft erlebt. Im Schnitt versucht jeden Tag ein Mann, seine (Ex)-Partnerin zu töten – und jeden dritten Tag gelingt es einem. In den seltensten Fällen beginnt die Gewalt von jetzt auf gleich.

„Sie verlieben sich. Sie gehen gern gemeinsam aus, treffen ihre und seine Freund*innen, verbringen viel Zeit im Bett.“ So beschreibt Clemm die erste Zeit der Beziehung von Lisa M. und ihrem Freund Mirko, der sie später umbringen wird. Es ist ein fiktiver Fall, anders als die Stellen, an denen die Anwältin einige ihrer Mandant*innen anonymisiert zu Wort kommen lässt. Und doch steht der Fall Lisa M. sinnbildlich für viel zu viele Schicksale – und vor allem dafür, wie Staat und Gesellschaft die Betroffenen allzu oft allein lassen. Von tausend Sexualdelikten werden, rechnet Clemm vor, gerade mal acht verurteilt.

Mirko fängt an, Lisa M. nachzustellen, ihre Freiheit einzugrenzen. Er wird körperlich übergriffig, erst ein wenig, dann immer mehr. Er wird brutal. Erniedrigt sie. Vergewaltigt sie. Irgendwann sucht Lisa M. Hilfe. Ein Schritt, der für Betroffene in ihrer Abhängigkeit vom Partner oft schwer ist. Doch sie bekommt diese Hilfe nicht in dem Maße, das nötig gewesen wäre, um ihr Leben zu schützen. Es ist ein systematisches Versagen.

„Die Tat geschah aus Liebe“, dass sie nun tot ist, sei „quasi aus Versehen“ geschehen, es mache keinen Sinn, er habe ja nicht „einsam leben“ wollen. „Zu einem Streit gehören immer zwei“, „nach ihrem Karriereschritt war es nicht leicht für ihn“. Dass sie mehr verdiente, habe bei ihm „zu einem Gefühl der Unterlegenheit“ geführt. All diese Erklärungen dafür, warum es irgendwie nachvollziehbar ist, dass ein Mann seine (Ex)-Partnerin umbringt oder es versucht, kennt Clemm. Und zwar nicht nur vom Stammtisch oder aus der Boulevardpresse, sondern von Richter*innen und Staatsanwält*innen. Clemm vertritt als Anwältin seit Jahren Frauen und nicht-binäre Personen, die Gewalt erlebt haben.

Macht als Grundlage für Machtmissbrauch

Ihr Buch geht aber weit über diese Gewalt hinaus. Genauer gesagt: Es greift der Gewalt vor. Clemm führt aus, wie Sexismus und Patriarchat die Bausteine sind, auf denen unsere Gesellschaft aufbaut. Wie sie dazu beitragen, Frauen auf ihren vermeintlichen Platz zu verweisen: der männlichen Vorherrschaft untergeordnet. Wie Feminismus deswegen für viele Männer eine solche Bedrohung ist: Weil er eben nicht nur ein paar Verbesserungen hier oder da möchte, sondern weil er ganz grundsätzlich die Machtfrage stellt.

Gleichstellung könne nur ein Zwischenschritt sein, so Clemm. „Wer eine Gesellschaft für alle will, dem kann es nicht um Teilhabe an Macht gehen, sondern der muss für ihre Abschaffung kämpfen.“ Denn wo es Macht gibt, kann es auch Machtmissbrauch geben – „und überall dort wird häufig geschlechtsbezogene Gewalt ausgeübt“. Was Clemm stattdessen will? „Ein marodes, gefährliches System ist ein schlechter Maßstab“, schreibt sie, „ein System, in dem alle in Freiheit leben können, ein guter.“ 

Wenn Clemm „alle“ schreibt, dann meint sie: alle. Gleich zu Anfang ihres Buchs macht sie klar, dass sie von Frauen und Männern nicht als binären Geschlechtskategorien schreibt. trans Frauen sind Frauen, und immer wieder nennt sie auch explizit nicht-binäre Personen. Eindrücklich beschreibt Clemm, dass zwar alle Frauen an allen Orten von Gewalt und Frauenhass betroffen sind, ob arm ob reich, ob jung ob alt, ob arbeitslos oder ganz oben auf der Karriereleiter. Dass aber manche Frauen Gewalt eben noch vielfach stärker ausgesetzt sind.

Etwa dann, wenn sie sich in Kriegs- und Krisensituationen befinden, in denen sexualisierte Gewalt systematisch als Waffe eingesetzt wird, um Macht auszuüben und zu erniedrigen. Die Gräueltaten der islamistischen Terrororganisation Hamas beim Angriff auf israelische Dörfer und Städte im Oktober haben diesen Abschnitt des Buchs gerade ungewollt aktuell gemacht.

Portrait Christina Clemm 2023

Christina Clemm, Berlin, ist Rechtsanwältin für Straf- und Familienrecht. Sie vertritt seit fast dreißig Jahren Opfer von geschlechtsspezifischer und rassistisch motivierter Gewalt. Sie war mehrfach Sachverständige in öffentlichen Anhörungen im Bundestag. Im Jahr 2020 veröffentlichte sie Akteneinsicht - Geschichten von Frauen und Gewalt.

Ihr Buch Gegen Frauenhass ist 2023 erschienen im Hanser-Literaturverlag.


Verschränkte Marginalisierung

Besonders wahrscheinlich erleben Menschen misogyne Gewalt auch immer dann, wenn sie noch weitere Formen der Marginalisierung erleben. Wenn sie vom binären Geschlechterbild abweichen, wenn sie rassifiziert werden, of Color sind oder arm, wenn sie eine Behinderung haben. Deutlich macht Clemm das etwa an der Forderung nach reproduktiver Gerechtigkeit, entwickelt von Schwarzen Feminist*innen aus den USA: Kinder zu bekommen, ist nicht für alle Menschen gleich einfach.

Während die einen in ihrem Kinderwunsch gestärkt werden, wird er anderen abgesprochen oder gar verwehrt. trans Personen mussten sich in Deutschland noch bis 2011 sterilisieren lassen um auch offiziell ihr richtiges Geschlecht eintragen zu lassen, Frauen mit Behinderung werden noch heute häufig zur Sterilisation gedrängt. Gleichzeitig wird jenen jungen Frauen, deren Mutterschaft gesellschaftlich erwünscht ist, der selbstbestimmte Wunsch nach Sterilisation oft abgesprochen. „Keine hat es treffender formuliert als Audre Lorde“, schreibt Clemm und zitiert die US-Schriftstellerin: „Ich bin nicht frei, solange eine einzige Frau unfrei ist, selbst wenn ihre Fesseln sich von meinen Unterscheiden.“ 

Clemm hat genug von Fragen wie: „Warum hat sie sich nicht gewehrt“, oder „Warum ist sie bei ihm geblieben?“ Immer wieder betont sie ihren Respekt für die Kraft, den Mut, die Resilienz derer, die Gewalt überlebt haben, und die oft doch nur als Opfer gesehen werden, die im Zweifel mindestens eine Mitschuld haben. Für Clemm zählen andere Fragen: „Warum hat er Gewalt ausgeübt“, und: „Warum hat ihn niemand gestoppt?“

Und natürlich hat Clemm Forderungen. Diese reichen von ausreichend Frauenhausplätzen und gut ausgestatteten und ausgebildeten Gerichten über viel mehr Täterarbeit bis hin zu echter Wiedergutmachung für Betroffene. Ihr Maßnahmenkatalog geht aber noch weiter. Er umfasst gelebte Solidarität mit Betroffenen, den Kampf gegen ökonomische Abhängigkeit genauso wie gegen das Abtreibeverbot in Paragraf 218 Strafgesetzbuch und endet mit Aufforderungen: „Seid Wütend! Stört, stört, stört! Bildet Banden! Feministische Männer – macht endlich mit!“

In diesem Sinne ist der passendste Absatz, um einen Text über Gegen Frauenhass zu beenden eigentlich jener, mit dem Christina Clemm das Buch beginnt: „Würden wir am Ende eines Jahres eine Schweigeminute für jede in Deutschland von ihrem (Ex-)Partner ermordete Frau halten, schwiegen wir über zwei Stunden. Gedächten wir aller Frauen, die einen Tötungsversuch überlebt haben, wären es sechs Stunden. Und würden wir für jede frauenverachtende Tat, jede erlittene Körperverletzung, Bedrohung, Beleidigung, Herabwürdigung, sexuelle Nötigung und Belästigung den Mund halten, könnten wir das Reden langfristig einstellen. Aber Schweigen hilft nicht.“