Die neue Studie “Arbeitsmarkt und Zuwanderung” der Bertelsmann Stiftung wurde breit und sachlich fundiert aufgenommen. Für die Migrationsforscherin Susanne U. Schultz ist das ein Zeichen, dass eine wirklichkeitsnahe Diskussion nicht nur möglich ist, sondern gewünscht wird.
Ines Kappert: Ihre neueste Studie “Arbeitsmarkt und Zuwanderung” zeigt, dass Deutschland 288.000 erwerbstätige Menschen aus dem Ausland pro Jahr braucht, um die Lücken auf dem eigenen Arbeitsmarkt zu schließen. Gleichzeitig geht eine Studie von 2023 davon, dass 400.000 erwerbswillige Menschen benötigt werden. Können Sie etwas Ordnung in diese Zahlenwelt bringen?
Susanne U. Schultz: Von heute aus berechnet, bräuchten die Betriebe 400.000 zusätzliche Arbeitskräfte pro Jahr. Die Autor*innen der neuesten Studie haben gesellschaftliche und zusätzlich wirtschaftliche Tendenzen und Entwicklungen berücksichtigt, wie Geburtenrate, Beteiligung von Frauen und Nicht-Deutschen am Arbeitsmarkt als auch insbesondere die Veränderungen betrieblichen Bedarfs an Arbeitskräften. Das überwiegend verwendete Szenario aus diesem Berechnungsmodell geht von einer zunehmenden Erwerbsbeteiligung der Menschen aus, die bereits in Deutschland sind. Unter dieser Voraussetzung bräuchten wir “nur” knapp 300.000 zusätzliche Erwerbstätige, um den Ist-Zustand zu halten. Insofern ist die neueste Studie etwas genauer als die von 2023.
Bei der Studie spielt Geschlecht keine Rolle. Warum?
Das stimmt so nicht. Sie spielt bei der Zahl von 288.000 keine Rolle. Aber die Berechnungsmodelle, die dieser Studie zugrunde liegen, differenzieren zwischen Männer und Frauen. Das ist zwar sehr binär, aber nicht geschlechtsblind. Die Geschlechterdifferenzierung findet also statt, und ist auch absolut notwendig. Anders können wir Diskriminierungen am Arbeitsmarkt sowie bei Zugängen zum Arbeitsmarkt nicht adressieren. Doch wir müssen alles daransetzen, mehr Menschen in Arbeit zu bringen.
Wie viele erwerbstätige Menschen kommen derzeit nach Deutschland?
Im letzten Jahr kamen etwa 70.000 Menschen auf dem sogenannten Erwerbstitel nach Deutschland, wobei davon etwa 20.000 auch wieder abwanderten.
Aus Unternehmenssicht ist es absolut relevant, dass Menschen, die nach Deutschland kommen, auch hierbleiben. Viel zu viele wandern wieder ab, weil unsere Willkommenskultur nicht ausreicht.
Die anderen Menschen kommen als Geflüchtete nach Deutschland?
Ja, das nennen wir Migration aus humanitären Gründen. Dann haben wir noch den wichtigen Bereich der Bildungsmigration, etwa Studierende, seit neuestem kommen auch mehr Menschen zur Ausbildung, aber das macht sich natürlich erst mittelfristig auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar. Natürlich gibt es auch Migration aus familiären Gründen, hier liegen ebenfalls große Potenziale für den Arbeitsmarkt.
Damit deckt die gesteuerte, politisch gewünschte Migration nicht im Ansatz den Bedarf. Trotzdem richtet sich die dominante politische Debatte gegen Migration. Wie ist mit dieser politischen Blockade umzugehen?
Wir sollten das, was bereits an positiver Arbeitsmarktintegration passiert, auch als solches zeigen. Das tun wir zu wenig. Sehr viel ist überhaupt nicht bekannt. Beginnend damit, dass unsere Gesellschaft nicht funktionieren würde, wenn wir nicht so viele Zugewanderte hätten, die bereits Teil des Arbeitsmarktes sind. Doch auch was die humanitäre Zuwanderung betrifft, gibt es viele positive Entwicklungen. Der Arbeitsmarktforscher Herrmann Brücker hat mit seinen Studien gezeigt, dass etwa die Menschen aus Syrien, die 2015/16 nach Deutschland gekommen sind, heute, also 8 Jahre später, zu 68 % qualifiziert auf dem deutschen Arbeitsmarkt tätig sind. Das ist enorm!
Stattdessen wird vor allem über die Belastungen gesprochen, die sich mit Geflüchteten aus der Ukraine verbinden.
Diese Belastungen gibt es ja auch. Doch wir sollten sie vor dem Hintergrund sehen, dass die Arbeitsmarktintegration sehr gut gelingen kann, wenn wir in Sprachkurse und Nachqualifikation investieren, Kinderbetreuung ermöglichen und endlich auch Arbeitsqualifikationen, die im Herkunftsland erworben wurden, besser anerkennen.
Friedrich Merz, der dem Unternehmerflügel der CDU angehört und um die Not der Unternehmen wissen müsste, hat unlängst Migration als Grund für die Überforderung der deutschen Sozialsysteme genannt. Welche Bedeutung messen Sie solchen Äußerungen zu?
Wir haben in das Sozialsystem in den letzten Jahren zu wenig investiert. Aufgrund der vielen Menschen, die z.B. aus der Ukraine zu uns kommen müssen, wird es nun verstärkt in Anspruch genommen, funktioniert jedoch nicht ausreichend. Hinzu kommt der Fach- und Arbeitskräftemangel: Alles ist also auf Anschlag. Wir müssten daher dringend an allen Stellen in unsere soziale, öffentliche und ökonomische Infrastruktur investieren.
Die Menschen, die 2015/16 aus Syrien zu uns kamen, sind heute zu 68 % qualifiziert auf dem Arbeitsmarkt tätig. Das ist enorm!
Stattdessen hält die Regierung an der Schuldenbremse fest.
Im Moment noch. Doch es gibt Anzeichen, dass eine Anpassung der aktuellen Regelung bald vorgenommen werden könnte. Trotzdem bleibt die Situation schwierig, da die Wirtschaft in der Krise ist. Doch wenn wir unsere Infrastruktur nicht sichern, verlieren wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und das betrifft uns alle. Daher müssen wir die soziale Frage viel weiter oben auf die Agenda setzen. Leider projizieren wir stattdessen die hausgemachten Probleme auf die Menschen, die von außen zu uns kommen, also auf die Migration.
Marcel Fratzscher vom DIW sagt, dass der negative Hype um Migration und geflüchtete Menschen dazu dient, von den zentralen Modernisierungsproblemen der deutschen Gesellschaft abzulenken.
Da ist viel dran. Daher müssen wir die Instrumentalisierung benennen und darauf drängen, das Thema Migration sachlich zu diskutieren, ohne die Herausforderungen, die dadurch entstehen zu verschweigen. Unsere Studie “Arbeitsmarkt und Zuwanderung” wurde medial sehr gut aufgenommen und qualitativ hochwertig diskutiert. Das zeigt, dass es einen Bedarf und auch einen medialen Raum für eine positive Debatte um Migration auf Grundlage von Fakten gibt. Hier dranzubleiben, ist unsere Aufgabe.
Was macht die Bertelsmann Stiftung, um die positive Debatte um Migration zu stärken?
Wir werden verstärkt den Zusammenhang zwischen Arbeitsmarktintegration, gesellschaftlichen Zusammenhalt und Demokratie aufzeigen. Wir möchten zudem die Orte, an denen Menschen bereits milieuübergreifend zusammenkommen, sichtbarer machen und mit wissenschaftlichen Studien flankieren.
„Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen” – diesen berühmten Satz hat der Schriftsteller Max Frisch 1965 formuliert. Was ist zu tun, damit Entscheider*innen in Deutschland das endlich ernst nehmen?
Wir dürfen nicht müde werden und müssen immer wieder darauf hinweisen, dass es aus Unternehmenssicht absolut relevant ist, dass Menschen, die nach Deutschland kommen, auch hierbleiben. Viel zu viele wandern wieder ab, weil es menschlich nicht stimmt, weil unsere Willkommenskultur nicht ausreichend ist. Hinzu kommt unser Aufenthaltsgesetz, das aus dem Gedanken der Abschottung geboren ist. Dieser schwingt auch beim neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz noch mit, auch wenn dieses mittlerweile sehr liberal ist. Vor allem aber geht es jetzt darum, die Umsetzung sicherzustellen. Außerdem müssen wir darauf drängen, dass wirklichkeitsnahe Geschichten erzählt werden und die Menschen, die zu uns kommen, auch selbst in den Medien zu Wort kommen. Mir scheint, wir haben kein realistisches und gemeinsames Verständnis mehr davon, wer und was Deutschland eigentlich ist. Das Land hat sich so verändert. Ich finde, das ist gut so. Vor allem aber ist es ein Fakt, den wir anerkennen müssen und besser an Entscheider*innen aus der Politik herantragen sollten.